C. Fröhlich u.a. (Hgg.): Geschichtspolitik

Cover
Titel
Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?


Herausgeber
Fröhlich, Claudia; Heinrich, Horst-Alfred
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
148 S.
Preis
30,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stelzel, History Department, University of North Carolina, Chapel Hill

In den 1990er-Jahren ließ Bundeskanzler Helmut Kohl einige regierungsnahe Politikwissenschaftler eine vierbändige Geschichte der Deutschen Einheit verfassen, um seine Verdienste wissenschaftlich zu dokumentieren.1 Nach Edgar Wolfrums Definition kann man diese Aktion in die Kategorie „Geschichtspolitik“ einordnen, da das Ziel Kohls die Konstruktion bzw. Festigung eines bestimmten Geschichtsbildes war.2 Der von Norbert Frei eingeführte Terminus „Vergangenheitspolitik“ bezeichnet dagegen justizielle, legislative und exekutive Entscheidungen im Umgang mit der Vergangenheit.3 In der Geschichtswissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren diese Trennung zwischen den Begriffen „Geschichtspolitik“ und „Vergangenheitspolitik“ eingebürgert.

Horst-Alfred Heinrich, Politikwissenschaftler an der Universität Stuttgart und Mitherausgeber der vorliegenden Publikation, zweifelt am Sinn einer solchen Unterscheidung und plädiert stattdessen für eine erweiterte Definition von „Geschichtspolitik“ als Oberbegriff. Ziel seines Beitrags wie auch der anderen Artikel des Sammelbandes, von denen die meisten im Rahmen des Arbeitskreises „Geschichte und Politik“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) entstanden sind, ist eine Schwerpunktverschiebung im Forschungsfokus, "verglichen mit den bisher vorgelegten, stark historiographisch geprägten Arbeiten" (S. 30). Im Mittelpunkt des Interesses soll nun die Rolle der Beteiligten im politischen Prozess stehen (ebd.).

Die einzelnen Beiträge widmen sich der Zeit nach 1945; eine Ausnahme stellt lediglich der Aufsatz Robert von Friedeburgs dar, der verschiedene Formen frühneuzeitlicher Geschichtspolitik am Beispiel der Konflikte zwischen den hessischen Landgrafen und ihren Ständen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schildert.

Abgesehen von Horst-Alfred Heinrichs Beitrag über „Geschichtspolitische Akteure im Umgang mit der Stasi“ und Mark Spoerers Skizze der Unternehmensgeschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte behandeln alle Autoren in der einen oder anderen Form den geschichtspolitischen Umgang mit Aspekten des Nationalsozialismus: Hanne Stinshoff analysiert die Schriften des französischen Germanisten Robert d’Harcourt über den deutschen Widerstand und zeigt, dass sich diese in ihrer Bewertung stark an der französischen Résistance orientierten – etwa insofern, als d’Harcourt die angebliche Verankerung des Widerstandes in allen Schichten der deutschen Gesellschaft betonte. Claudia Lenz schildert in ihrem Beitrag über die Erinnerung an NS-Besatzung und Widerstand in Norwegen, wie die anfängliche Marginalisierung des Widerstandes von Frauen mit dem Aufkommen der Frauenbewegung ein Ende fand. Lenz verweist auf den „Zusammenhang zwischen dem politischen Einsatz für die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Forderung nach der Einschreibung von Frauen in die Geschichte“ (S. 87).

Birgit Schwelling vertritt in ihrem Beitrag über Veteranenverbände in der frühen Bundesrepublik die plausible These, dass solche Verbände nicht nur als Interessenvertretungen, sondern auch als Identitätsgemeinschaften verstanden werden sollten. Erstaunlich ist allerdings die Tatsache, dass Schwelling nach einigen theoretischen Vorüberlegungen, einem historiografischen Überblick zum Thema und einer Skizze zur Geschichte der Veteranenverbände in der frühen Bundesrepublik ihre These lediglich mit einem einzigen Interview „empirisch unterfüttert“ (S. 76). Die Frage nach der Repräsentativität dieser Erzählung stellt sie jedoch nicht.

In empirischer Hinsicht überzeugender ist Karsten Stephans Studie über die beiden Ausstellungen „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ sowie „Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen das NS-Regime 1933–1945“, deren Rezeption er am Beispiel Frankfurt am Main untersucht. Dabei zeigt sich, dass „Personen diejenige Ausstellung für einen Besuch auswähl[t]en, deren Botschaft sich in das eigene Weltbild integrieren“ ließ (S. 131). Während Sympathisanten von Bündnis 90/Die Grünen zur wehrmachtskritischen Ausstellung „Vernichtungskrieg“ tendierten, besuchten Anhänger der CDU/CSU mehrheitlich die „Gegenausstellung“ über den „Aufstand des Gewissens“, die ein positiveres Bild der Wehrmacht vermittelte.

Michael Kohlstruck analysiert den Heß-Mythos im deutschen Rechtsextremismus als Beispiel einer fundamentaloppositionellen Geschichtspolitik. Hier zeigt sich, dass „der Adressatenkreis von Geschichtspolitik nicht die allgemeine Öffentlichkeit sein muss, in der um eine Interpretationshegemonie gekämpft wird“ (S. 108). Zwar bleibt der Heß-Mythos auf das rechtsextreme Spektrum beschränkt, doch dort manifestiert er sich in einer eindrucksvollen Vielfalt von Medien und Motiven.

Zweifellos beleuchten alle Beiträge des Sammelbandes interessante Aspekte von „Geschichtspolitik“. Aber nach Horst-Alfred Heinrichs ausführlichen methodischen Überlegungen hätte man sich doch etwas mehr gewünscht als eine Sammlung von Aufsätzen, bei denen nicht klar wird, inwieweit sie sich an Heinrichs erweiterter Definition von „Geschichtspolitik“ orientieren. Erstaunlich ist zudem die wiederholt auftauchende Behauptung, in den Studien von Wolfrum zur „Geschichtspolitik“ und von Frei zur „Vergangenheitspolitik“ würden die politischen Akteure vernachlässigt – gerade bei diesen beiden Historikern ist ein solcher Vorwurf kaum gerechtfertigt. Schließlich sei noch erwähnt, dass die Prosa einiger Autoren das Lesevergnügen stark beeinträchtigt (dass dies nicht so sein muss, zeigt der Beitrag von Mark Spoerer).

Die eigentliche Schwäche des Sammelbandes stellt jedoch die Kluft zwischen den theoretischen Ambitionen der Herausgeber und ihrer Umsetzung in die Praxis dar. Eine diesbezügliche gemeinsame Linie der Autoren ist nicht erkennbar. Alles in allem scheint mir deshalb die von Wolfrum vorgeschlagene Trennung zwischen „Geschichtspolitik“ und „Vergangenheitspolitik“ weiterhin die sinnvollere Alternative zu sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998; Korte, Karl-Rudolf, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998; Grosser, Dieter, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; Jäger, Wolfgang, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998.
2 Vgl. Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, S. 32.
3 Vgl. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension