H. Cancik u.a. (Hgg.): Völkische Religionen im 19. und 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion.


Herausgeber
Cancik, Hubert; Puschner, Uwe
Erschienen
München 2004: K.G. Saur
Anzahl Seiten
172 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Brosch, Hamburg

Jeweils im Oktober der Jahre 1996, 1997, 1999 veranstaltete das Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism und verschiedene Fachbereiche der Universität Tübingen je ein internationales Kolloquium unter dem Titel „Völkische Religionen, Paganismus, Antisemitismus“. Im internationalen Austausch wollten die beteiligten Wissenschaftler den spezifischen Faktoren auf den Grund gehen, die Antisemitismus hervorrufen und begleiten. 1 Zirka viereinhalb Jahre nachdem das letzte Kolloquium stattgefunden hat, ist nun endlich der langangekündigte und langerwartete Tagungsband zu der Veranstaltungsreihe erschienen.

Nachdem Itta Shedletzky aus dem Herausgeberkollegium ausgeschieden ist, ist der ursprünglich auf über 400 Seiten angelegte Band nach und nach um gut zwei Drittel geschrumpft, da offenbar auch ein Großteil der Beiträger abgesprungenen ist. Kein einziger israelischer Wissenschaftler ist mit einem Aufsatz vertreten, dies ist sehr zu bedauern. Die letzte Verlagsankündigung – hier wurde der Band noch unter dem Titel „Völkische Religionen im 19. und 20 Jahrhundert“ angeboten – belief sich auf immerhin noch ca. 250 Seiten. Der Umfang des dem Rezensenten vorliegenden von Uwe Puschner und Hubert Cancik herausgegeben Bands beträgt jetzt nur noch 172 Seiten und ist zum stolzen Preis von 72,- € zu erwerben. 2 Leider bleiben daher viele Referate zu Themen unveröffentlicht, welche bislang nur unzureichend oder gar nicht erforscht sind, so beispielsweise der auf dem letzten Kolloquium (1999) gehaltene Vortrag des Paderborner Religionswissenschaftlers Martin Leutzsch zum „Mythos vom arischen Jesus“. Warum man sich dazu entschieden hat einen Großteil der Aufsätze in Englisch zu veröffentlich, obwohl die meisten von ihnen offenbar in Deutsch referiert wurden – bei den Beiträgern handelt es sich ja nun auch ausnahmslos um deutschsprachige Autoren – bleibt dem Rezensenten ein Rätsel. Der Band ist in den großen Abschnitt „Anti-Semitism in Scientific, Theological, Historical, and Ideological Perspective“ und den kleineren: „Anti-Semitism and Paganism“ unterteilt.

Nach einer theoretischen Einleitung von Hubert Mohr eröffnen die Eheleute Cancik den ersten Abschnitt des Bandes und referieren zum Judenbild bei Tacitus und vor allem zu dessen Rezeption durch Nietzsche, der hieraus – so ihre These – seine judenfeindliche Haltung generierte, die ihn deutlich vom weit verbreiteten Radauantisemitismus seiner Zeit abhob. Die Canciks weisen in ihrem Beitrag darauf hin, dass das vorchristliche Judenbild dem „Modernen Antisemitismus“ zwei wesentliche Argumente liefern konnte, nämlich die Juden als Feinde der Kultur und des Staates. Andrea Hoffmann und Martin Ulmer widmen das Augenmerk in ihren Lokalstudien dem Stereotyp des jüdischen Modernisierers. Ulmer richtete dabei sein Blick auf die antisemitisch-völkische Großstadtfeindlichkeit. Hoffmann untersuchte die antisemitische Agitation und die Ausgrenzungsmechanismen mittels des vormodernen Begriffs des Schacherers. Gesine Palmer widmet sich Paul de Lagarde und dessen Vorstellung von einer nationalen Religion und der Rolle die Lagarde den Juden im Christentum sowie im Staat zuwies. Palmer berücksichtigt bei ihrer Untersuchung nicht nur Lagardes Schriften, sondern besonders auch seine Rolle als Gutachter im Marburger Prozess gegen den antisemitischen Volksschullehrer Ferdinand Fenner. Sie versäumt auch nicht in ihrer Darstellung den bedeutenden Einfluss Lagardes auf die zeitgenössischen Intellektuellen unterschiedlichster politischer Couleur zu erwähnen.

Die zwei Autoren, welche sich durch ihre Forschungen zur Völkischen Bewegung besonders verdient gemacht haben, lieferten leider nur altbekanntes ab. Uwe Puschner mehr oder weniger eine Zusammenfassung seiner überragenden Studien zur völkischen Bewegung 3, hier mit dem Hauptfokus auf den Antisemitismus der Völkischen. Justus H. Ulbricht einen überarbeiteten Aufsatz zum völkischen Verlagswesen, der schon vor Jahren in der Buchhandelsgeschichte veröffentlicht wurde.

Renate Best widmet sich in ihrem Aufsatz der lange übersehenen bzw. vernachlässigten Korrelation von Antisemitismus und Nationalismus, auf die erstmals nachhaltig von Shulamit Volkov hingewiesen wurde.4 Georgia Hauber liefert einen Bericht über ein größeres Forschungsprojekt ab, in welchem die geheimen NS-Lage- und Stimmungsberichte auf die Einstellungen der allgemeinen Bevölkerung und Gewalt durch dieselbe gegenüber den deutschen Juden untersucht werden. Vorläufiges Ergebnis ist, dass schon in den frühen Jahren des Regimes also bis 1939 antisemitische Gewalt zum Alltag des NS-Staates gehörte. Richard Faber stellt in seiner spannenden Studie „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“ die These auf, die so genannte „Konservative Revolution“ sei entgegen Armin Mohlers Behauptung nicht „prussozentrisch“ 5, sondern „romanophil“ bzw. „romanozentrisch“ gewesen. Faber versucht dies anhand einiger Exponenten der „Konservativen Revolution“ zu belegen. Doch auch wenn ihm der Nachweis bei den von ihm ausgewählten Protagonisten gelingen mag, so ist der empirische Befund doch nicht breit genug, um ihn verallgemeinern zu können. Grade in anbetracht der Tatsache, dass es bei dem politischen Gebilde „Konservative Revolution“ bisher niemanden überzeugend gelungen ist gemeinsame Faktoren zu benennen, welche eine „konservativen Revolutionär“ kennzeichnen bzw. dieses Phänomen näher bestimmen - im Gegenteil, es handelt sich um eine recht inhomogene Erscheinung, die eigentlich nur ex post konstruiert wurde - erscheint es umso zweifelhafter, dass es mit Fabers These gelingen wird dieses Phänomen näher zu bestimmen oder einzugrenzen und Mohlers ausufernden Konservatismusbegriff entgegenzutreten. Im Übrigen sind beispielsweise die Völkischen ebenfalls ein Bestandteil der Mohlerschen Schöpfung und diese kann man, sofern man unbedingt mit Mohlers theoretischen Ansatz operieren möchte, keinesfalls als „romanophil“ gelten lassen.

Der zweite Teil des Buches, welcher drei Aufsätze umfasst, wird mit einem Beitrag von Ulrich Nanko über die Deutschgläubigen nach 1945 eröffnet. Die Deutschgläubigen sind seit über einem Jahrzehnt Nankos hauptsächlicher Forschungsgegenstand, allerdings beschränkten sich seine bisherigen Untersuchungen vorwiegend auf den Zeitraum vor 1945 6, so dass seine Abhandlung, in welcher er einen kurzen Überblick über die Entwicklung der verschiedenen Gruppierungen bis in die 1970er-Jahre abliefert, eine treffliche Ergänzung zu seinen bisherigen Elaboraten darstellt. Stefanie von Schnurbein bietet in ihrem Aufsatz über Neuheidnische Religiosität nach 1945 letztlich leider nur einen Überblick über ihre bisherigen Arbeitsergebnisse, seit Beginn ihrer Forschungen zu diesem Thema, die sie weitgehend schon an anderen Orten publiziert hat. 7 Horst Junginger erstellte eine durchaus lesenswerte Kurzbiografie über die völkische neo-pagane Aktivistin und Anhängerin von Ludwig Ferdinand Clauss‘ Rassenseelenkunde sowie Mitglied der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft Sigrid Hunke, in welcher sie eine Schlüsselposition innehatte und aus welcher der von ihr gegründete „Bund Deutscher Unitarier. Religionsgemeinschaft europäischen Geistes“ hervorging. Der Einfluss von Hunkes – im Übrigen die Mutter des bekannten Historikers Hagen Schulze - Publikationstätigkeit beschränkte sich nicht ausschließlich auf die Neue Rechte in Deutschland, neben Julius Evola, dem Herausgeber der italienischen Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“, zählt Junginger sie zu den einflussreichsten Figuren in der neuheidnischen Szene Europas.

Leider wird dem Spezialisten und an diesen richtet sich der Band angesichts des Preises offenbar ausschließlich, in einigen der Aufsätze nichts wirklich Neues geboten, viele Beiträge haben eher einen einführenden oder kumulativen Charakter, als das in ihnen neue Forschungserkenntnisse vorgestellt würden. Einer erschwinglicheren durchgehend deutschsprachigen Ausgabe bei einem Verlag mit größerer Verbreitung im Buchhandel würde gewiss ein größerer Erfolg beschieden werden.

Anmerkungen:
1 Die jeweiligen Tagungsprogramme sind unter folgendem Link zu finden: http://sicsa.huji.ac.il/conf.html.
2 Der Rezensent hat den Eindruck, dass der Verlag K.G. Saur offenbar keine Bücher mehr verkaufen möchte, dies lässt ihn zumindest die jüngste Preispolitik des Verlags vermuten. Angemerkt sei, dass die Gerda Henkel Stiftung das Projekt auch noch durch einen Druckkostenzuschuss gefördert hat, dies macht diesen Preis noch unerklärlicher.
3 vgl. insbesondere Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001.
4 Volkov, Shulamit, Nationalismus, Antisemitismus und die deutsche Geschichtsschreibung , in: Hettling, Manfred; Nolte, Paul, Nation und Gesellschaft. Historische Essays, München 1996, S. 208-219. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Soziologe Klaus Holz sich diesem Desiderat mit seiner herausragenden Studie „Nationaler Antisemitismus“ (Hamburg 2001) ausführlich gewidmet hat.
5 Mohler, Armin, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Hauptbd. u. Erg.-Bd. (mit Korrigenda), Graz 1999.
6 Neben etlichen verstreuten Aufsätzen von Nanko sei hier vor allem auf seine Dissertation hingewiesen: Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993.
7 Z.B.: Schnurbein, Stefanie von, Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert, Heidelberg 1992; oder: Dies., Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus, München 1993.

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