B. Rieger: Roma und Sinti in Österreich

Titel
Roma und Sinti in Österreich nach 1945. Die Ausgrenzung einer Minderheit als gesellschaftlicher Prozeß


Autor(en)
Rieger, Barbara
Reihe
Sinti- und Romastudien 29
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 45,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Erst 1993 wurden die Roma und Sinti 1 als sechste Volksgruppe Österreichs anerkannt. Den Antrag hatten mehrere Roma-Vereine, die sich Ende der 1980er-Jahre zu organisieren begannen, eingebracht. Damit hinkte die Bürgerrechtsbewegung der internationalen Entwicklung um einige Jahre hinterher. Worauf ist diese Tatsache zurückzuführen? Barbara Rieger sucht die Antwort auf diese Frage in einem gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozess, dem die Roma und Sinti auch in der Zweiten Republik ausgesetzt waren. Als Untersuchungsebene dienen ihr dabei vornehmlich staatliche und wirtschaftliche Institutionen, was sich in der Wahl der historischen Quellen widerspiegelt. Neben Gesetzestexten und Sitzungsprotokollen der Bundes- und Landesregierungen wurden u.a. die Akten von Polizei, Opferfürsorgereferaten und Gewerbebehörden herangezogen. Die Perspektive der betroffenen Roma und Sinti wurde aus methodischen Gründen nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Nach Riegers eigenen Angaben handelt es sich bei ihrer Arbeit um die „aktualisierte und berichtigte Fassung“ ihrer gleichnamigen Dissertation von 1997 (S. 5). Die Aktualisierung muss jedoch als halbherzig bezeichnet werden, denn sie beschränkt sich in erster Linie auf eine erweiterte Einleitung, in welcher der jeweilige Forschungsstand in Deutschland und Österreich getrennt wiedergegeben wird. Hierbei überrascht, dass Rieger der historiografischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus erheblich mehr Platz einräumt als der Nachkriegsgeschichte. 2 Überdies gerät die vergleichende Perspektive, die durch den Forschungsstand angenommen wird, im weiteren Verlauf der Untersuchung (mit Ausnahme der Entschädigungsfrage) in Vergessenheit.

Souveräner wirkt das Kapitel über die „Geschichtliche Entwicklung vor 1945“. Rieger versteht es, auf begrenztem Raum die Kontinuitäten und Differenzen zwischen der Zeit vor und nach 1938 aufzuzeigen. Waren die österreichischen Lokalbehörden seit dem 19. Jahrhundert v.a. darum bemüht, „Zigeuner“ aus ihren Bezirken durch Abschiebung fern zu halten, so wurde 1929 in der Generaldirektion für Öffentliche Sicherheit im Kanzleramt erstmals ein einheitliches Zigeunergesetz angedacht, dessen Entwurf ab Mitte der 1930er-Jahre zunehmend rassistische Züge annahm (S. 36ff.). Es bedurfte jedoch des „Anschlusses“, um die bestehenden moralischen und juristischen Hemmschwellen niederzureißen. Kennzeichnend für die Verfolgung der Roma und Sinti in der „Ostmark“ (wie übrigens auch im so genannten „Altreich“) seien jedenfalls die Eigeninitiativen lokaler Behörden, die mit eigenmächtigen Zwangsmassnahmen die NS-Verordnungen vorwegnahmen und zusätzlich vorantrieben. Das gilt auch für die Errichtung der „Zigeunerlager“ Lackenbach und Salzburg-Maxglan (S. 42f.).

Der Rückkehr überlebender Roma wurde von den meisten Gemeinden ablehnend begegnet. Sicherheits- und Verwaltungsbehörden griffen erneut auf alte Mittel wie polizeiliche Registrierung und Abschiebung zurück, wobei sie sich auf vornationalsozialistische „Zigeunerverordnungen“ berufen konnten. Geradezu aussichtslos wurde die Situation der wenigen „Fahrenden“, deren Lebensgrundlage praktisch zerstört war. Und selbst Institutionen wie die Gewerbekammer, die dem Papier nach ihre Sache mitvertreten sollten, waren eher um die Verdrängung der Roma und Sinti aus Handel und Gewerbe bemüht. Rieger interpretiert dieses Phänomen als Mischung aus Rassismus und wirtschaftlichem Konkurrenzdenken der sesshaften Bevölkerung (S. 133). Auch bei der Wohnungs- und Arbeitssuche wurden heimkehrende Roma und Sinti systematisch diskriminiert, was Rieger an einschlägigen Beispielen demonstrieren kann. Doch wie hat sich ihre Situation im Laufe der folgenden Jahrzehnte entwickelt? Die Antwort auf diese Frage bleibt Rieger, von ein paar Andeutungen abgesehen, schuldig. Das Gros ihrer Quellen zur Wohnungs- und Arbeitssituation der Roma und Sinti stammt nämlich aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und reicht bis Ende der 1950er-Jahre. Für Aussagen über die anschließende Entwicklung fehlt es an Substanz. Der (zu) hohe Anspruch der Arbeit, die Entwicklungslinien des gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesses nachzuzeichnen, kann an dieser Stelle nicht eingelöst werden.

Das inhaltlich und argumentativ stärkste Kapitel setzt sich mit der (lange verweigerten) Entschädigung der NS-Opfer auseinander. Im Gegensatz zur bundesdeutschen „Wiedergutmachung“ betone die österreichische Bezeichnung „Opferfürsorge“, so Rieger, dass den NS-Opfern „mit finanziellen Entgeltungen kein ihnen zustehendes Recht, sondern eine Gnade erwiesen wurde: Sie wurden in die Rolle von Bittstellern gedrängt“ (S. 149). Unter dem entwürdigenden „bürokratischen Hürdenlauf“ (S. 170) des Fürsorgeprüfungsverfahrens hatten alle Antragsteller zu leiden, doch waren Roma und Sinti in mehrfacher Hinsicht benachteiligt: Häufig wurde ehemals „fahrenden“ Roma und Sinti, die wegen fehlender Wohnmeldenachweise als „staatenlos“ geführt wurden oder als vorbestraft galten, der Fürsorgeanspruch abgesprochen. Zwangssterilisationen wurden hingegen „nicht als Verfolgungsmaßnahmen aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung gewertet“ (S. 196). Die Recherche Riegers ergab nur einen einzigen Fall, in welchem ein Sterilisationsopfer eine Opferrente erhielt. Und schließlich scheiterten viele Anträge daran, dass KZ-Einweisungen vermeintlicher „Asozialer“ auch nach 1945 als kriminalpräventive Maßnahme für rechtens erklärt wurden und eine Opferfürsorge generell ausschlossen. Doch selbst der eindeutige Nachweis einer „unrechtmäßigen“ Lagerhaft bedeutete noch keine automatische Opferfürsorge. So wurde zum Beispiel das „Zigeunerlager“ Lackenbach bis 1988 nicht als Konzentrationslager anerkannt, was sich negativ auf etwaige Entschädigungszahlungen auswirkte. Mit zwei besonders zynischen Untersuchungsberichten des Innenministeriums, in welchen die Lagereinweisung für die Betroffenen als „sozialer Aufstieg“ und die Lebensverhältnisse als „paradiesisch“ bezeichnet wurden, charakterisiert Rieger den unvermindert antiziganistischen Grundton der 1950er-Jahre (S. 167).

Der lange Weg zur Volksgruppenanerkennung im Jahre 1993 wird in einem gesonderten Kapitel nachgezeichnet. Hier offenbart sich allerdings die inhaltliche Gewichtung als Schwachpunkt. Die historische Entwicklung des österreichischen Volksgruppenrechts wird viel zu detailliert am Beispiel der Slowenen und Kroaten nachgezeichnet, wobei hinlänglich bekannte Sachverhalte referiert werden. Der Fragestellung Riegers hätte es mehr entsprochen, auf die außenpolitischen Motive zur Anerkennung der Roma und Sinti einzugehen, doch begnügt sie sich ausgerechnet hier mit einem bloßen Verweis auf eine unveröffentlichte Diplomarbeit (S. 236). 3 Was den innenpolitischen Diskurs um die Anerkennung der Roma und Sinti angeht, so entlarvt Rieger die Argumente der politischen Gegner überzeugend als antiziganistische Vorurteile: Dem überlebten soziologischen Verständnis vom „Zigeuner als Nomaden“ ohne territoriale Bindung stellt sie die Realität einer ethnischen Minderheit mit eigener Sprache und Kultur gegenüber; außerdem verwechsle der Vorwurf „fehlender innerer Organisation“ Ursache und Wirkung, denn die autonome Sozialordnung der österreichischen Roma sei gerade durch den nationalsozialistischen Völkermord zerstört worden (S. 231ff.). Insofern könne der neue Status als „Volksgruppe der Roma“ zur Rettung der Kultur beitragen, garantiere er doch neben politischer Repräsentation auch die Gewährung staatlicher Mittel für kultur- und sprachfördernde Maßnahmen. Die Trendwende erreiche aber nach wie vor nur einen Bruchteil der Roma-Bevölkerung, während auf lokaler und zwischenmenschlicher Ebene kaum Besserung zu erkennen sei. Folglich lautet das traurige Fazit Riegers, dass trotz der positiven Ansätze auf höchster staatlicher Ebene Roma und Sinti „auch heute noch in Österreich in fast allen Lebensbereichen benachteiligt“ sind (S. 256).

Barbara Rieger hat mit „Roma und Sinti in Österreich nach 1945. Die Ausgrenzung einer Minderheit als gesellschaftlicher Prozess“ einen äußerst ehrgeizigen Titel gewählt. Der darin implizierte Anspruch auf ein Gesamtbild lässt sich jedoch sehr schwer verwirklichen. Immerhin ermöglichen es Rieger aussagekräftige Quellen, die Mechanismen der Ausgrenzung auf ihre ursprüngliche Motivation (rassistische Vorurteile, irreale Ängste, wirtschaftliches Konkurrenzdenken und Kostenersparnis) zu hinterfragen. Einige ihrer analytischen Ansätze sind durchaus anregend, lassen aber nur für einen gewissen Zeitabschnitt verbindliche Schlussfolgerungen zu. Darüber hinaus werden die einzelnen Stränge nicht zu einem zusammenhängenden Ganzen verbunden, so dass die Arbeit in weitesten Teilen Stückwerk bleibt. Vielleicht hätte Rieger diesen Mangel mit einem ausführlichen Schlussteil noch etwas glätten sollen, anstatt sich mit einem zweiseitigen „Schlusswort“ zu begnügen. Das Problem liegt allerdings tiefer und betrifft die methodische Herangehensweise. Riegers Arbeit leidet an ihrem zu breiten zeitlichen Rahmen. Historische Entwicklungslinien lassen sich nur oberflächlich wiedergeben, wenn die Quellenbasis quantitativ wie qualitativ zu unausgewogen ist. Dies betrifft im vorliegenden Fall insbesondere die Analyse der Wohn- und Arbeitssituation der Roma und Sinti.

Eine zeitliche Einschränkung – etwa auf die ersten zwei Jahrzehnte der Nachkriegszeit – hätte dem Gehalt der Analyse sicherlich gut getan. Dann könnte auch der konsequente Vergleich zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland großen Nutzen bringen, um die Besonderheiten der jeweiligen Länder herauszuarbeiten. Alternativ verspräche auch die Reduktion auf einen thematischen Teilaspekt (z.B. die Wohnsituation) eine verbindlichere Aussagekraft. Es bedarf wohl zunächst noch weiterer spezieller Monografien zum Thema, ehe eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Roma und Sinti in Österreich nach 1945 sinnvoll erscheint.

Anmerkungen:
1 Im Gegensatz zu der in Deutschland gängigen Bezeichnung Sinti und Roma hat sich im österreichischen Sprachgebrauch das umgekehrte Pendant durchgesetzt. In den offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung ist indes von der „Volksgruppe der Roma“ die Rede, um darunter verschiedene ethnische Gruppen (Lovara, Sinti u.a.) zu subsumieren.
2 Zur deutschen Nachkriegsgeschichte nennt Rieger lediglich Margalit, Gilad, Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz, Berlin 2001.
3 Karoly, Mirjam, Roma in Österreich. Zur Genese einer Minderheit, Diplomarbeit, Wien 1998.

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