T. Kuhn: Religion und neuzeitliche Gesellschaft

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Titel
Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung


Autor(en)
Kuhn, Thomas K.
Reihe
Beiträge zur historischen Theologie 122
Erschienen
Tübingen 2003: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 94,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gury Schneider-Ludorff, Institut für Kirchengeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wie lässt sich das vielschichtige Phänomen der Religion in der Neuzeit differenziert beschreiben und wie lassen sich die komplexen religiösen Entwicklungen genauer konturieren? Die Baseler theologische Habilitationsschrift geht dieser Fragestellung nach, indem sie religiöse Ausdrucksformen des 17. bis 19. Jahrhunderts, wie sie im Pietismus, der Aufklärung und den Erweckungsbewegungen manifest geworden sind, auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten hin überprüft. Sie greift damit eine in der historischen Forschung kontrovers diskutierte Fragestellung um die Rolle von Religion und ihrem Beitrag zum Prozess der Modernisierung in der Neuzeit auf. Dabei knüpft Thomas Kuhn an die in der Kirchengeschichte bislang nur zögerlich rezipierte Debatte über Säkularisierung, Dechristiansierung und Rechristiansierung an, Begriffe, die sich zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Phänomene als fruchtbar erweisen und in jüngerer Zeit vor allem durch Hartmut Lehmann eingebracht worden sind.

In drei Studien geht Kuhn dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft nach. Er tut dies exemplarisch, wobei der Fokus seiner Fragestellung auf dem sozialen Engagement im neuzeitlichen deutschsprachigen Protestantismus liegt, da – so lautet dann auch eine zentrale These –, „diese religiös motivierten sozialen und karitativen Initiativen integrale Voraussetzungen respektive Ausdrucksformen eines Modernisierungsprozesses sind“ (S. 2).

Innovativ und fruchtbar erweist sich bei den Untersuchungen der Blick über den Tellerrand kirchenhistorischer und theologiegeschichtlicher Fragestellungen, indem Kuhn neben diesen auch interdisziplinäre Forschungsergebnisse der allgemeinen Historiografie, der Germanistik, der Volkskunde und Religionssoziologie rezipiert und sozialgeschichtliche wie diskursanalytische Aspekte integriert. Damit kommt Religion in ihren unterschiedlichen Aspekten als ein kulturelles Phänomen in den Blick, das ein durch die gesellschaftlichen Prozesse der Neuzeit sich veränderndes und wiederum auf die Gesellschaftsprozesse wirkendes zu beschreiben ist und im Prozess der Modernisierung wesentliche Impulse lieferte.

Instruktiv wirkt sich der interdisziplinäre Ansatz auch auf die Quellenauswahl aus, die sowohl gedrucktes als auch handschriftliches Material umfasst und eine große Fülle an unterschiedlichen Textgattungen berücksichtigt, die im Blick auf die Äußerungen neuzeitlicher Religiosität erstmals in ihrem Nebeneinander und Miteinander konsequent ausgewertet werden. So liegen der Arbeit programmatische und konzeptionellen Schriften zugrunde, Predigten, Auslegungen, Zeitschriften- und Erbauungsliteratur, Gebets- und Gesangbücher, Vereins-Protokolle und Briefwechsel, sowie die Literatur der pastoralen Volksaufklärung.

Die erste Studie (S. 9-77) nimmt unter dem Titel „Karitative Religion. Gepredigte und verordnete Armenfürsorge bei August Hermann Francke“ die Ansätze des Pietisten und Hallenser Theologen August Hermann Francke (1663-1727) in den Blick. Sein innovatives sozialkaritatives Engagements in Halle, das in der Geschichte der Fürsorge von herausragender Bedeutung ist, kann als eine Verschränkung von verordneter obrigkeitlicher Sozialpolitik mit pietistischer Frömmigkeit beschrieben werden. Es betonte den untrennbaren Zusammenhang von Glaube und Praxis, wirkte damit normierend und disziplinierend und stellt mit seinem heilsgeschichtlich ausgerichteten Werk den Beginn des „modernen mulitfunktionalen diakonischen Handelns“(S. 340) dar.

Die zweite Studie (S. 79-223) wendet sich unter dem Thema „Praktische Religion. Der vernünftige Pfarrer als Volksaufklärer“ der seit einigen Jahren verstärkt ins Interesse gerückten Frage nach der Umsetzung der Aufklärung auf der Ebene der breiten Bevölkerung zu. Hierbei zeigt die Untersuchung, die in diesem Zusammenhang mehrere Autoren vorstellt, dass sich verstärkt Pfarrer im Sinne der Volksaufklärung engagierten. Dies geschah mit einem bewusst antirevolutionären Impetus und unter Hinweis auf den als ersten Aufklärer und Volkslehrer verstandenen Jesus von Nazareth, mit dem auch die Hinwendung zu den unteren Ständen legitimiert wurde. Die als säkularisierte Reich-Gottes-Erwartung interpretierte Eschatologie förderte die Bereitschaft, sich auf innerweltliche Herausforderungen einzulassen und führte auf der Ebene der Landpfarrer zu einem volksaufklärerischen Engagement, das die zunehmend infrage gestellte Autorität des Berufsbildes kompensieren sollte. Dieses volksaufklärerische Handeln der Pfarrer, das Kuhn im weiteren Sinne als diakonisches Handeln beschreibt, zeigt, dass die in der Forschung verbreitete Auffassung, im 18. Jahrhundert sei das diakonische Engagement zurückgegangen, zumindest angefragt werden muss.

Die dritte Studie schließlich (S. 225-346) wendet sich unter der Überschrift „Pädagogische Religion. Konzeptionalisierung und Institutionalisierung erweckter Erziehung bei Christian Heinrich Zeller“ der religiösen Kinder- und Jugenderziehung zu, einem für die Erweckungsbewegung vordringlichen Anliegen. Im Mittelpunkt stehen der Basler Armenschullehrerverein und sein konzeptioneller Vordenker Christian Heinrich Zeller (1779-1860), dessen Ideen weite Verbreitung in der Schweiz, Württemberg und Preußen fanden. Zeller, der seine Armenerziehung als Initiative der Inneren Mission verstand (S. 334), intendierte mit seinem institutionellen und theoretischen Wirken die Durchsetzung einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Erziehungslehre und einer Professionalisierung der Volksschullehrer. Er bildete gut 250 Armenschullehrer aus und nahm über 400 Kinder in seiner Einrichtung auf. In seinem pädagogischen Konzept lassen sich neben den Differenzen zu aufklärerischen pädagogischen Entwürfen auch Parallelen erkennen. So ist auch er der Ansicht, dass sich Pädagogik auf die Trias von Vernunft, Erfahrung und Religion zu beziehen und die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen habe. Andererseits geht es Zeller dabei nicht um das Gewinnen eigener Urteilsfähigkeit oder das Erlangen von Glückseligkeit. Von Optimismus und Naherwartung geprägt, hoffte Zeller noch auf das Kommen des Gottesreiches zu Lebzeiten.

Es zeigt sich, dass sowohl bei Francke als auch in der Volksaufklärung und in den beschriebenen erweckten Kreisen Religiosität und Frömmigkeit in sozialer, diakonischer und pädagogischer Perspektive konzipiert wurde, während dogmatische wie theologische Anliegen zurücktraten und Religion vorwiegend in ihrer individuellen, sozialen und religiösen Nützlichkeit formuliert wurde (S. 341). Jedoch nahm protestantische Religion in dieser Zeit neben gesellschaftlich strukturierenden, normierenden und disziplinierenden auch weiterhin transzendierende und geschichtshermeneutische Aufgaben wahr. Insgesamt, so macht Kuhn in seinen drei Studien deutlich, wirkte die christliche Religion modernisierend. Das gilt auch für die Erweckungsbewegung, da hier Methoden und Konzepte der Aufklärung rezipiert wurden.

Allerdings – und auch das macht die Untersuchung Kuhns deutlich – erfolgte eine entscheidende Veränderung in der Neuzeit dahingehend, dass nicht die Kirche, sondern die Religion in der unmittelbaren Vermittlung durch die Pfarrer und Pädagogen als disziplinfordernde Instanz anerkannt wurde. Zudem verlor Religion ihre allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit. Dies sei weniger intellektuellen oder kognitiven Defizite geschuldet, sondern der Unfähigkeit, eine gesamtgesellschaftliche Integration zu leisten. Andererseits zeigt Kuhn, dass sie trotz des Verlustes ihres zentralen sozialen und kulturellen Stellenwerts durch Pluralisierung und Ausdifferenzierung die Möglichkeit gewann „multifunktional segmentäre religiöse Bedürfnisse in ausdifferenzierten modernen Gesellschaften zu befriedigen“, bei dem sich das soziale und diakonische Handeln als wesentliche religiöse Funktion erwies (S. 346).

Die drei Studien liefern mit ihrer Fokussierung von theologisch reflektierten und sozialdiakonisch Gestalt gewordenen Anworten auf die gesellschaftlichen Krisendiagnosen in der Neuzeit einen gelungenen Beitrag zur Erforschung der Ausdifferenzierung religiöser Ausdrucksformen, die auf eine funktionale Differenzierung der neuzeitlichen Gesellschaft zurückzuführen sind. Darüber hinaus bieten sie wichtige Erkenntnisse für die Diakoniegeschichte, deren Erforschung bislang weitestgehend mit dem 19. Jahrhundert einsetzte. Die hier versammelten Studien öffnen den Blick auf die historische Voraussetzungen und Entwicklungen der diakonischen Theorie und beleuchten facettenreich ihre gesellschaftlichen Bezüge wie ihre theologischen Konsequenzen.