Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess

Trachtenberg, Marc (Hrsg.): Between Empire and Alliance. America and Europe During the Cold War. Lanham 2003 : Rowman & Littlefield, ISBN 0-742-521-761 256 S. $ 65.00

: The United States and Europe Since 1945. From "Empire by Invitation" to Transatlantic Drift. Oxford 2003 : Oxford University Press, ISBN 0-19-926668-9 331 S. $45.00

: Kennedy in Berlin. Politik, Kultur und Emotionen im Kalten Krieg. Paderborn 2003 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-71991-2 271 S. € 24,90

: Sicherheit durch Integration?. Die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas 1947 bis 1957. München 2003 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56759-4 580 S. € 44,80

: Geburtshelfer Europas?. Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945-1958. Baden-Baden 2000 : Nomos Verlag, ISBN 3-7890-6384-3 388 S. € 56,00

: Grand Designs and Visions of Unity. The Atlantic Powers and the Reorganization of Western Europe, 1958-1963. Chapel Hill 2002 : University of North Carolina Press, ISBN 0-807-82679-0 327p. $ 49.95

: Jeder für sich und Amerika gegen alle?. Die Lastenteilung der NATO am Beispiel des Temporary Council Committee 1949 bis 1954. München 2003 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56758-6 415 S. € 39,80

: Lyndon Johnson and Europe. In the Shadow of Vietnam. Cambridge 2003 : Harvard University Press, ISBN 0-674-01074-4 339 S. $29.95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Klaus Patel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Einladung zur Hegemonie?

Zur Rolle der USA im europäischen Einigungsprozessund den transatlantischen Beziehungen seit 1945

Die transatlantischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahre haben die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Europa der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika wieder einmal in den Horizont einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Ob die EU sich als Gegengewicht, als Konkurrent gar, zu der einzig verbliebenen Supermacht verstehen solle, ob ein partnerschaftliches Verhältnis auf gleicher Augenhöhe sinnvoll und vor allem möglich sei, oder ob Europa gut daran tue, als Teil eines amerikanischen „Empire“ den großen Zukunftsaufgaben des 21. Jahrhunderts entgegenzugehen, wird kontrovers diskutiert.

In der öffentlichen Debatte werden zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Positionen häufig historische Argumente eingesetzt – sei es, indem auf die fundamentale Differenz der Erfahrungshaushalte zwischen Alter und Neuer Welt verwiesen wird, sei es, um die Tendenz zu einer immer eigenständigeren und integrierteren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik zu belegen, oder aber um auf die dauerhafte, primär sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA zu verweisen. Auch in der Geschichtswissenschaft gibt es sehr unterschiedliche Interpretationen der amerikanischen Rolle im europäischen Integrationsprozess. Das zeigt sich etwa an der Historiografie zum Marshall-Plan, jenem amerikanischen Hilfsprogramm zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg: Während die einen den USA hegemoniale Interessen und ökonomischen Eigennutz unterstellen, sprechen andere den Dollarhilfen eine zentrale Bedeutung für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Kontinents nach Kriegsende zu. Teile der Forschung kritisieren die USA dafür, sich nicht entschieden genug für ein föderales Europa eingesetzt zu haben; andere sehen in dieser US-Initiative dagegen den Ausgangspunkt des Einigungsprozesses.

Offensichtlich ist das Problem des Einflusses der USA auf die europäische Integration im Rahmen der transatlantischen Beziehungen komplex genug, um extrem widersprüchliche Deutungen hervorzurufen. Das erklärt sich nicht nur aus außerwissenschaftlichen, durch Weltbilder geprägte Vorannahmen, sondern auch aus den besonderen konzeptionellen und methodischen Herausforderungen dieses Themas. Mehr noch als auf anderen Gebieten der Internationalen Geschichte muss eine Vielzahl von Akteuren, Ebenen und Dimensionen beachtet werden: die USA, die europäischen Nationalstaaten, die entstehenden supranationalen und intergouvernementalen Institutionen Europas, transatlantische multinationale Organisationen – etwa die NATO – ebenso wie zivilgesellschaftliche und externe Akteure wie die Sowjetunion; Ereignisse und Prozesse, Strukturen und Erfahrungen auf nationaler Ebene, innerhalb des Mehrebenensystems, das sich im Zuge der europäischen Einigung herausbildete, sowie auf transatlantischer Ebene; schließlich die „große“ Politik, aber auch kulturelle, soziale und ökonomische Verflechtungen transnationaler Art.

Hans-Peter Schwarz hat einmal die These vertreten, dass „bei dem Studium der internationalen Institutionen und der Rückkoppelungsprozesse in die nationalen Systeme [...] die wichtigsten zeitgeschichtlichen Forschungsaufgaben der kommenden Jahrzehnte“ lägen.1 Ob man diese Einschätzung teilen mag, sei dahingestellt – fest dürfte stehen, dass die transatlantische Zeitgeschichtsschreibung einen besonders vielschichtigen und reizvollen Stoff für derartige Forschungen bietet. Vor diesem Hintergrund sollen hier einige neuere Studien zur Rolle der USA im europäischen Einigungsgeschehen und den transatlantischen Beziehungen besprochen werden.

Es gibt kaum einen ausgewieseneren Experten zur Geschichte des Verhältnisses der USA zum europäischen Integrationsprozess als Geir Lundestad, der neben seiner wissenschaftlichen Karriere übrigens Sekretär des norwegischen Nobel Komitees ist, das den Friedens-Nobelpreis vergibt. Seine These vom „Empire by Invitation“, die er 1986 erstmals in einem kleinen Aufsatz entwickelt hat, gehört zu den einflussreichsten Interpretationen zur Charakterisierung dieser Beziehungsgeschichte. Empirisch ausgeführt hat sie der Professor für Internationale Geschichte an der Universität Oslo in einer 1998 publizierten Studie zur Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess von 1945 bis 1997.2

Das hier besprochene Buch baut auf diesen und weiteren früheren Studien auf und führt Lundestads historische Analyse bis in die allerjüngste Gegenwart weiter. Seine Kernthese hat Lundestad nicht verändert. Vielmehr geht er weiterhin davon aus, dass die USA aufgrund ihrer herausragenden Stärke nach 1945 Westeuropa zu einem Teil ihrer Einflusssphäre, ihres „Empire“, gemacht haben. Zbigniew Brzezinski folgend verwendet er den Begriff „Empire“ wertneutral und versteht darunter ein hierarchisches politisches System mit einem Zentrum. Er setzt den Begriff „Empire“ in Anführungszeichen, um ihn von älteren Formen direkter Herrschaft abzuheben – schließlich habe es sich um keine formale Kontrolle der USA über Westeuropa gehandelt. „Empire by Invitation“ meint bei Lundestad, dass die Westeuropäer nach 1945 keineswegs wider Willen unter amerikanischen Einfluss gerieten, sondern die Vereinigten Staaten dazu einluden, sich in innereuropäische Fragen einzubringen. Im Moment der Schwäche seien die europäischen Nationalstaaten vor allem in dreierlei Hinsicht auf die USA angewiesen gewesen: ökonomisch, um ihre durch den Krieg zerstörten oder zumindest angeschlagenen Nationalwirtschaften wieder aufzubauen; politisch, um kommunistische Einflüsse in ihren Gesellschaften zurückzuweisen; sowie sicherheitspolitisch und militärisch gegenüber der Sowjetunion. Umgekehrt hätten sich die USA freilich nicht aus altruistischen Gründen in Europa eingebracht, sondern wären den Einladungen gefolgt, um letztlich fünf Ziele zu erreichen. Ihnen ging es darum, den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen, Westdeutschland ins westliche Bündnis zu integrieren, ein atlantisches Sicherheitssystem unter eigener Führung aufzubauen, rechts- und linksextreme Parteien aus europäischen Regierungen fernzuhalten und schließlich Europa für die amerikanische Massenkultur zu öffnen.

Im Einklang mit vielen anderen Studien sieht Lundestad den Beginn der amerikanischen Unterstützung für einen europäischen Zusammenschluss 1947. Damals wurde offensichtlich, dass Hoffnungen auf eine friedliche Nachkriegswelt nicht bestätigt werden würden. Während sich die beiden Supermächte wechselseitig in den Kalten Krieg hineinsteigerten, kamen die USA zu dem Ergebnis, dass sie in der Systemkonfrontation einen möglichst starken und geeinten Partner in Westeuropa bräuchten. Bereits in diesem Zusammenhang verdeutlicht Lundestad, dass die Initiative für die politische Kehrtwende keineswegs nur von den Vereinigten Staaten ausging, sondern dass die Supermacht damit auch auf europäische Einladungen reagierte. Ein Beispiel dafür bietet der Offenbarungseid, den Großbritannien in der Frage einer weiteren Unterstützung Griechenlands im Februar 1947 gegenüber den USA leisten musste. Die Vereinigten Staaten sprangen angesichts eines drohenden Machtvakuums ein und übernahmen fortan die britische Rolle. Lundestad streicht klar heraus, dass immer ein amerikanisches Eigeninteresse hinzukommen musste, damit solche Offerten angenommen wurden. Darüber hinaus betont er, dass die Europäer amerikanische Maßnahmen deutlich abänderten, dass der „Gast“ die Speisefolge und die Tischsitten also keineswegs komplett bestimmen konnte. Sichtbar wird dies etwa am erfolgreichen Widerstand Großbritanniens gegen eine supranationale Ausrichtung der OEEC als jener Einrichtung, die von europäischer Seite den Marshall-Plan koordinierte.

Lundestad differenziert mehrere Phasen in der transatlantischen Beziehungsgeschichte seit 1945: Nachdem eine recht reibungslose Kooperation aufgebaut worden sei und sich bis in die frühen 1960er-Jahre weiterentwickelt hätte, sei die amerikanische Hegemonie in den 1960er-Jahren massiv durch das Frankreich unter Präsident Charles de Gaulles herausgefordert worden. Weder in dieser Phase noch in den darauffolgenden Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre, als sich die Rahmenbedingungen und die strukturellen Grundlagen des Verhältnisses dramatisch veränderten, kam es laut Lundestad jedoch zu einer wirklichen Redefinition der Beziehungen. Nach einer krisenreichen Periode von den späten 1970ern bis zur Mitte der 1980er-Jahre hätte sich die Kooperation angesichts der enormen Herausforderung am Ende des Kalten Krieges wieder intensiviert. Ob es in Zukunft tatsächlich zu jenem „transatlantic drift“ kommen werde, von dem im Titel der Studie die Rede ist, lässt Lundestad letztlich offen, allerdings sieht er deutliche Tendenzen in diese Richtung.

Die lange, komplexe Beziehungsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart schildert Lundestad überraschend knapp, aber mit den notwendigen Differenzierungen. Schon die Ökonomie und die Organisation des Buches, das mit weniger als 300 Seiten Text inklusive Endnoten auskommt, sind bewundernswert. Zudem bietet Lundestad nicht nur eine übergreifende These zum Thema, sondern zugleich auch recht tiefe Einblicke in die Problemlagen. Bereits hier sei vorweggenommen, dass seine Ausführungen durch die anderen hier besprochenen Bücher insgesamt erhärtet werden. Lundestad hat deswegen das Standard- und Referenzwerk zum Thema geschrieben. Der „neue Lundestad“ löst in dieser Rolle Lundestads Studie von 1998 ab. Man kann dem Buch sowohl in der scientific community wie auch im außenpolitischen Establishment nur möglichst viele Leser wünschen.

Zugleich hat auch dieses bedeutsame Werk einige Defizite. Zum einen wird es im Verlauf der Darstellung tendenziell deskriptiver, was sich nicht zuletzt aus den fehlenden historisch fundierten Forschungen für die zweite Hälfte des behandelten Zeitraums erklärt. Notwendigerweise wird das Eis, auf dem sich Lundestad bewegt, immer dünner. Deswegen reduzieren sich der Untersuchungsgegenstand und der Ansatz auch immer mehr auf klassische Diplomatiegeschichte und das Gesichtsfeld auf die USA, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik als den großen Mächten. Auch seine „invitationistische“ Kernthese gerät im Verlauf der Studie gelegentlich, vor allem für die Dekade von den späten 1960er bis zu den späten 1970er-Jahren, aus dem Blickfeld. Schließlich wäre eine genauere Definition von „Empire“ sowie von Hegemonie – ein Begriff, den Lundestad synonym zu „Empire“ benutzt – gerade angesichts der jüngsten Debatte über den Charakter der amerikanischen Außenpolitik sinnvoll gewesen.

Lundestads Thesen werden durch die Befunde von Beate Neuss, deren Studie wohl zu spät erschien, um noch von ihm rezipiert zu werden, im Wesentlichen bestätigt. Die These dieser Münchner Habilitation ist im Titel bereits vorweggenommen: Für Neuss waren die USA tatsächlich Geburtshelfer des europäischen Einigungsprozesses.

Primär auf Quellen aus amerikanischen Archiven gestützt, zeigt Neuss, wie sehr sich die USA in der ersten Nachkriegsdekade für dieses Ziel engagierten. Wie Lundestads Werk setzt ihre Arbeit beim Marshall-Plan an und führt über eine Analyse des Schuman-Plans und der Montanunion über die Geschichte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu den Verhandlungen im Vorfeld der Römischen Verträge von 1957. Anders als die Einleitung vermuten lässt, sind die Gewichte innerhalb der Gliederung jedoch recht ungleich verteilt: Über die Hälfte des Buches widmet Neuss allein den sicherheitspolitischen Verhandlungen im Kontext der EVG, deren Scheitern und dem als Konsequenz daraus erfolgten NATO-Beitritt Westdeutschlands 1955, da in diesem Bereich die amerikanischen Interventionen besonders spürbar waren.

Problematisch ist zudem die Vorentscheidung von Neuss, die Politik gegenüber europäischen „Organisationen, die über eine intergouvernementale oder multilaterale Struktur nicht hinausgekommen sind“, nicht zu untersuchen (S. 21). Dabei handelt es sich um eine recht teleologische Vorannahme. Durch ihre enge Fokussierung auf einige Initiativen sowie auf amerikanische Quellen kann Neuss auch die wechselseitigen Dynamiken, die sich durch die transatlantischen Interaktionen ergaben, nicht voll erfassen. So wird etwa die Bedeutung der amerikanischen Haltung in der Suez-Krise nur angedeutet (S. 315), aber nicht wirklich ausgeführt – vom „Faktor Suez“ wird später noch einmal die Rede sein.

Insgesamt kommt Neuss trotzdem zu einem überzeugenden Schluss. Sie bestätigt so im Wesentlichen frühere Forschungen zum Thema, wobei sie leider einige wichtige Studien der 1990er-Jahre, wie die Arbeiten von Werner Bührer, Eckart Conze oder John Lamberton Harper, nicht berücksichtigt hat. Während der ersten Integrationsdekade räumten die USA demnach sicherheitspolitischen Interessen ein klares Primat über ökonomische Erwägungen ein. Pointiert fasst Neuss dies so zusammen: „Die europäische Integration wäre ohne die Politik Washingtons nicht so schnell und nicht in dieser Form zum Tragen gekommen. [...] Sie [die USA] waren Antreiber und Vermittler – im Interesse ihrer europäischen Partner und im wohlverstandenen Eigeninteresse.“ (S. 346) Diese Rolle der USA als Geburtshelfer und Impulsgeber der Integration schleifte sich laut Neuss erst während der 1960er-Jahre ab, als Frankreich und Deutschland zum Motor der Einigung wurden. Trotzdem betont sie, ähnlich wie Lundestad, zusammenfassend die erstaunlichen Konstanten in der Struktur der amerikanischen Europapolitik bis über das Ende des Kalten Krieges hinaus.

Auch in Helmut R. Hammerichs Studie stehen sicherheitspolitische Fragen im Zentrum des Interesses. Seine Studie ist in der Reihe „Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956“ erschienen, die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Potsdam herausgegeben wird und von der bisher sechs Bände vorliegen. Die Reihe fragt nicht nur nach dem deutschen Beitrag zur NATO, sondern will in jedem der Bände Probleme der Geschichte des Nordatlantischen Bündnisses aus multinationaler Perspektive darstellen. Dabei spielen die Vernetzung der jeweiligen nationalen Positionen und die wechselseitige Dynamik der Interaktionen eine besondere Rolle.3 Außerdem wird in den Studien die NATO zu Recht nicht auf ihre militärische Dimension reduziert, sondern neben sicherheits- und militärpolitischen Fragen werden auch die politik- und wirtschaftshistorischen Dimensionen der Allianz ausgeleuchtet. All dies macht das Gesamtprojekt des MGFA bereits aufgrund seiner Anlage zu einem wichtigen Beitrag zur Internationalen Geschichte des Kalten Krieges.

Hammerichs Arbeit weist sämtliche Vorzüge der Grundkonzeption der Reihe auf. Seine Analyse der Lastenteilung in der NATO basiert auf einem multiarchivalischen und multinationalen Quellenstudium. Zudem fokussiert sie genau die Sollbruchstelle zwischen militärischen und ökonomischen Interessen der Partnerstaaten und der Allianz insgesamt. Der Untertitel des Buches ist insofern missverständlich, da Hammerich weit mehr liefert als nur die Geschichte des „Temporary Council Committee“ (TCC) als einem Komitee, das für die Entwicklung funktionierender Organisationsstrukturen innerhalb des Bündnisses zentral war. Eine eigene Dissertation hätte jene nur sechs Monate von Oktober 1951 bis Februar 1952 währende Einrichtung auch kaum verdient gehabt. Bedeutsam war das Problem, welches das Komitee zu lösen versuchte, allerdings schon: Seine Aufgabe bestand darin, ein Verfahren zur Lastenteilung im Bündnis bereitzustellen. Der NATO-Vertrag von 1949 hatte diese Frage offen gelassen, und so war unklar, welcher Partner auf welcher Berechnungsgrundlage welche Kosten für Personal, Material, Infrastruktur und Verwaltung der gemeinsamen Verteidigung tragen sollte. Da Hammerich auch frühere Versuche, zu einer tragfähigen Lastenverteilung zu kommen, einbezieht und die Geschichte dieses Komitees in überzeugender Weise kontextualisiert, kann er wichtige Einblicke in die politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit in der Frühphase des Bündnisses gewinnen.

Zunächst geht Hammerich der militärischen Aufrüstung Westeuropas nach 1945 und besonders im Zuge des Koreakriegs nach. Allein in den drei Jahren von 1949 bis 1952 verdreifachten sich die gemeinsamen Verteidigungsausgaben des Bündnisses. Dieser enorme Kraftakt brachte jedoch größere Probleme mit sich – vor allem ließ sich die massive Aufrüstung nicht mit dem Ziel eines ökonomischen Wiederaufstiegs Westeuropas verbinden. Die hohen Forderungen an die Bündnispartner, die vor allem von amerikanischer Seite forciert wurden, konnten erst in langwierigen und zähen Verhandlungen reduziert werden, und in diesem Rahmen spielte das TCC, wie Hammerich zeigen kann, eine bedeutsame Rolle. Das Komitee erarbeitete einen Kompromiss, der die Streitkräfteplanung der Allianz auf eine tragfähige Basis stellte. Außerdem fand man hier – und dies war langfristig noch wichtiger – ein institutionelles Arrangement und inhaltliche Regelungsmechanismen für den Lastenausgleich. Zudem wurde im TCC der Grundstein für jenen Strategiewechsel von der (teuren) konventionellen Verteidigung zur (billigeren) atomaren Abschreckung gelegt, der später dabei helfen sollte, das Lastenproblem deutlich zu entschärfen.

Besonders verdienstvoll ist an der Studie, dass Hammerich sich nicht – wie es häufig geschieht – allein auf die großen Mächte konzentriert, sondern zumindest anhand der Literatur und einiger archivalischer Quellen vornehmlich amerikanischer und britischer Provenienz auch die Positionen aller anderen NATO-Mitgliedsstaaten ausleuchtet. Die Verhandlungen zwischen den verschiedenen Seiten zeichnet Hammerich detailliert und akribisch nach; die gebetsmühlenhafte Wiederholung, wie zentral das TCC gewesen sei und der deskriptive Zug beeinträchtigen allerdings das Lesevergnügen dieser grundsoliden Studie. Methodisch hätte die Arbeit davon profitieren können, wenn sie über die klassische Diplomatiegeschichte hinaus mehr sozial- und kulturgeschichtliche Impulse empfangen hätte. Dass zum Beispiel transnationale Netzwerke für die reibungslose Arbeit des TCC bedeutsam waren, wird an mehreren Stellen des Buches behauptet, aber nirgendwo näher ausgeführt.

Hammerich betont insgesamt, wie stark die westeuropäischen Staaten ihren Einfluss im Bündnis geltend machen konnten und dass es den USA häufig nicht gelang, ihre Interessen voll durchzusetzen. Im Ergebnis mussten die USA gegenüber ihrer Forderung, dass die westeuropäischen Staaten das Ziel des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs der Aufrüstung unterordnen sollten, deutliche Konzessionen machen. Was Hammerich als Spielraum der Europäer bezeichnet, die nicht bereit gewesen seien, „Washington als Lehrmeister anzuerkennen“ (S. 157), ließe sich im Anschluss an Neuss aber auch aus einer amerikanischen Grundhaltung in der Frühphase der Integration verstehen, im Sicherheitsbereich eigene Interessen notfalls zurückzustellen. Warum Amerika bereit war, auf die europäischen Partner so sehr einzugehen, hätte demnach noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.

Einem Problem deutlich größeren Umfangs widmet sich die ebenfalls in der MGFA-Reihe erschienene Arbeit von Dieter Krüger. Krüger hat sich das Ziel gesetzt, „das Miteinander und Gegeneinander der Regierungen bei der Suche nach Sicherheit auf dem Wege der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit in Westeuropa in der ersten Integrationsdekade von 1947 bis 1957/58 vorzustellen“ (S. 13). Diese primär deskriptive Absicht reichert Krüger um die These an, dass sich die frühe Einigungsgeschichte im Wesentlichen als gemeinsames Ringen um Sicherheit verstehen ließe und dass in deren Herstellung die Kernaufgabe des Integrationsprozesses zu sehen sei. In seiner recht knappen Definition von Sicherheit differenziert Krüger vier Dimensionen: die Sicherheit vor militärischer Bedrohung, die Sicherung der außenpolitischen Gestaltungsmacht, Sicherheit vor wirtschaftlicher Bedrohung von außen und vor sozialer Destabilisierung.

Wie „Sicherheit durch Integration“ hergestellt wurde, untersucht Krüger anhand der Einigungsinitiativen vom Marshall-Plan bis zu den Römischen Verträgen. Anders als Neuss beschränkt er sich nicht auf einige wenige Institutionen, sondern behandelt ein breites Spektrum von mehr oder minder erfolgreichen Initiativen. Wenngleich die meisten dieser Projekte inzwischen gut erforscht sind, ist Krügers Studie dennoch in doppelter Hinsicht verdienstvoll. Zum einen versteht er die Gründungsphase der Integration als Einheit und untersucht die wechselseitigen Interdependenzen und Dynamiken zwischen den verschiedenen in dem Zeitraum lancierten Projekten. Zum anderen konzentriert sich auch seine empirische Untersuchung nicht nur auf die großen europäischen Spieler, sondern bezieht neben Frankreich, Großbritannien und Deutschland auch die Positionen der USA, Belgiens, der Niederlande und Italiens auf der Grundlage eigenen Quellenstudiums mit ein. Die Arbeit fußt somit auf einer beeindruckend breiten empirischen Basis; mehr Multiperspektivität kann man nicht fordern. Beide Verdienste haben jedoch ihre Kehrseite. Aufgrund der vielen Stränge und Positionen, denen Krüger nachgeht, und vor allem aufgrund der weitgehend ereignisgeschichtlichen Ausrichtung des Werkes bereitet es einige Probleme, über das Deskriptive hinaus den analytischen Faden immer zu erkennen. Insgesamt schreibt auch Krüger eine recht konventionelle Diplomatiegeschichte, die den Schwerpunkt ganz auf das Handeln staatlicher Akteure legt.

Allerdings kann Krüger so eindrucksvoll die „realistische“ Grundannahme bestätigen, die in der Forschung seit Mitte der 1980er-Jahre immer mehr an Einfluss gewinnt, dass das zentrale Movens der Integration darin bestanden habe, die Funktionstüchtigkeit der europäischen Nationalstaaten zu stabilisieren und zu erweitern – auch wenn dies gelegentlich den Verzicht auf Souveränitätsrechte mit sich brachte. Von der älteren, „idealistischen“ Schule der Integrationsgeschichtsschreibung, laut der die Gründungsväter Europas aus visionärer Einsicht in die Überkommenheit des nationalstaatlichen Paradigmas sowie gänzlich selbstlos und ohne handfeste ökonomische und jeweils nationale Interessen gehandelt hätten, bleibt hier wenig übrig. Dass Integration ein neuartiges Instrument im Dienste traditioneller nationalstaatlicher Außenpolitik darstellt, ist heute zwar keine neue These mehr, wird von Krüger aber überzeugend belegt.

Die Rolle der USA im Einigungsprozess charakterisiert Krüger als „Vormacht von außen“ (S. 7), die vor allem in einer Anfangsphase von 1947 bis 1950 als „ideeller Gesamteuropäer“ gehandelt hätten (S. 17). Ausführlich stellt Krüger dies an den Verhandlungen über den Marshall-Plan dar und bezieht die anderen institutionellen Initiativen jener Jahre, wie die Westunion und den Europarat, auf dieses Projekt. In der akribischen, quellennahen Beschreibung konkreter Verhandlungsrunden werden jedoch einige grundsätzliche Probleme zu sehr an den Rand gedrängt, wie etwa die Frage, warum die USA eigentlich ein supranationales Modell für Europa hatten. Bei vielen anderen Problemen bestätigt Krüger bereits bestehende Thesen, etwa Neuss’ Interpretation, dass die amerikanische Europapolitik dem Primat der Politik gefolgt sei: Auch unter Hinnahme ökonomischer Nachteile setzten sich die Vereinigten Staaten demnach für eine politische Stabilisierung und Integration Westeuropas unter supranationalen Vorzeichen ein. So wurde der Marshall-Plan zum Anstoß aller wirksamen Einigungsbemühungen. Deren Ziel sei aber zumindest von europäischer Seite nie der supranationale Bundesstaat gewesen. Vielmehr betont Krüger, dass die europäischen Akteure jeweils primär auf ihre nationalstaatlichen Interessen bedacht gewesen seien und dass alte Rivalitäten fortbestanden hätten. Integration vollzog sich demnach als Wettlauf der verschiedenen westeuropäischen Staaten um die „Unterstützung der Vereinigten Staaten bei der Durchsetzung nationaler Ziele“ (S. 171).

Nach der amerikanischen Initiative in der Anfangsphase, die Sicherheit durch Wirtschaftsdiplomatie habe herstellen wollen, folgten laut Krüger eine stärker durch Frankreich geprägte Periode von 1950 bis 1954 und die Vorstöße des Benelux in den verbleibenden Jahren bis 1957. Auch für diese Phasen betont er, dass es sich um klassische Machtpolitik zwischen Nationalstaaten gehandelt habe, was sich auch an der Rolle der USA zeige. Nach 1950 hätte die Supermacht die supranationalen französischen Initiativen desto energischer unterstützt, je mehr sich die Franzosen selbst von diesen verabschiedeten. Nach 1954 habe es zudem eine deutliche europapolitische Zurückhaltung in den USA gegeben. Insgesamt sei deswegen die Funktion der USA als Stifterin der Integration zu relativieren; wichtiger als die Integration sei ihr das Verhältnis zu Großbritannien und zur NATO gewesen. Krüger kann diese Interpretation jedoch nur so schlüssig vertreten, weil er in der letzten seiner drei Phasen die Geschichte der EWG zugunsten von EURATOM privilegiert. Hätte er, wie Neuss, eine umgekehrte Gewichtung vorgenommen, wäre er zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen.

In Modifikation von Alan Milwards großer These aus den 1980er-Jahren, dass die Integration den europäischen Nationalstaat gerettet habe4, vertritt Krüger die Sicht, dass letztlich die NATO den westeuropäischen Staaten die Notwendigkeit nahm, gegenüber der Herausforderung des Ostblocks eine politisch voll integrierte Gemeinschaft aufzubauen. Demnach habe die NATO den Nationalstaat gerettet und politische Integration im Sinne einer Föderalisierung Europas verhindert. Diese These, die übrigens Hammerich in seinem Buch bereits aufgreift und weiter zu belegen versucht, stellt einen wichtigen Beitrag zur Integrationsforschung dar, die allzu häufig die transatlantische Dimension von der Einigungsgeschichte abkoppelt und so zentrale Rahmenbedingungen aus dem Blick verliert. Tatsächlich liegt nahe, dass durch den Erfolg der NATO in den frühen 1950er-Jahren, der ihr bei ihrer Gründung keineswegs in die Wiege gelegt war, die sicherheitspolitische Integration Westeuropas eher gebremst wurde. Denn durch diesen leistungsfähigen, multinationalen Handlungsrahmen war ein Gutteil der äußeren und inneren Sicherheitsprobleme der europäischen Nationalstaaten gelöst worden. Ein weiterer Souveränitätsverzicht erschien so in dem Bereich als unnötig. Zugleich banden sich die Europäer als Folge des Versuchs, ihren jeweiligen Nationalstaat zu retten, über die NATO auf das Engste an die USA – transatlantische Einbindung erschien ihnen offensichtlich unter dem Primat des Nationalstaats als das kleinere Übel im Vergleich zu einer umfassenden innereuropäischen politischen Integration.

Kritischer muss man dagegen Krügers übergreifende These von der Sicherheit durch Integration sehen. Zum einen bleibt Krügers Sicherheitsbegriff insgesamt vage. Zum anderen lässt sich wohl kaum die ganze frühe Einigungsgeschichte über diesen Leisten schlagen. Wie Lundestad, Neuss und andere betonen, kamen weitere Ursachen und Motive hinzu, wie etwa die Hoffnung auf ökonomische Prosperität, auf die Gewinnung neuer Märkte oder auf ein weltpolitisches „burden sharing“. Trotz dieser Einwände stellt Krügers Monografie einen wichtigen Beitrag zur Integrations- ebenso wie zur transatlantischen Beziehungsgeschichte dar – nicht zuletzt, weil Krüger einer der ersten Historiker ist, der eine Zwischenform zwischen der quellengesättigten Monografie zu einem Spezialproblem der Einigungsgeschichte und den bisher eher wenigen Überblicksdarstellungen schreibt.5 Genau solche Studien „mittlerer Reichweite“, um den Begriff Robert K. Mertons auf diesen Zusammenhang zu übertragen, sind jedoch ein besonderes Desiderat der Forschung. Aufgrund seines Anspruchs zur Synthese und der gleichzeitigen Quellennähe wird Krügers Werk ein wichtiger Bezugspunkt künftiger Studien zum Thema sein.

Jeffrey Glen Giauque, der Teile der in dieser Monografie niedergelegten Ergebnisse zuvor bereits in Aufsatzform publiziert hat, geht dem Verhältnis der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands während der Jahre von 1955 bis 1963 nach. Die recht kurze Phase, die sich mit den von Neuss und Krüger analysierten Zeiträumen überlappt, erlaubt es ihm, seine Studie systematisch zu gliedern und allen relevanten Initiativen zur europäischen und atlantischen Integration nachzugehen.

Auch Giauques Studie zeichnet sich durch große Quellennähe aus, er hat die einschlägigen Archive in allen vier Staaten besucht. Gerade im Vergleich zu den Arbeiten von Hammerich und Krüger werden jedoch zugleich die Defizite deutlich, welche die Konzentration auf die großen Mächte mit sich bringt. Allgemein dekontextualisiert die Studie die jeweils untersuchten Probleme zu stark. Das lässt sich vor allem auf drei Ebenen feststellen: Erstens marginalisiert Giauque die Position der vier anderen Gründungsmitglieder der EWG neben Frankreich und der Bundesrepublik in nicht zulässiger Weise. Zum Beispiel unterschätzt er die Bedeutung des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak und des nach ihm benannten Komitees bei der Vorgeschichte der Römischen Verträge. Beide spielen bei Giauque keine große Rolle – offensichtlich hat der belgische Staatsmann das „Pech“, aus keinem der von Giauque untersuchten Staaten zu kommen. Dafür wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung Westdeutschlands überbetont: Laut Giauque ging in den Mitt-1950ern die Initiative zur Integration auf die Bundesrepublik über. Angemessener erscheint dagegen zum Beispiel Krügers Sicht, dass nach einer von französischen Vorstößen geprägten Phase von 1950 bis 1954 fortan die Beneluxstaaten die Initiative ergriffen. Allgemein kann man sich fragen, ob die von Giauque häufig verwandte Formel von den „four major Atlantic powers“ die deutlichen Machtgefälle zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik, besonders in dieser Phase, nicht zu sehr überdeckt.

Zweitens spielen bei Giauque die Rahmenbedingungen der sicherheitspolitischen Verhandlungen eine zu geringe Rolle. Auch hieran zeigt sich ex negativo der Wert des Ansatzes der MGFA-Reihe. Zum Beispiel dürfte weder die Haltung Frankreichs noch die der Bundesrepublik verständlich sein, wenn man nicht systematisch die europäischen Befürchtungen vor einem Ende der amerikanischen Beistandsgarantie, die sich etwa in der Drohung, die „boys“ nach Hause zu holen, materialisierte, in die Analyse einbezieht. Allgemein verweist Giauque zu wenig auf die weltpolitischen Konstellationen und Veränderungen jener Jahre, wie etwa die Kubakrise oder den Bau der Mauer inklusive der die deutschen Erwartungen enttäuschenden, zurückhaltenden amerikanischen Reaktion. Auch die Sowjetunion tritt lediglich als strukturelle Herausforderung des westlichen Bündnisses auf, ohne dass ihre Politik ein eigenes Profil bekäme. Das eigentlich gut lesbare Buch, das auf den ersten Blick keine großen Vorkenntnisse voraussetzt, stößt hier an spürbare Grenzen.

Drittens schreibt Giauque mehr noch als Hammerich oder Krüger eine traditionelle Diplomatiegeschichte, in der große Männer – hier vor allem de Gaulle und Adenauer – Politik machen. Die Defizite einer solchen Selbstbeschränkung liegen auf der Hand, und in seinem Schlusskapitel muss Giauque selbst angesichts der erstaunlichen Kontinuität in den jeweiligen nationalen Positionen in den 1950er und 1960er-Jahren konzedieren, dass langfristige, strukturelle Faktoren eine bedeutende Rolle gespielt hätten. Bedauerlich, dass solche in seinem Buch kaum vorkommen. Alles in allem ist somit recht fraglich, ob Giauque die bisherige Forschung zum Thema tatsächlich so weit hinter sich lässt, wie er selbst nicht müde wird zu betonen. Dass er einige wichtige Arbeiten zum Thema, etwa Andrew Moravcsiks Interpretation der Politik de Gaulles6, die von seiner eigenen deutlich abweicht, nicht berücksichtigt hat, macht seine Argumentation auch nicht stärker.

Trotz dieser Kritik liefert Giauque einige wertvolle Einblicke in die Integrationsgeschichte der zweiten Nachkriegsdekade. Er entfaltet ein breites Panorama großer Planungen und konkreter Verhandlungen, das in dem Zeitraum von acht Jahren von der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes über die EFTA, die Transformation der OEEC in die OECD, Kennedys „Grand Design“ und de Gaulles Fouchetpläne bis zum ersten britischen Beitrittsgesuch und dem Elysée-Vertrag reicht. Zur Rolle der USA vertritt Giauque die These, dass sich in den späten 1950er-Jahren jene Ambivalenz erstmals gezeigt habe, die seitdem das transatlantische Verhältnis charakterisiere. Die USA hätten den Einigungsprozess zwar unterstützt, sich zugleich aber geweigert, die logische Folge dieser Politik anzuerkennen: das Ende der eigenen Führungsrolle in der Alten Welt. In vielen Fällen seien die USA in jener Phase nur als Beobachter aufgetreten, was sich seitdem noch verstärkt habe. Ob diese ambivalente Haltung eine spezifische Entwicklung der späten 1950er-Jahre ist, kann man allerdings bezweifeln. In letzter Konsequenz stößt man hier zu der Aporie vor, die sich aus der wohl welthistorisch einmaligen Situation ergibt, dass eine Supermacht versucht, gezielt eine andere große Macht aufzubauen.

Giauque hebt hevor, dass für Präsident Lyndon B. Johnson (1963-1969) – im Gegensatz sowohl zu Eisenhower, wie auch zu Kennedy – Westeuropa auf einer niedrigen Prioritätenstufe gestanden habe; dass auch deswegen 1963 eine Zäsur in der Geschichte der atlantischen Allianz darstelle. An genau diesem Punkt setzt die Arbeit von Thomas Alan Schwartz ein, der den 36. Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem helleren Licht zeichnen will, als dies häufig geschehe. Tatsächlich nimmt Johnson auf der Beliebtheitsskala amerikanischer Präsidenten bei der US-Bevölkerung seit langem einen der niedrigeren Ränge ein – innere Unruhen, „race riots“ und vor allem das Vietnamdebakel sind mit seinem Namen verbunden. Trotzdem bedient sich Schwartz eines dramaturgischen Kunstgriffs, wenn er zunächst ausführlich auf den schlechten Ruf von „LBJ“ in Öffentlichkeit und Forschung eingeht. Denn die amerikanische Geschichtswissenschaft bemüht sich seit längerem um ein ausgewogeneres Bild, und als Sozialreformer wird Johnson inzwischen von vielen Historikern in die kleine Riege der ganz großen US-Präsidenten aufgenommen. Im Bereich der Außenpolitik ist der „Schatten von Vietnam“, aus dem Schwartz LBJ nun zu ziehen versucht, aber tatsächlich noch recht lang.7

Im Gegensatz zu den bisher diskutierten Arbeiten ist diese Studie weitgehend auf die amerikanische Perspektive zentriert, selbst wenn Schwartz auch Dokumente aus europäischen Archiven heranzieht. Schwartz muss ebenfalls eine Vielzahl von Fragen behandeln, die damals auf der transatlantischen Agenda standen, unter anderem de Gaulles Herausforderung der amerikanischen Führungsrolle, die deutschen Ängste bezüglich der sicherheitspolitischen Verlässlichkeit der USA oder die Wirtschaftskrisen im Großbritannien jener Jahre mit ihren transatlantischen Dimensionen. Insgesamt zeigt Schwartz, dass LBJ sich immer wieder den Empfehlungen seiner Experten verweigerte, und er vertritt die These, dass der Präsident damit insgesamt gut fuhr. Es sei Johnson gelungen, transatlantische Krisensituationen zu seinen Gunsten zu nutzen. Besonders deutlich wurde dies laut Schwartz nach de Gaulles Ankündigung eines teilweisen Rückzugs Frankreichs aus der NATO im März 1966. Damals entschied sich Johnson trotz anderslautender Meinung des außenpolitischen Establishments dagegen, de Gaulle mit drastischen Maßnahmen zu antworten. Tatsächlich wird deutlich, dass Johnson hier kurzfristige Erfolge zugunsten langfristiger Ziele opferte, dass er sich nicht – wie er es in der ihm eigenen Sprache ausdrückte – auf ein „pissing match with de Gaulle“ (S. 104) einließ, welches es dem französischen Präsidenten erlaubt hätte, sich weiter gegen die USA zu profilieren. Auch in den Verhandlungen der Kennedy-Runde attestiert Schwartz Johnson „shrewdness and vision“ (S. 174). LBJ habe die EWG nicht zu hart bezüglich der Landwirtschaft bedrängt, sondern ökonomische Interessen der USA hinter das Ziel der Stärkung der europäischen Integration und damit der Allianz allgemein zurückgestellt. Insgesamt betont Schwartz deswegen die Kontinuität der europapolitischen Position Johnsons gegenüber seinem Amtsvorgänger Kennedy. Letztlich stärkte das Verhandlungsergebnis die EWG, und so kann man in LBJs Position tatsächlich eine Fortsetzung der von Neuss für die erste Integrationsdekade beschriebenen Priorisierung der europäischen Integration gegenüber ökonomischen Interessen in der amerikanischen Europapolitik sehen. Allerdings bleibt bei Schwartz offen, ob LBJ wirklich eine derartige Güterabwägung vornahm oder ob er nicht schlicht und ergreifend bei den Verhandlungen unterlag.

Insgesamt gelingt es Schwartz, Johnson teilweise aus dem Schatten von Vietnam herauszuziehen. Allerdings scheint seine Rehabilitation des Texaners an manchen Stellen zu weit zu gehen. Problematisch für die Analyse der transatlantischen Beziehungsgeschichte ist zudem, dass Schwartz sich ganz auf jeweils bilaterale Verhandlungen mit den westeuropäischen Partnern konzentriert, so dass innereuropäische Dynamiken, die sich auch auf das transatlantische Verhältnis auswirkten, unterbelichtet bleiben. Inwieweit Integration auch in dieser Phase ein hegemoniales Instrument der USA war, wird ebenfalls zu wenig ausgeleuchtet.

Marc Trachtenberg, der mit „A Constructed Peace“ 1999 eine viel diskutierte Interpretation der transatlantischen Beziehungen vorlegt hat8, vertritt in der Einleitung seines Sammelbandes „Between Empire and Alliance“ eine These, die sich markant von den Deutungen bei Lundestad, Neuss oder auch Schwartz abhebt. Während letztere den konstruktiven Anteil der USA an der europäischen Einigung betonen, stellt Trachtenberg die umgekehrte Seite in den Vordergrund. Seiner Meinung nach kam europäische Integration häufig nicht dank der USA zustande, sondern vollzog sich gegen die Vereinigten Staaten: „dissatisfaction with America affected – one is tempted to say, lay at the heart of – the European integration process“ (S. VII). Die meisten der folgenden Artikel belegen die provokante These von der Integration gegen Amerika nicht; sie zeichnen jedoch zugleich ein ambivalenteres Bild der transatlantischen Beziehungen und der Rolle der USA, als es etwa die Kernthese von Neuss nahe legt.

So wehrt sich etwa Paul Pitman, der der Entstehungsgeschichte der EWG nachgeht, gerade gegen die ältere Interpretation, dass die amerikanische Haltung in der Suez-Krise die Hauptursache dafür gewesen sei, dass die Verhandlungen über den gemeinsamen Markt zu einem erfolgreichen Abschluss kamen; dass die EWG quasi in Frontstellung zu den USA entstand. Vielmehr habe Eisenhowers Entscheidung, die britisch-französische Militäraktion am Suez-Kanal zu verurteilen, die französische Regierung zwar verbittert, aber damit nur ihren bisherigen Kurs bestätigt, auf eine Intensivierung der europäischen Einigung unter Einschluss der Bundesrepublik zu setzen. Der „Faktor Suez“, der bei Neuss zu kurz kommt, erscheint so als „trigger“, aber nicht als „cause“ für die Entstehung der EWG (S. 52). Auch der Artikel von Francis J. Gavin und Erin Mahan zu den amerikanisch-französischen Finanzverhandlungen der frühen 1960er-Jahre lässt sich nicht einfach auf Trachtenbergs Eingangsthese reduzieren und noch nicht einmal der Aufsatz, den der Herausgeber selbst zusammen mit Christopher Gehrz zu dem Band beigesteuert hat, stellt die gegen Amerika gerichtete Stoßrichtung der Integration ganz in den Mittelpunkt.

Während alle bisher vorgestellten Bücher zumindest im Kern traditionell diplomatiegeschichtlich vorgehen, enthält Trachtenbergs Sammelband auch einige Artikel mit neueren Ansätzen. So untersucht etwa Wolfgang Kaiser die transnationalen Beziehungen und mehr noch die Übereinstimmungen und Unterschiede der Weltbilder zwischen europäischen Christdemokraten und den europapolitischen Eliten der USA, während Leopoldo Nuti den Einfluss der USA auf die italienische Innenpolitik und besonders auf die Sozialistische Partei Italiens (PSI) erörtert.

Obwohl die Beiträge insgesamt nicht einlösen, was Trachtenberg verspricht, hat der Band viele Vorzüge. In sich sind die Texte quellennah und argumentieren schlüssig. Vor allem aber verweisen sie auf die Vielschichtigkeit und die Ambivalenzen der transatlantischen Beziehungen. Zwei Verdienste sind besonders hervorzuheben. Zum einen erhöht der Band die Sensibilität für das dialektische Potential, welches der amerikanische Einfluss auf das Integrationsgeschehen hatte: Einigung vollzog sich weder nur mit, noch nur gegen Amerika; spannend ist vor allem die Frage nach den jeweils konkreten Ursachen und Motivlagen, Handlungsdynamiken und Ergebnissen sowie nach den Verschiebungen im Verlauf der Jahrzehnte.

Zum anderen verdeutlichen manche Beiträge, wie etwa Hubert Zimmermanns Studie zu Konflikt und Kooperation in den Bereichen des Technologietransfers und der internationalen Finanzpolitik, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In einigen Politikfeldern ergeben sich ganz andere Gemengelagen aus innereuropäischen Initiativen und nationalisolierten Bemühungen, aus amerikanischen Unterstützungs- und Abwehrmaßnahmen als in jenen Bereichen von Sicherheit, Stahl und Kohle oder auch dem gemeinsamem Markt, auf die sich die Forschung zumeist konzentriert.

Methodisch ganz andere Wege als alle bisher besprochenen Studien geht schließlich Andreas Daum mit seiner Arbeit zu Kennedys Berlinbesuch im Sommer 1963. Auf den ersten Blick mag man sich fragen, ob dieses Thema über seine stadthistorische Bedeutung hinaus eine wissenschaftliche Monografie verdient hat, zumal Bücher zu solchen Themen ihre Existenz häufig nur der Wiederkehr eines Jahrestages verdanken. Derartige Einwände würden an Daums Studie jedoch völlig vorbeigehen. Vielmehr handelt es sich um eine der innovativsten und bedeutsamsten Studien zur transatlantischen Geschichte der letzten Jahre. Daum untersucht darin nicht nur einen der wichtigsten transnationalen Erinnerungsorte der deutschen Nachkriegsgeschichte und füllt so eine empirische Forschungslücke. Vielmehr leistet er darüber hinaus einen substantiellen konzeptionellen Beitrag zur Erklärung der transatlantischen Beziehungen im Kalten Krieg. Dass das Buch darüber hinaus auch noch gut geschrieben und – man wagt es kaum zu sagen – unterhaltsam ist, zeugt nur noch mehr von seiner Brillanz.

Daum versteht den Kennedybesuch als Höhepunkt eines transnationalen Vergemeinschaftungsprozesses, der transatlantisch eine politische und emotionale Bindung nicht nur zwischen den Eliten, sondern auch den Massen hergestellt habe. Kennedys Deutschlandreise sei eine Inszenierung von Politik gewesen, die gezielt auf symbolische Akte setzte. Vor allem Kennedys charismatischer Persönlichkeit sei es gelungen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zum politischen Westen herzustellen. Indem Daum sich großzügig aus dem Arsenal jüngerer sozial- und kulturwissenschaftlicher Debatten bedient und unter anderem Überlegungen zur charismatischen Herrschaft, zu kollektiven Identitäten, zur symbolischen Politik sowie zur Geschichte von Emotionen zusammenbringt, entwirft er auf wenigen Seiten einen Forschungsansatz, der sich auch auf zahlreiche andere Probleme der transatlantischen Geschichte – ebenso wie auch auf viele andere Fragen – übertragen lässt.

Da Daum Kennedys Besuch als „theatralische Politik“ (S. 12) bezeichnet, ist es nur konsequent, dass er seine Studie, einem antiken Drama gleich, in fünf Teile gliedert. Zunächst geht er auf die Rahmenbedingungen und die Vorgeschichte ein, um dann den ersten Tagen Kennedys in der Bundesrepublik und den Auseinandersetzungen um die genaue Gestaltung des Berlin-Besuchs nachzugehen. Höhepunkt ist der dritte Teil, der sich Kennedys Triumphzug durch Berlin widmet, bevor viertens die nationalen und internationalen Reaktionen erörtert werden, um schließlich den Bogen zum Kennedymythos und zur Gegenwart zu schlagen.

Inhaltlich verdeutlicht Daum die besonderen Probleme des Besuches: Dieser fiel in eine Zeit transatlantischer Krisen, für die Mauerbau, finanzpolitischer Druck der USA und Elysée-Vertrag nur einige Stichworte geben. Ein weiteres Problem bestand darin, gerade in Deutschland theatrale Politik zu betreiben – schließlich hatte sich die alte Bundesrepublik als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus in ihrer Außendarstellung einen dezidiert zurückhaltenden Stil auferlegt; jegliche Analogie zu einem Auftritt Hitlers galt es peinlichst zu vermeiden.

Insgesamt gelingt es Daum, eine überzeugende Mikrogeschichte der transatlantischen Beziehungen während des Kalten Krieges zu schreiben. Er kann zeigen, dass Kennedys Reise einen bewussten Akt symbolischer Politik darstellte, der Spannungen im transatlantischen Verhältnis reduzieren und die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten sichern sollte. Zusätzlich zur exakten Rekonstruktion der Abläufe jenes 26. Juni 1963 leuchtet Daum die Bedingungen aus, die den Tag zu einem derartigen Erfolg machten – politikgeschichtlich etwa das signifikante Abweichen Kennedys in seiner zentralen Rede vor dem Schöneberger Rathaus zugunsten einer recht scharfen Kritik am Ostblock, welche genau die emotionale Bedürfnislage der Berliner traf; sozialgeschichtlich den Hinweis auf die transatlantischen Netzwerke, die für die erfolgreiche Choreografie des Tages mit verantwortlich waren; und schließlich kulturgeschichtlich, indem Daum die Elemente dieses Aktes symbolischer Politik auf frühere Staatsbesuche im Berlin des Kalten Krieges bezieht und so Konstanten und Innovationen im liturgischen Repertoire ausmacht. Daum bietet so eine wichtige Ergänzung der bisherigen Erklärungen für die Ankoppelung der politischen Kultur der Bundesrepublik an den Westen. Diese wurde nicht nur durch Diplomatie, über soziale und populärkulturelle und intellektuelle Amerikanisierung ermöglicht, sondern eben auch durch Akte symbolischer Politik, die auf das Affektive zielten.

Spannend wäre es gewesen, wenn Daum seine Überlegungen noch konsequent auf das Konzept der Hegemonie bezogen hätte, mit dem auch er – allerdings recht beiläufig – das Verhältnis der USA zu Westeuropa im Kalten Krieg charakterisiert (S. 9). Folgte man der klassischen Definition von Heinrich Triepel, der Hegemonie als „Führungsverhältnis zwischen einem Staate und einem oder mehreren anderen Staaten“ versteht und die Akzeptanz dieses Verhältnisses durch die Geführten sowie die Fähigkeit des Hegemons, eine „sittliche Rechtfertigung“ seiner Position zu entwickeln, zu weiteren Teilen seiner Definition macht9, böte sich vielleicht eine Möglichkeit, die Spezifika dieser Form transnationaler Vergemeinschaftung noch genauer zu fassen. Daum konstatiert zu Recht, dass es zu den kaum beachteten Besonderheiten der deutschen Nachkriegsgeschichte gehöre, dass mit Kennedy und Charles de Gaulle zwei ausländische Staatsoberhäupter das erreichten, was jedem deutschen Politiker nach Hitler (vielleicht mit Ausnahme Willy Brandts) versagt geblieben sei. Nur diesen beiden gelang es, die westdeutsche Bevölkerung in einen außeralltäglichen, fast rauschhaften Zustand politischer Vergemeinschaftung mit dem Westen zu versetzen. Vielleicht ist es nun aber kein Zufall, dass es sich bei beiden um ausländische Staatsmänner handelte, die eine hegemoniale Strategie gegenüber der Bundesrepublik verfolgten und noch dazu gleichzeitig für rivalisierende Konzepte der europäischen und der atlantischen Integration standen. An diesem Punkt mag es sich lohnen, Daums Ausführungen künftig konzeptionell weiterzudenken.

Insgesamt zeigt diese Auswahl neuerer Studien zur Rolle der USA im Europa seit 1945, wie vielfältig die Ansätze und wie lebendig die Debatte in diesem Forschungsfeld insgesamt sind. Aus der Perspektive der amerikanischen Cold War Studies bestätigen sie, wie wichtig es ist, neben den beiden Supermächten dritte Staaten zu untersuchen; aus der Blickrichtung der europäischen Integrationshistoriografie heben sie die zentrale Bedeutung der USA für das Einigungsgeschehen hervor.10 Tatsächlich spielten die Vereinigten Staaten im Europa nach 1945 eine bedeutsame Rolle – sie waren Geburtshelfer des Einigungsprozesses und haben auch seitdem immer wieder an entscheidenden Punkten eingegriffen. Wenngleich sich die Alte und die Neue Welt somit eng zusammenschlossen, darf das Machtgefälle zwischen beiden Seiten nicht übersehen werden. Insgesamt spricht vieles dafür, dass die USA in Europa eine „Hegemonie durch Integration“ ausgeübt haben.11 Diese sollte zunächst nur auf einen kurzen Zeitraum angelegt sein, dauert aber bis zum heutigen Tag fort. „Hegemonie durch Integration“ heißt nicht, dass die USA bei allen nur denkbaren Problemen ihre Position einbrachten oder dass sie ihre Interessen jederzeit ganz durchsetzten. Unterschiedliche Phasen und Sektoren der versuchten und der erfolgreichen Einflussnahme sind klar zu unterscheiden. So stark wie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren näherte sich das europäisch-amerikanische Verhältnis nie mehr dem Idealtypus der Hegemonie an.12 Außerdem konzentrierten sich die USA jeweils primär auf die für sie zentralen Bereiche. Zugleich unterscheidet sich die Hegemonie in einer an Triepel angelehnten Definition von einem „Empire“ dadurch, dass es auf konsensuale Entscheidungsmechanismen, auf Kompromiss, Überzeugung und Anerkennung der Führungsrolle durch die anderen Staaten setzt und nur in Ausnahmen auf die Durchsetzung blanker Gewalt. In diesem besonderen Stil muss man den zentralen Unterschied zum Verhalten der Sowjetunion gegenüber dem Ostblock sehen; er unterscheidet sich auch vom Umgang der USA mit einigen anderen Weltgegenden seit 1945.

Zugleich meint „Hegemonie durch Integration“, dass sich die USA in die wohl einmalige Situation begaben, im Schatten ihrer Vormachtstellung systematisch beim Aufbau einer weiteren Großmacht zu helfen. Ihre eigene Geschichte diente den Amerikanern zunächst als Modell für eine avisierte europäische Einigung; in der Anfangszeit meinten sie mit „Integration“ in erster Linie einen supranationalen Zusammenschluss. Zugleich spricht vieles dafür, dass man in Westeuropa Integration unter US-amerikanischer Hegemonie insgesamt als das kleinere Übel, als Mittel zur Rettung der europäischen Nationalstaaten sah. Ein rein nationalstaatlicher Kurs war in der Krise der Nachkriegszeit illusorisch, und zu einer umfassenden Föderalisierung Europas waren die europäischen Akteure offensichtlich nicht bereit. Trotz einer grundsätzlichen Interessensidentität gab es dies- und jenseits des Atlantiks somit unterschiedliche Zielvorstellungen über die Form der Integration. Zugleich war natürlich auch die Hegemonie umstritten, besonders von französischer Seite wurde die amerikanische Position immer wieder herausgefordert. „Hegemonie durch Integration“ hatte stets ein dialektisches Potential: Der Versuch des Hegemons, die aus seiner globalen Stellung erwachsenden Kosten durch die europäische Integration zu senken, konnte die Herausforderung der Vormacht durch ein erstarktes Europa zur Folge haben. Dieses dialektische Potential ist eine wichtige Erklärung für den immer auch ambivalenten Charakter der transatlantischen Beziehungen – einzelne Integrationsanstrengungen waren von europäischer Seite durch einen antihegemonialen Reflex und auf amerikanischer Seite durch eine Politik des „divide et impera“ motiviert oder begleitet. Bilanziert man jedoch die Geschichte der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen seit 1945, so sind alle diese Gegentendenzen eher nachrangig – insgesamt vollzog sich die Einigung doch primär im Schatten der amerikanischen Hegemonie. Henry Kissinger hat die Zweckrationalität der transatlantischen Zusammenarbeit für die erste Generation nach 1945 einmal auf den Punkt gebracht: Danach war das große Verdienst jener Staatsmänner auf beiden Seiten des Atlantiks die gemeinsame Einsicht, „daß ein Amerika, das nicht ständig am europäischen Prozeß teilhaben würde, früher oder später unter Bedingungen, die für beide Seiten des Atlantiks weit weniger günstig wären, doch eingreifen müsste“.13

Neben dieser inhaltlichen Seite ergeben sich aus den hier vorgestellten Studien noch ein historiografiegeschichtlich-forschungsstrategischer und ein konzeptioneller Befund. Historiografiegeschichtlich reflektieren diese Arbeiten das Voranschreiten der Forschung in gebührendem Abstand zur Öffnung der Archive, das heißt jene Verzögerung der empirisch fundierten Geschichtsschreibung gegenüber zeithistorischen Themen von mindestens 30 Jahren. Vor diesem Hintergrund darf man auf die Arbeiten der nächsten Jahre besonders gespannt sein: Denn viele der hier besprochenen Arbeiten deuten an, dass in der zweiten Hälfte der 1960er und in den 1970er-Jahren die Spannungen und Krisen im Verhältnis zwischen den USA und Westeuropa deutlich zunahmen; dass sich damals einige der basalen Strukturen, die die Beziehungen bis dahin geprägt hatten, deutlich änderten: Ökonomischer Aufstieg der westeuropäischen Gesellschaften bei einem gleichzeitigen relativen wirtschaftlichen Niedergang der USA; eine teilweise konzertierte, teilweise konkurrierende Hinwendung zur Détente gegenüber der Sowjetunion mit vielschichtigen Folgen für die Sicherheitsfrage; eine Abschwächung der direkten amerikanischen Interventionen im europäischen Einigungsprozess bei gleichzeitigem Verlust einer klaren (supranationalen) amerikanischen Vision für Europa gepaart mit einer Eigendynamik der europäischen Integration, in der seit den 1960er und 1970er-Jahren intergouvernementale Entscheidungsmechanismen immer weitergehend institutionalisiert wurden, sowie der Aufstieg der Bundesrepublik zur europäischen Ankermacht in NATO und EWG sind nur einige dieser Faktoren. Wenn man Lundestad folgt, bedeutete dies dennoch nicht das Ende der amerikanischen Hegemonie. Vielmehr kam es trotz solcher säkularen Veränderungen zu keiner grundsätzlichen Redefinition der transatlantischen Beziehungen – was übrigens an die heutige Situation erinnern mag. Angesichts der Krisen der 1960er und 1970er-Jahre liegt es so nahe, die 1980er und 1990er-Jahre, in denen sich die Konfliktintensität reduzierte und die Beziehungen besserten, eher als retardierendes Moment zu sehen, denn als Teil einer relativ homogenen Verlaufsgeschichte für die Jahre des Kalten Krieges. Besonders in Hinblick auf Gegenwart und Zukunft der transatlantischen Beziehungen stehen uns deswegen in den Forschungen der nächsten Jahre (hoffentlich) wichtige Erkenntnisse bevor.

Konzeptionell schließlich stehen alle Arbeiten zu diesem komplexen Thema vor jenen spezifischen Herausforderungen, von denen bereits eingangs die Rede war. Eine mögliche Agenda für die Forschung lässt sich mit folgenden Begriffen umreißen: Multinationale Perspektivierung auf Grundlage multiarchivalischer Quellenarbeit, umfassende Kontextualisierung durch Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure und Einbettung in die Geschichte des Kalten Krieges sowie schließlich methodische Pluralität jenseits der konventionellen Diplomatiegeschichte stellen drei Kerndimensionen dar, innerhalb derer Koordinaten sich jede Arbeit verorten muss. Keine der hier diskutierten Arbeiten ist in der Lage, in alle drei Richtungen gleichzeitig zu gehen. Insofern sind in der Forschung zur Rolle der USA im europäischen Integrationsprozess und zu den transatlantischen Beziehungen im 20. Jahrhundert nicht nur noch viele empirische Fragen offen, vor allem für die Zeit ab den 1970er-Jahren. Weit entfernt sind wir außerdem von wirklich umfassenden Synthesen und – noch einen Schritt davor – von einem methodischen Ansatz, der solche ermöglichen würde. Aus unterschiedlichen Gründen befinden sich deswegen die außenpolitischen Experten und die Historiker zu diesem Thema in derselben Situation: Die Arbeit dürfte ihnen so schnell nicht ausgehen.

Anmerkungen:
1 Schwarz, Hans-Peter, Fragen an das 20. Jahrhundert, in: VfZ 48 (2000), S. 1-36, hier S. 13.
2 Vgl. Lundestad, Geir, Empire by Invitation? The United States and Western Europe, 1945-1952, in: Journal of Peace Research 23 (1986), S. 263-277; Ders., „Empire“ by Integration. The United States and European Integration, 1945-1997, Oxford 1998.
3 Vgl. dazu v.a. Wiggershaus, Norbert, Zur Konzeption einer NATO-Geschichte, in: Heinemann, Winfried, Vom Zusammenwachsen des Bündnisses. Die Funktionsweise der NATO in ausgewählten Krisenfällen 1951-1956 (Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956 1), München 1998, S. XI-XX.
4 Vgl. Milward, Alan S., The European Rescue of the Nation-State, London 2000, Ders., The Reconstruction of Western Europe (1945-1952), London 1984.
5 Vgl. zu diesem Problem und allgemein als Überblick jüngst Mittag, Jürgen, Die Entdeckung der EU-Integrationsgeschichte? Neue Gesamtdarstellungen und Forschungstrends, in: integration 26 (2003), S. 251-257.
6 Vgl. Moravcsik, Andrew, De Gaulle Between Grain and Grandeur. The Political Economy of French EC Policy, 1958-1970, in: Journal of Cold War Studies 2,2 (2000), S. 3-43; 2,3 (2000), S. 4-68.
7 Vgl. zur Einschätzung von Johnson und aller anderen amerikanischen Präsidenten in der US-Öffentlichkeit und unter Historikern die immerhin für Tendenzaussagen taugende Seite: www.americanpresidents.org.
8 Vgl. Trachtenberg, Marc, A Constructed Peace. The Making of the European Settlement 1945-1963, Princeton 1999.
9 Triepel, Heinrich, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1943, Zitate S. 125, 136; vgl. als Diskussion verschiedener neuerer Hegemonie-Begriffe Nye, Joseph S., Bound to Lead. The Changing Nature of American Power, New York 1990, S. 37-48.
10 Vgl. für die Cold War History Lane, Ann, The Cold War as History, in: Larres, Klaus; Dies. ( Hgg.), The Cold War. The Essential Readings, Oxford 2001, S. 1-16, hier v.a. S. 11f.; zum Problem nationalzentrierter und eurozentrischer Geschichtsschreibung Patel, Kiran Klaus, Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in: ZfG 52 (2004), S. 626-645.
11 Vgl. Conze, Eckart, Hegemonie durch Integration? Die amerikanische Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle, in: VfZ 43 (1995), S. 297-340; von einer fragmentarischen Hegemonie auf Zeit spricht: Schwabe, Klaus, Hegemonie durch Integration? Die Vereinigten Staaten und die europäische Integration 1947-1957, in: Berg, Manfred u.a. (Hgg.), Macht und Moral. Beiträge zur Ideologie und Praxis amerikanischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert, Münster 1999, S. 171-188. Wie die Arbeiten von David P. Calleo, Paul Kennedy, Joseph S. Nye und anderen verdeutlichen, ist die These von den USA als Hegemonialmacht der westlichen Welt schon lange vor Ende des Kalten Krieges formuliert worden.
12 So hat z.B. Thomas McCormick von einem „long, slow ebbing down of hegemony“ gesprochen; vgl. McCormick, Thomas J., America’s Half Century. United States Foreign Policy in the Cold War and after, Baltimore 1995, S. 125.
13 Kissinger, Henry A., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S. 914.

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