H. Diederichs: Die Plastverarbeitung der DDR und ihr Umfeld

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Titel
Die Plastverarbeitung der DDR und ihr Umfeld.


Autor(en)
Diederichs, Henning
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Darstellungen der Geschichte ostdeutscher Industriezweige – vor 1989 ein recht beliebtes Genre1 – sind nach 1990 selten geworden, seltener noch als Gesamtdarstellungen zur DDR-Wirtschaftsgeschichte.2 Christian Heimanns Geschichte der ostdeutschen Textilindustrie3 und Helmut Kinnes „Geschichte der Stahlindustrie der Deutschen Demokratischen Republik“4 gehören zu den Ausnahmen. Wie Heimann hat sich auch Henning Diederichs dafür entschieden, dem Leser erst einmal seine Sicht auf das Wirtschaftssystem der DDR vorzulegen, bevor er sich dem ausgewählten Industriezweig widmet. Teil 1, die Sicht auf die DDR-Volkswirtschaft, umfasst bei Diederichs etwa ein Drittel des Bandes. Für die recht ausgiebige Vorschaltung seiner Auffassungen zum Planwirtschaftssystem der DDR mag sich Diederichs bemüßigt gefühlt haben, da er in Freiburg bei K. Paul Hensel zu Fragen des wirtschaftlichen Lenkungssystems in der DDR promoviert hatte. Mit Teil 1 wird gewissermaßen ein Faden, den der Autor vier Jahrzehnte nicht verfolgt hatte, wieder aufgenommen.

Diederichs bemüht sich sichtlich um eine sachbezogene Darstellung, kann aber den in den Jahren des Kalten Krieges erworbenen Blick auf die DDR nicht völlig leugnen. An den von ihm angeführten Fakten lässt sich in der Regel nicht rütteln, wohl aber die einseitige Faktenauswahl kritisieren und die vorgeführte Interpretation anzweifeln. So sollen 1989 die Devisenerlöse der DDR aus Exporten „nur noch 35 %“ von deren Valutaverpflichtungen abgedeckt haben (S. 105). Selbst wenn Diederichs mit „Valutaverpflichtungen“ sämtliche Netto-Devisenschulden der DDR, also auch die erst zu einem späteren Zeitpunkt fälligen meinte, waren 48 % der Schuldensumme abgedeckt. Dabei ist der devisenlose „innerdeutsche Handel“, zweifellos Westhandel mit allen Qualitätsansprüchen des Marktes, vom Rezensenten vorsorglich schon ausgeklammert worden (sonst betrüge die Deckung 85 %).5 Die inländischen Schulden der DDR, fügt Diederichs gewissermaßen zur Vervollkommnung des Schuldendebakels der DDR hinzu, seien zwischen 1970 und 1989 „auf das Zehnfache geklettert“ (S. 105). Das mag so stimmen. Aber einen Blick über den innerdeutschen Gartenzaun hat sich der Autor versagt. In einer Publikation der Friedrich-Ebert Stiftung heißt es zu den inländischen Verbindlichkeiten des DDR-Staatshaushaltes: „Die innere Verschuldung [...] betrug Ende 1989 etwa 7.000 Mark pro Einwohner; im Vergleich: in den alten Bundesländern etwa 15.000 Mark.“6 Wohlgemerkt, hier handelt es sich hier nicht um Zahlenspielerei. Zu einer wirtschaftshistorischen Arbeit wie der vorliegenden gehören der sorgfältige Umgang und die umfassende Bewertung des vorgeführten Zahlenmaterials. Offensichtlich hat der Autor manchmal seine Quellenwahl zu rasch vorgenommen, die Angaben nicht ausreichend auf ihre Konsistenz geprüft, zu wenig verglichen und dadurch zuweilen auch Urteile gefällt, die einseitig sind.

Im Sinne des ausgewogeneren eigenen Urteils wäre es auch angebracht gewesen, dass Diederichs in seinen „Die Statistik wurde als Propaganda-Waffe benutzt“ betitelten Bemerkungen über die DDR-Daten nicht nur eine selbstkritische Passage des letzten Präsidenten des Statistischen Amtes der Deutschen Demokratischen Republik zitiert hätte, sondern auch aus dem Untersuchungsergebnis des Statistischen Bundesamtes, nachdem es den statistischen Dienst der DDR übernommen und hinsichtlich der Widerspiegelung des Verhältnisses von Plan und Wirklichkeit im Datenmaterial überprüft hatte. Das Resultat: „Statistik zeichnet im wesentlichen die Realität nach, der Plan folgte der Wirklichkeit.“7

Zwei Drittel des Buches sind der Kunststoffverarbeitung gewidmet. Auch zu Teil 2 gibt es einen persönlichen Bezug des Autors. 37 Jahre war er als Verbandsfunktionär in der kunststoffverarbeitenden Industrie der Bundesrepublik, also im parallelen Industriezweig, tätig. Während die Bundesrepublik bei dem 1911 eingeführten Begriff Kunststoffe blieb, entschied sich die DDR für die Bezeichnung Plaste. Als Erbe der „Ersatzwirtschaft“ der Nazis angesehen, galt „Kunststoff“ in der DDR-Bevölkerung als Begriff für minderwertige Produktion. Durch die Einführung des Begriffes „Plaste“ sollte das Image des Zweiges, der im Chemieprogramm der DDR als wichtiger Wachstumszweig ausgewiesen worden war, gehoben werden.8

Dieser Zweig Plastverarbeitung wird im Teil 2 auf ca. 200 Seiten von Diederichs vielseitig untersucht und facettenreich vorgestellt. Technische Teile belegten in der Plastverarbeitung den ersten Platz. Plasthaushaltswaren widmete man sich erst ab 1972. In diesem Jahrzehnt gewannen auch Schaumkunststoffe an Bedeutung. Plastverpackungen gab es schon früher. Aber sie galten eigentlich als zu wertvoll. Vor allem sollten sie mehrfach genutzt werden. Mit Plastspielwaren - z.B. mit den Modelleisenbahnen der Marken Piko und TT - konnte die DDR Exporterfolge verbuchen. Auch in den Sportartikeln steckten viele Plaste. Mit den Erfolgen der Sportler trugen auch die Sportgeräte zum Ansehen der DDR im Ausland bei. Die organisatorische Entwicklung - von der VVB zum Kombinat Plast- und Elastverarbeitung Berlin, dem einzigen zentralen plastverarbeitenden Kombinat, 1979 im Zuge der „umfassenden Kombinatsbildung“ in der DDR-Industrie entstanden - ist ebenso Thema wie der Zwangsaufkauf der mittelständischen Betriebe durch den Staat 1972. Die Organisation der Planung und Normung im Zweig wird ebenso vorgestellt wie die wichtigsten Werke: Schkopau stand für Plastwerkstoffe, Freital für Spritzgussmaschinen. In Ottendorf-Okrilla, einem kleinen Ort nördlich von Dresden, befand sich der mit 2.700 Beschäftigten größte plastverarbeitende volkseigene Betrieb der DDR.

Das Interesse Diederichs galt auch den „Stützen der Plastverarbeitung“: der Organisation der Lehrausbildung, der Ingenieur-Ausbildung, die mit dem Dipl.-Ing. Plast- und Elaststechnik an der TH Karl-Marx-Stadt abschloss, ferner der Aus- und Weiterbildung der Leitungskader des Zweiges und dessen einziger Fachzeitschrift „Plaste und Kautschuk“, die „unter dem bisherigen Chefredakteur bis Ende 1994 weiter bestand“. Dann wurde die Zeitschrift „unter Abgabe der Redaktion“ – wie das auch immer zu verstehen ist - in den „Kunststoffberater“, ein Produkt des Giesel-Verlages Isernhagen, „eingegliedert“. Ein Schicksal typisch für die Plastverarbeitung nach ihrer Rückkehr ins Kunststoffland? Diederichs wird es wissen, denn er baute 1990 für den Gesamtverband kunststoffverarbeitende Industrie und dessen Fachverband Technische Teile „mitteldeutsche Organisationsstrukturen“ auf (S. 5).

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Wyschofsky, Günther, Die Chemische Industrie - ein führender Industriezweig, Berlin 1964.
2 Vgl. Küchler, Falk, Die Wirtschaft der DDR. Wirtschaftspolitik und industrielle Rahmenbedingungen 1949 bis 1989, Berlin 1997; Wogawa, Stefan, Das Produktionsmodell der DDR. Versuch einer Annäherung, Berlin 1997; Kehrer, Gerhard, Industriestandort Ostdeutschland. Eine raumstrukturelle Analyse der Industrie in der DDR und den neuen Bundesländern, Berlin 2000; Roesler, Jörg, Die Wirtschaft der DDR (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen), Erfurt 2002; Steiner, Andrè, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004.
3 Heimann, Christian, Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989, Frankfurt am Main 1997.
4 Kinne, Helmut, Geschichte der Stahlindustrie der Deutschen Demokratischen Republik. Düsseldorf 2002.
5 Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, August 1999, S. 49, 60.
6 Anatomie einer Pleite. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft seit 1971, Berlin 2000, S.10.
7 Statistisches Bundesamt, Untersuchung zur Validität der statistischen Ergebnisse für das Gebiet der ehemaligen DDR. Ergebnisbericht, Wiesbaden , April 1991, S. 2.
8 Vgl. Ulbricht, Walter, Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks, Berlin 1959, S. 182.

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