Balzer, Friedrich-Martin; Renz, Werner (Hrsg.): Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965). Erste selbständige Veröffentlichung. Bonn 2004 : Pahl-Rugenstein Verlag, ISBN 3-89144-354-4 623 S. € 39,90

: Asche auf vereisten Wegen. Eine Chronik des Grauens - Berichte vom Auschwitz-Prozess. Mit einem Beitrag von Werner Renz. Köln 2003 : PapyRossa Verlag, ISBN 3-89438-263-5 154 S. € 12,90

: Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt. Mit einem Nachwort von Marcel Atze und einem Text von Hannah Arendt. Berlin 2004 : Philo Verlag, ISBN 3-8257-0364-9 331 S. € 14,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Institut für Geschichte, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Am 19. August 1965 wurde nach fast zweijähriger Verhandlung im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess das Urteil gesprochen. Von den 20 Angeklagten in der „Strafsache Mulka u.a.“ wurden 17 für schuldig erkannt und erhielten Zuchthausstrafen zwischen drei Jahren und lebenslänglich. Der Auschwitz-Prozess ist bis heute nicht nur der bekannteste der vor deutschen Gerichten verhandelten NS-Prozesse, sondern auch historiografisch am besten aufgearbeitet. Zu seinem 40. Jahrestag wurde er in diesem Frühjahr mit einer Ausstellung des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main1 sowie einigen Neuerscheinungen gewürdigt. Allerdings tragen die hier vorzustellenden Publikationen nicht dazu bei, zentrale Forschungsfragen neu zu diskutieren. Es handelt sich vielmehr um Quelleneditionen, deren Ziel darin besteht, Dokumente zum Auschwitz-Prozess einem fachwissenschaftlichen und zeitgeschichtlich interessierten Leserkreis zugänglich zu machen.

In diesem Zusammenhang ist im Philo Verlag der Prozessbericht von Bernd Naumann neu aufgelegt worden. Naumann hat den Auschwitz-Prozess als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beobachtet und kontinuierlich darüber berichtet. Auf der Grundlage dieser Artikel erschien kurz nach der Urteilsverkündung im Athenäum Verlag seine Reportage unter dem Titel „Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt“. 1968 gab Naumann dann eine gekürzte und überarbeitete Fassung heraus, um breitere Leserkreise zu erreichen. Bei dem jetzigen Neudruck handelt es sich um diese Kurzfassung. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre es zwar zu begrüßen gewesen, wenn die Originalausgabe von 1965 nachgedruckt worden wäre, aber für eine größere Breitenwirkung ist auch heute noch die kürzere Version zweckmäßig.

Eine Bewertung von Naumanns Prozessbericht muss dessen dokumentarischen Charakter berücksichtigen. Naumann schilderte chronologisch die einzelnen Abschnitte des Verfahrens und verweigerte sich ganz bewusst einer Analyse. Sein Hauptaugenmerk legte er auf die Angeklagten, deren „psychischen Anlagen und ambivalenten Haltungen“ (S. 8) er nachgehen wollte. Selten durchbrach Naumann seine sachlichen Berichte durch Kommentare. Dem protokollarischen Stil entsprechend ließ er häufig die Aussagen der Angeklagten und Zeugen für sich sprechen. Durchbrochen wurde seine Dokumentation allerdings durch die Beschreibung der Ortsbesichtigung des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Dezember 1964, zu der Naumann die Vertreter des Frankfurter Schwurgerichts gemeinsam mit vielen anderen Journalisten begleitete. Dieser Stimmungsbericht stellt den emotionalsten Teil seiner Reportage dar, in dem es unter anderem heißt: „Nur im Lager, im zerstörten, ist es still und einsam. Auf den Wegen ist keine Spur mehr von Millionen Füßen, die hier in den Tod gingen. Der Wind hat sie verweht, die Sonne ausgeblichen, der Regen verwaschen. Aber wer die Augen schließt, sieht sie gehen. Gehen und niemals wiederkehren.“ (S. 212f.) Naumann hat zwar den Widerspruch zwischen dieser gefühlsbetonten Wahrnehmung und der „spröde[n] Arbeit“ (S. 214) des Gerichts erkannt, war sich aber auch der Notwendigkeit der an Fakten gebundenen juristischen Aufarbeitung bewusst.

Positiv ist zu bewerten, dass der Neudruck durch ein Nachwort von Marcel Atze und einen Aufsatz von Hannah Arendt ergänzt wurde. Insgesamt wendet sich die Aufmerksamkeit der Forschung erst seit einigen Jahren verstärkt der Wirkungsgeschichte von NS-Prozessen zu. Dabei liegen die detailliertesten Forschungsergebnisse bisher für den spezifisch literarischen Bereich vor.2 Auch Atze beschäftigt sich in seinem Beitrag nicht mit dem rechtsgeschichtlichen, sondern mit dem rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund des Auschwitz-Prozesses, in den er Naumanns Bericht einbettet. Nach Atzes Einschätzung wurde Naumann „zum wichtigsten Chronisten des Verfahrens“ (S. 304). Wie Atze außerdem darstellt, bestand eine deutliche Diskrepanz zwischen Bevölkerungsmeinung und veröffentlichter Meinung. Während die deutsche Presse ausführlich und kontinuierlich über den Auschwitz-Prozess berichtete, war das Interesse der Bevölkerung an den Verhandlungen gering. Allerdings wäre es an der Zeit, diese nicht neue These anhand von Einzelmeinungen zu verifizieren. Atzes Ausführungen gehen über eine Aufzählung der an der Berichterstattung beteiligten Journalisten und Literaten kaum hinaus.

Sinnvoll ergänzt wird die Veröffentlichung durch den Nachdruck von Hannah Arendts ausführlichem und kritischem Aufsatz „Der Auschwitz-Prozeß“, den sie für die amerikanische Ausgabe von Naumanns Prozessbericht 1966 verfasst hatte. Arendts Kritik entzündete sich an zwei Aspekten: der deutschen Rechtsprechung, die sie als vollkommen unzureichend für die abzuurteilenden Massenverbrechen ansah, und dem öffentlichen Meinungsklima in Deutschland, das kein Interesse an dem Prozess zeigte. Auch sie nahm bereits die Diskrepanz zwischen der Berichterstattung und der öffentlichen Meinung wahr. In Naumanns sachlichen Reportagen sah sie zwar die Möglichkeit einer direkten Konfrontation des Lesers mit dem Prozessgeschehen. Die Wirkung auf das Meinungsklima in Deutschland blieb ihrer Einschätzung nach dennoch aus. Gerade die Verweigerungshaltung der Angeklagten vor Gericht sah Arendt als Spiegelbild der öffentlichen Meinung an. Ihre These, dass in den Aussagen der Angeklagten eine „Tendenz zur Anpassung“ (S. 314) an das öffentliche Meinungsbild zum Ausdruck kam, ist ebenso radikal wie undifferenziert.

Bei der zweiten zu besprechenden Veröffentlichung handelt es sich ebenfalls um die Publikation von Presseberichten. Ihr Autor ist der Journalist Conrad Taler, der den Auschwitz-Prozess für „Die Gemeinde“ beobachtete, dem offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Da die Zeitschrift monatlich erschien, musste er das Prozessgeschehen für diesen Zeitraum jeweils zusammenfassen. Obwohl sich auch Taler als Chronist verstand, ist sein Stil weit entfernt von der konsequenten Sachlichkeit Naumanns. Taler wollte weder seine Emotionen noch seine persönlichen Einschätzungen verbergen. Dementsprechend machte er deutlich, dass er die Bedeutung des Auschwitz-Prozesses weniger im Nachweis persönlicher Schuld sah als in der Konfrontation der Deutschen, insbesondere der Jugend, mit der NS-Vergangenheit. Das mangelnde Schuldbewusstsein der Angeklagten, die er mehrmals als „Ungeheuer in Menschengestalt“ bezeichnete (S. 64, 82), stieß bei ihm ebenso auf massive Kritik wie die Strategie der Verteidiger, und die Urteile am Prozessende waren ihm zu milde.

Diese Veröffentlichung wurde um drei Beiträge erweitert. Der erste stammt von Werner Renz, einem Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts. Da es sich um die überarbeitete Fassung eines bereits publizierten Aufsatzes handelt3, kommen auch hier keine nennenswerten neuen Erkenntnisse zum Tragen. Renz schildert die Vorgeschichte des Auschwitz-Prozesses und beleuchtet insbesondere die Rolle Fritz Bauers als Initiator des Verfahrens. Bei den beiden sich anschließenden Artikeln handelt es sich um Nachdrucke. So sehr es zu begrüßen ist, dass Talers Presseberichte durch diese Aufsätze in einen breiteren historischen Kontext gestellt werden, so ist es doch unverständlich, warum das ohne Angabe der Quelle oder zumindest des Autors geschieht. Aufgrund der Gliederung muss der Leser Werner Renz als Autor aller drei Beiträge vermuten. Schreibstil und Inhalt deuten jedoch eher darauf hin, dass auch die beiden letzten Artikel von Taler stammen.

Während sich der eine Artikel schwerpunktmäßig mit dem politischen Standort des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in der Bundesrepublik beschäftigt, wird in dem anderen rückblickend der Skandal um die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Heinrich Bütefisch 1964 geschildert. Bütefisch war zur Zeit des „Dritten Reiches“ nicht nur Mitglied des Vorstandes der IG Farben, sondern auch Ehrenmitglied der SS. Er wurde 1948 im sechsten Nürnberger Nachfolgeprozess zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.4 Die „Ordensaffäre Bütefisch“ zeigt, in welchem politischen Klima der Auschwitz-Prozess stattfand: Für dieses war die „Unlust zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ charakteristisch, so die Kernaussage des Aufsatzes (S. 148). Andererseits wird die Funktion der Medien veranschaulicht, auf deren Druck hin sich der Bundespräsident zur Rücknahme des Ordens veranlasst sah.

Des Weiteren hat Werner Renz gemeinsam mit Friedrich-Martin Balzer den Urteilstext des Frankfurter Auschwitz-Prozesses herausgegeben. Diese Edition wird als „erste textkritische, vollständige und selbständige Veröffentlichung“ bezeichnet (S. 25). Damit wollen sich Balzer und Renz von zwei früheren Publikationen abgrenzen. Gemeint sind zum einen die bei Werle und Wandres abgedruckten Auszüge aus dem Urteil, die nur einen minimalen Eindruck von der Urteilsbegründung vermitteln5, zum anderen die ebenfalls vollständige Edition im Rahmen der „Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen“6, die bisher nur in wenigen Bibliotheken verfügbar ist. Zwar wird der Zugang zum Wortlaut des Urteils mit dieser „selbständigen“ Publikation für alle interessierten Leser erleichtert, aber die Lektüre eines detaillierten Gerichtsurteils bleibt schwierig. Insofern richtet sich die Veröffentlichung eher an das Fachpublikum. In der ausführlichen Urteilsbegründung werden nicht nur die Ergebnisse der Verhandlungen zusammengefasst, sondern in den ersten beiden Kapiteln auch die Geschichte und Funktion nationalsozialistischer Konzentrationslager sowie speziell des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erläutert. Dies unterstreicht, dass die Bedeutung der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik in ihrem Beitrag zur historischen Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des NS-Staates liegt.

Dem Wortlaut des Urteils ist ein Aufsatz von Balzer vorangestellt, in dem der Auschwitz-Prozess einmal aus einem anderen, sehr persönlichen Blickwinkel in den historischen Kontext eingeordnet wird: Die Geschichte des Umgangs mit der NS-Vergangenheit wird als individueller Erkenntnisprozess beschrieben. Durch den Zeitzeugen-Charakter wird eine große Unmittelbarkeit erreicht, was die Lektüre sehr empfehlenswert macht. Für Balzer liegt die Bedeutung des Auschwitz-Prozesses in dem Bruch mit der „Konspiration des Schweigens über die geschichtliche Wirklichkeit Auschwitz“ (S. 13), die das öffentliche Bewusstsein im Nachkriegsdeutschland bestimmt habe. Im Anschluss gibt Renz auf vier Seiten einen kurzen Überblick zur Vorgeschichte und Geschichte des Auschwitz-Prozesses. Seine Bilanz der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen in (West-)Deutschland ist pessimistisch. Der Hauptgrund für das Scheitern der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist aus seiner Sicht die unzureichende Rechtsgrundlage für die deutschen Gerichte. Diesem Pessimismus muss jedoch die bereits erwähnte Aufklärungsarbeit der NS-Prozesse gegenübergestellt werden.

Alle drei Publikationen sind schon aufgrund ihres dokumentarischen Charakters zu begrüßen. Die Prozessberichte von Naumann und Taler sind gleichzeitig Zeitzeugenberichte und somit selbst Teil der Erinnerungsarbeit, in der Taler die wesentliche Bedeutung des Auschwitz-Prozesses sieht. Aufgrund ihrer guten Lesbarkeit sind diese beiden Veröffentlichungen nicht nur für Fachkreise geeignet. Die Beschäftigung mit den Presseberichten verweist aber auch auf die Rolle der Medien bei der Vermittlung des Prozessgeschehens. Inwieweit sich diese mediale Vermittlung des Auschwitz-Prozesses meinungsbildend auf die deutsche Bevölkerung ausgewirkt hat, ist trotz der jetzt publizierten Aufsätze eine noch nicht hinreichend geklärte Frage.7 Über die pauschale Feststellung der Diskrepanz zwischen Berichterstattung und öffentlicher Meinung, die Hannah Arendt bereits 1966 getroffen hat, gehen die Ausführungen nicht hinaus. Die Edition des Urteils im Auschwitz-Prozess richtet sich dagegen an das Fachpublikum. Die Lektüre macht sowohl den Beitrag des Prozesses zur Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen bewusst als auch die Tatsache, wie wenig an diesen Abschnitt der strafrechtlichen Aufarbeitung angeknüpft wurde.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu die Rezension von Sabine Horn: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=22&type=rezausstellungenngen>.
2 Vgl. zuletzt Braese, Stephan (Hg.), Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen 2004 (rezensiert von Markus Roth: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-080>).
3 Renz, Werner, Der I. Frankfurter Auschwitz-Prozeß. Zwei Vorgeschichten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), S. 622-641.
4 Vgl. Boll, Bernd, Fall 6: Der IG-Farben-Prozeß, in: Ueberschär, Gerd R. (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999, S. 133-143.
5 Vgl. Werle, Gerhard; Wandres, Thomas, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, München 1995, S. 94-211.
6 Vgl. Rüter, Christiaan Frederik (Hg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XXI, Amsterdam 1979, S. 361-837.
7 Vgl. auch Pendas, Devin O., „I didn’t know what Auschwitz was“: The Frankfurt Auschwitz Trial and the German Press, 1963–1965, in: Yale Journal of Law & Humanities 12 (2000), S. 397-446.

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