H. Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte im Ost-West-Konflikt

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Titel
Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts.


Herausgeber
Hockerts, Hans Günter
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 55
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rödder, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Die Zeitgeschichtsforschung steht, wie Hans Günter Hockerts einleitend feststellt, „in einer Phase des Umbruchs und der Erweiterung“ (S. IX). Über die allgemeinen methodisch-theoretischen und thematischen Entwicklungen innerhalb der Geschichtswissenschaft hinaus ist sie dabei, das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts überhaupt erst zu entdecken. Zugleich werfen Gegenwartserfahrungen – vom Terrorismus über den Irak-Krieg bis zu „Hartz IV“ – neue historische Fragen auf und wirken auf historiografische Zugangsweisen zurück. So stellt Hockerts diesen Band unter die Leitfrage nach zentralen und integrierenden Perspektiven zeithistorischer Deutung – nicht um hegemoniale Paradigmen zu postulieren, sondern um einer zentrifugalen Zersplitterung entgegenzuwirken. In der Tat benötigt das Fach die Kraft zu solcher Unterscheidung und Syntheseleistung, allein schon um die gesellschaftliche Nachfrage nach historischem Ordnungs- und Orientierungswissen bedienen zu können.

Hockerts hat drei zentrale Deutungsachsen ausgewählt, die zugleich die Gliederung des Bandes bestimmen: (1) fortschreitende Internationalisierung, (2) Sozialstaatlichkeit und (3) den nationalgeschichtlichen Aspekt der deutschen „Teilung und Verflechtung“. In dieser gesamtdeutschen Perspektive werden Interpretationskonzepte wie Bürgerlichkeit, Säkularisierung oder Wissensgesellschaft thematisiert. Zentrale Ebenen des Strukturwandels wie Ökonomie, Technologie, Sozialstruktur und Sozialkultur werden hingegen nicht eigens behandelt. Charles S. Maier greift sie unter der Rubrik „Internationalisierung“ auf.

Maier versteht die Krise der „langen siebziger Jahre“ in West und Ost als Dreh- und Angelpunkt der Nachkriegsentwicklung. Die Krise der westlichen Industriegesellschaft im Zeichen erhöhter Energiepreise, instabiler Währungsrelationen, Stagflation und Arbeitslosigkeit brach 1973 offen aus. Maier bezieht auch ihre Vorgeschichte seit den späten 1960er-Jahren – nicht zuletzt in Form der gesellschaftlichen Protestbewegungen – in seine Periodisierung mit ein, und er lässt sie am Übergang zum marktradikalen Boom vor allem in den angelsächsischen Ländern zu Beginn der 1980er-Jahre enden. Da diese Krise aber in den späten 1960er-Jahren noch kaum spürbar war, diese Zeit – und auch die Protestbewegung – vielmehr weiterhin ganz im Banne einer technokratisch-zukunftsgewissen „Modernisierungsideologie“ stand, die erst 1973 abrupt zusammenbrach, erscheint ihre Einordnung in die Krise der 1970er-Jahre nicht recht überzeugend. Eher dürften die 1970er und 1980er-Jahre nach 1973 eine Einheit darstellen, deren Signum im Zusammenhang von Tertiarisierung, ökonomischer Internationalisierung, dem Vordringen der Mikroelektronik und der digitalen Massenmedien sowie dem Wertewandel zu finden ist. (Maier schreibt selbst am Ende seines Beitrags: „The twentieth century effectively ended between 1973 and 1989“, S. 61.) Doch unabhängig von solchen Einzelfragen identifiziert Maier in der Tat einen „Synthesekern“ (Hockerts): Krise und Transformation der klassischen Industriegesellschaft, die Ost und West gleichermaßen erfasste, im Osten jedoch, mit zeitlicher Verzögerung erkannt, letztlich tödlich wirkte, während sie im Westen zugunsten eines neuerlichen ökonomischen Liberalisierungsschubs überwunden wurde, der schließlich in die „Globalisierung“ führte.

Wenn Maier damit die „hard facts“ im Bereich der Ökonomie und Technologie für die gesamthistorische Entwicklung rehabilitiert, so tut Hans-Peter Schwarz dies für die internationale Politik. Pointiert spicht er vom „Primat des internationalen Systems“ für die Geschichte der deutschen Teilung, und ebenso deutlich unterscheidet er das Staatensystem nach einem amerikanisch geführten Hegemonialsystem im Westen und einem sowjetischen Herrschaftssystem im Osten. Schließlich weist er auf die global höchst wirkmächtige, für die deutsche Geschichte aber weithin vernachlässigte Nord-Süd-Dimension im Zeichen der Dekolonisierung hin.

Koordinaten übergeordneter Interpretationen werden besonders im dritten Teil in gesamtdeutscher Perspektive abgesteckt. Die von Martin Sabrow schwungvoll skizzierten Ambivalenzen, Antinomien und Paradoxien der DDR interpretiert Detlef Pollack unter dem Aspekt ihrer Modernität. Dabei greift er auf die klassischen Modernisierungstheorien zurück und gewinnt aus dem Dickicht der sich darum rankenden Debatten ein Raster von Kennzeichen moderner Gesellschaften: die Verbindung von hoher Umweltanpassungskapazität und hoher Strukturerhaltungskompetenz durch offene Wettbewerbsforen, funktionale und soziale Differenzierung, geografische Mobilität, intermediäre Organisationen, sozialstaatliche Sicherungssysteme, auf Selbstentfaltung zielende Wertewandelsprozesse und schließlich Individualisierung als ein auf zunehmende Selbstbestimmung gerichteter und zugleich gesellschaftlicher Prozess.

Schon früher hat Pollack die These von der DDR als „konstitutiv widersprüchliche[r] Gesellschaft“ (S. 194) vorgetragen: Überlebensnotwendig war für die DDR sowohl Modernisierung (allein schon zur Sicherung ihrer ökonomischen Grundlagen) als auch Modernisierungsverhinderung (zur Wahrung ihrer gesellschaftlichen und politischen Fundamente). Daraus ergab sich eine spezifische Gemengelage: „In den einzelnen Funktionssystemen, in den informellen Bereichen, im Alltag verliefen parallel zur allgemeinen Erstarrung des Systems Prozesse der Modernisierung, Emanzipierung und Rationalisierung, so daß innerhalb der Gesellschaft, insbesondere zwischen politischer Struktur und alltagsweltlicher Kultur gewaltige Diskrepanzen entstanden, die letztlich nicht mehr beherrschbar waren.“ (S. 204) Als der äußere Halt – die Bestandsgarantie durch die Sowjetunion – wegfiel, brach das System abrupt zusammen. Dass eine geradezu traditionelle Interpretationskategorie wie Modernisierung und Modernität bei umsichtiger analytischer Verwendung nicht nur für die DDR-Geschichte großes historiografisches Potenzial besitzt, bleibt als zentraler Eindruck aus Pollacks instruktivem Beitrag.

Ebenfalls auf der Grundlage vielfältiger eigener Studien bietet Hannes Siegrist ein anderes Konzept in vergleichender deutsch-deutscher Perspektive an: Bürgerlichkeit. Entgegen der „radikale[n] Historisierung“ (S. 217) von Bürgertum und Bürgerlichkeit als Phänomenen des langen 19. Jahrhunderts durch die Bürgertumsforschung stellt Siegrist Kontinuitäten heraus – weniger jedoch hinsichtlich des sozial exklusiven Besitz- und Bildungsbürgertums als vielmehr im Hinblick auf eine „zweite Traditionslinie“ (S. 219). Gemeint sind damit egalitäre und demokratische Vorstellungen einer „inklusiven Bürgerlichkeit“ der Mittelschichten, deren horizontale und vertikale Verbreiterung in der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft gerade ein Signum der bundesdeutschen Geschichte darstellt. Die Ausbreitung dieser Bürgerlichkeit, die M. Rainer Lepsius 1962 als „kleinbürgerliche Durchschnittlichkeit“ bezeichnet hatte, interpretiert Siegrist hingegen – mit gemäßigt normativem Unterton – als „Enttraditionalisierung, Modernisierung und Internationalisierung der Kultur“ (S. 233), die unterdessen weiterführende Fragen aufwirft. Den identitätsstiftend-ideologischen Gehalt der sozialharmonischen Bürgerlichkeitsvorstellung im Zeichen der „Mitte“ (klassisch etwa Schelskys „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“) spricht Siegrist selbst an (S. 234), nicht aber die Frage nach dem Verhältnis dieser inklusiven Bürgerlichkeit zum Wertewandel seit den mittleren 1960er-Jahren. Eine vertiefende Betrachtung dieses sozialkulturellen Phänomens steht noch aus.

Für die DDR konstatiert Siegrist demgegenüber rundheraus eine „radikale Entbürgerlichung“ (S. 215). Dass die Kategorie der Bürgerlichkeit nur im deutsch-deutschen Vergleich, also nach West und Ost getrennt behandelt wird, wirft die Frage auf, inwieweit die deutschen Nachkriegsgeschichten in Ost und West zusammengedacht werden können, ohne sie unzulässig zusammenzuschieben, wie es Hans Günter Hockerts und Christoph Kleßmann schon wiederholt angemahnt haben. Vieles spricht dafür, dass die deutsche Geschichte nach 1945 „in vielen Bereichen eine getrennte Geschichte“ war, wie Etienne François abschließend formuliert (S. 336), dass das Spezifikum der gesamtdeutschen Geschichte trotz mancherlei wechselseitiger Bezogenheit letztlich in ihrer Auseinanderentwicklung lag –vor allem auf Seiten der Bundesrepublik, die in historischem Maßstab und gerade im internationalen Zusammenhang eben doch den Mainstream der deutschen Geschichte nach 1945 verkörperte.

In dieser Perspektive erscheint die deutsche Einheit eher als ein erratischer Block, und sie wird durch fundamentale andere Entwicklungen relativiert. Eine davon wird mit dem Konzept der „Wissensgesellschaft“ zu erfassen gesucht, dessen historiografische Tauglichkeit Margit Szöllösi-Janze diskutiert. Es zielt in wertneutraler und unteleologischer Weise auf die „Extension von individuellen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten auf der Basis von wissenschaftlichem Wissen“ (S. 280) in einem sehr breiten Sinne und ist genuin transnational angelegt, ohne indessen nationale Spezifika auszublenden. Der Befund einer „Durchwissenschaftlichung von Lebensführung, gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und staatlichem Ordnungshandeln“ seit den 1880er-Jahren (S. 281) bezeichnet zweifellos einen zentralen Strang der historischen Entwicklung und eröffnet eine Perspektive, in der sich vieles erklären lässt, nicht zuletzt in deutsch-deutscher Hinsicht. Wie das Konzept der Wissensgesellschaft allerdings mit der Entwicklung der Gesamtgesellschaft verbunden werden kann – denn immerhin erhebt der Begriff einen gesamtgesellschaftlichen Erklärungsanspruch –, namentlich mit der Sozialstruktur und der Sozialkultur (und nicht nur dem Aufkommen, sondern auch dem Abbruch der wissenschaftsbasierten Modernisierungsideologie um 1973), bliebe noch zu erläutern.

Internationales System, Krise der Industriegesellschaft und ökonomisch-technologische Transformation, Modernität, Bürgerlichkeit, Privatisierung von Religion, Wissensgesellschaft – diesen Koordinaten sind noch weitere hinzuzufügen, um eine Synthese deutsch-deutscher Geschichte während des Ost-West-Konflikts zu erreichen. Doch sie markieren Fix- und Ausgangspunkte weiterer Forschung, für die sich viele produktive Fragen und Perspektiven auftun – das macht dieser Band deutlich.

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