U. Brunnbauer (Hg.): (Re)Writing History

Cover
Titel
(Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism


Herausgeber
Brunnbauer, Ulf
Reihe
Studies on South East Europe 4
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Bis 1989 waren die Historiografien der Staaten Osteuropas mehrheitlich von zwei Trennlinien durchzogen, nämlich von einer ideologischen Scheidelinie zwischen „Parteihistorikern“ und „Liberalen“ sowie von einem Graben zwischen „Nationalisten“ und „Kosmopoliten“. Beide Trennlinien verliefen dabei nur streckenweise parallel; häufig überschnitten sie sich und teilten die Historikerschaft somit nicht in zwei, sondern in vier Lager: linientreue Internationalisten, Nationalkommunisten, traditionelle Nationalisten und nicht-nationalistische Liberale. Das Resultat war ein spannungsreiches, nicht selten fruchtbares Nebeneinander bzw. Gegeneinander, welches sowohl Traditionslinien der Zeit vor 1944 als auch externe Einflüsse erkennen ließ und mitunter gar als Seismograf für bevorstehende Verschiebungen in der politischen Tektonik diente.

Wie hat sich nun aber die Zäsur des Epochenjahrs 1989 mit der Öffnung zur internationalen „Ökumene der Historiker“ samt dem freien Zugang zu historiografischen Produktionen und Paradigmen des Westens, mit der nicht nur ressourcen-, sondern auch statusmäßigen Herabstufung der Geschichtswissenschaft dort und mit dem „brain drain“ der jüngeren Historikergeneration ausgewirkt? Welche Rolle spielt Geschichte im Identitätsmanagement der im Zuge des Zerfalls der Bundesstaaten Ost(mittel)europas neu bzw. wieder entstandenen Staaten und staatsähnlichen Gebilde der Region? Wie hat sich die Geschichtskultur nach dem Ende des Ideologiemonopols der Staatsparteien entwickelt? Wie haben sich die Institutionen, Strukturen und Organe der Geschichtswissenschaft verändert? Und vor allem: Gibt es eine neue Sicht auf die eigene Vergangenheit? Mit diesen Fragen haben sich in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Tagungen1 sowie ein Grazer Forschungsprojekt „Geschichtswissenschaft in Südosteuropa seit 1989“ befasst, in dessen Rahmen neben einem überaus nützlichen Online-Handbuch zur institutionellen Struktur der Geschichtswissenschaften Südosteuropas2 der hier anzuzeigende Sammelband entstand.

In seiner Einleitung gibt der Herausgeber Ulf Brunnbauer die Leitfrage nach Kontinuität und Wandel in den südosteuropäischen Nationalhistoriografien seit 1989/91 vor, wobei er beide Kategorien nach Themen, Methoden und Institutionen untergliedert (S. 9-30). Seine Vorgabe wird immer dort umgesetzt, wo externe Autoren die Nach-Wende-Produktion der Geschichtswissenschaft eines der Staaten der Region kritisch unter die Lupe nehmen – so etwa in Brunnbauers eigenem Beitrag zu Makedonien (S. 165-200) oder in Christian Promnitzers Text zu Bosnien und Herzegowina (S. 54-93). Weniger konsequent wird das Konzept dort befolgt, wo HistorikerInnen aus einem der zu untersuchenden Staaten ihren eigenen Wissenschaftsbetrieb beschreiben. Denn hier wird die Perspektive in der Regel so stark nationalhistorisch verengt, dass der Blick auf den Wald durch zahllose Bäume versperrt ist. Hinzu kommt in diesen Fällen häufig, dass externe Analysen zur eigenen Geschichtswissenschaft nicht rezipiert werden bzw. aus sprachlichen Gründen nicht rezipiert werden können. Dies trifft mal mehr, mal weniger auf die Beiträge zur Geschichtswissenschaft in Albanien, Montenegro, Rumänien, Serbien und im Kosovo zu.

Ausnahmen von dieser Regel stellen allerdings die Beiträge zu den traditionell bzw. neuerdings international deutlich enger vernetzten Historiografien Kroatiens, Sloweniens und Bulgariens dar. So beschreibt der Zagreber Mediävist Neven Budak eindringlich, wie die im Jugoslawien Titos von der Annales-Schule geprägte kroatische Historikerelite um Mirjana Gross dem neuen politischen Druck nationalistischer Art nach 1991 mit methodischer Neuorientierung begegnete (S. 128-164). Der Historiografiehistoriker Oto Luthar aus Ljubljana behandelt die Bewältigung doppelter Kollaboration der Slowenen – in der Diktatur Hitlers und derjenigen Titos (S. 333-350). Und die beiden Sofijoter Nachwuchshistoriker Daniela Koleva und Ivan Elenkov deuten auf diejenigen Stellen in der Asphaltdecke postkommunistischer Beharrung in der bulgarischen Geschichtswissenschaft, an denen die zarten Pflänzchen methodischer Innovation und neuartige Fragestellungen durchgebrochen sind. Dies sind in ihrer Sicht vor allem historische Anthropologie und ethnologisch orientierte Zeitgeschichtsforschung, aber auch die bereits in den 1970er-Jahren begonnene und Mitte der 1990er-Jahre wieder aufgeflammte Debatte darüber, ob es in Bulgarien so etwas wie Faschismus gegeben habe (S. 94-127).

Von ganz besonderem Interesse ist schließlich Antonis Liakos’ Beitrag über die griechische Geschichtswissenschaft seit dem Ende der Diktatur der Obristen (S. 351-378) – ein Artikel, mit dem sich der Band deutlich von den anderen genannten Publikationen zum Thema abhebt. Denn seiner NATO- und EU-Mitgliedschaft wegen wird der Balkanstaat Griechenland in aller Regel nicht in den Kontext der Wende gestellt. Wie Liakos aber gleich eingangs betont, stellte auch und gerade für die griechische Gesellschaft 1989 insofern eine Wendemarke dar, als im Innern die sozialistische Regierung Andreas Papandreous „in einer Wolke der Korruption kollabierte“ und sich nach außen die Stellung des Landes auf dem Balkan im Zuge der Auflösung des Warschauer Pakts und des Zerfalls Jugoslawiens dramatisch veränderte (S. 351) – mit gravierenden Folgen für die griechische Geschichtswissenschaft. Vor allem die hysterische Reaktion vieler Griechen auf den neuen nördlichen Nachbarn Makedonien kam für Wissenschaftsdisziplinen wie Geschichte, Archäologie und Sprachwissenschaft einem konjunkturellen Senkrechtstart in den politischen Raum hinein gleich.

Nachdem der Staub sich gelegt hatte, wurde indes deutlich, dass sich hinter der vermeintlich einheitlichen nationalistischen Fassade der griechischen Geschichtswissenschaft bereits von 1974 an – seit der Selbstaufgabe der Junta-Diktatur – ein Meinungs- und Methodenpluralismus entwickelt hatte, der zur Entstehung auch nicht-nationalfixierter Strömungen und Teildisziplinen wie der so genannten „griechischen Aufklärungsschule“, einer marxistischen Richtung, einer Annales-inspirierten „Neuen Geschichte“ mit einem Schwerpunkt auf der Mentalitätsforschung, einer international anschlussfähigen Wirtschaftsgeschichtsschreibung, einer modernen Politikgeschichte sowie einer ebensolchen Sozialgeschichte geführt hatte. Auch näherten sich griechische Historiker in den 1990er-Jahren neuralgischen Perioden der Nationalgeschichte wie dem Zweiten Weltkrieg oder dem anschließenden Bürgerkrieg der Jahre 1946–1949. Zugleich wurde erstmals systematisch der Einfluss der griechischen Diaspora auf die Entwicklung des Nationalstaats untersucht, und einer historiografischen Revolution kam die Thematisierung der Anteile der Geschichte nicht-griechisch(sprachig)er Teilgesellschaften Griechenlands gleich, vor allem von Juden, Türken, Albanern, Roma, Aromunen, Bulgaren, Makedoniern und Pomaken. Allerdings differenzierte sich auch der ethnozentrische Mainstream, von dem sich eine als „Neo-Orthodoxie“ bezeichnete anti-westliche Strömung abspaltete, welche zwar an der Nation als Hauptbezugsrahmen festhält, aber den 1830 gegründeten griechischen Nationalstaat als mängelbehaftete Variante westlicher Modellvorstellungen beschreibt.

Gerade Liakos’ Analyse von Genese und Ausprägung der verschiedenen Schulen griechischer Historiografie lässt die südosteuropäischen Parallelen etwa zu Kroatien oder Bulgarien, aber auch zu Rumänien und Serbien deutlich werden. Noch eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem Geschichtsbetrieb in Griechenland und demjenigen in den übrigen Balkanstaaten betont Liakos: Im griechischen Fall kommen die Innovationen in Geschichtsdenken und -schreibung in aller Regel nicht aus den etablierten staatlichen Institutionen, sondern ganz überwiegend von Forschern des Privatgelehrtentypus, aus der staatsfernen Drittmittelforschung sowie aus der Diaspora. Dies ist in den vormals sozialistischen Nachbarstaaten mit ihren weiterhin hypertrophen, aber völlig unterfinanzierten Forschungsbürokratien ganz ähnlich, wie vor allem Koleva und Elenkov für Bulgarien zeigen: Nicht die auf staatlichen Planstelle sitzende ältere Historikergeneration ist es, die Geschichte neu schreibt, sondern es sind fachfremden Berufen nachgehende Außenseiter, staatsferne Nachwuchshistoriker, Emigranten und an historischen Themen arbeitende Journalisten.

„(Re)Writing History“ ist ein substanzieller Beitrag zu der aktuellen Frage, wie im „neuen“ Europa Geschichte geschrieben wird – nämlich ganz überwiegend noch mit der „alten“ Methodologie, die jetzt indes auf neue, häufig zuvor tabuisierte Themenbereiche angewendet wird. Die stärkere Einbeziehung der staatssozialistischen Vorzeit in den einzelnen Beiträgen hätte einige deutlichere Akzentuierungen ergeben, und ein den Band erschließendes Register hätte gemeinsame Bezugspunkte der behandelten Historiografien erkennen lassen (Annales-Schule, komparative Nationalismusforschung, historische Anthropologie u.a.).

Anmerkungen:
1 Siehe Ivanišević, Alojz u.a. (Hgg.), Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, Frankfurt am Main 2003 (rezensiert von Pavel Kolar: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-062), und Altrichter, Helmut (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas (Kolloquien des Historischen Kollegs 61), München (im Erscheinen).
2 Brunnbauer, Ulf (Hg.), History Research Institutes in Southeast Europe. A Handbook, Graz 2004, online unter URL: <http://www.oei.fu-berlin.de/~geku/html/studium/HistResInst_SEE.pdf>.

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