R. Stremmel u.a. (Hg.): Unternehmer der Frühindustrialisierung

Titel
Bergisch-Märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung.


Herausgeber
Stremmel, Ralf; Weise, Jürgen
Reihe
Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien 18
Erschienen
Münster 2003: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
682 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie van de Kerkhof, Institut für Frieden und Demokratie, FernUniversität Hagen

Was ist ein Unternehmer bzw. eine Unternehmerin? Und wie kann man seine bzw. ihre Biografie schreiben? Soll man sie als homo oeconomicus, als homo politicus oder als homo socialis betrachten? Interessieren ihre Funktionen als Manager eines Unternehmens oder ihre Rolle in Politik, Familie und gesellschaftlichem Umfeld? Mit welchen Fragestellungen, Methoden und Ansätzen kann oder soll man also Unternehmergeschichte schreiben? Über diese Fragen streiten Historiker und Wirtschaftswissenschaftler, die die historische Teildisziplin Unternehmensgeschichte betreiben, seit einigen Jahren. 1 Der entscheidende Gegensatz liegt dabei zwischen denen, die den Unternehmer oder die Unternehmerin zunächst in ihrer unternehmerischen Funktion untersuchen und wahrzunehmen trachten und jenen, die sie vor allem in der Rolle als (Wirtschafts-)Bürger, Mäzen und Sozialpolitiker sehen. Eine zweite Frontlinie verläuft zwischen denjenigen UnternehmenshistorikerInnen, die für eine theorie-, konzept- und methodengeleitete Disziplin plädieren, und denjenigen, die eine „klassische“ historische Forschung vorziehen. 2

Zu diesen Positionen bezieht der von Wilfried Reininghaus seit 1995 konzipierte, nun von Ralf Stremmel (Leiter Historisches Archiv Krupp) und Jürgen Weise (Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln) herausgegebene umfangreiche Band über „Bergisch-Märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung“ nicht eindeutig Stellung. Entsprechend der langen Tradition der Reihe wurde den AutorInnen ein (zu) umfassender Fragekatalog vorgelegt, den Jürgen Weise kurz vorstellt. Neben der sozialen und geografischen Herkunft des Unternehmers wurde nach der Sozialisation, der Tätigkeit im Unternehmen und den Arbeitsgewohnheiten gefragt. Es interessierte nicht nur das politische Engagement, die soziale Verankerung in der lokalen oder regionalen Gesellschaft, der Lebensstil und die Bürgerlichkeit. Wichtige Inhalte sollten auch die Unternehmensgeschichte, insbesondere die kaufmännischen und technischen Innovationen, die Märkte, die rechtlichen Rahmenbedingungen, das Verhältnis zu Arbeitnehmern und zur betrieblichen Sozialpolitik, die Finanzierung des Unternehmens, der Erfolg, die unternehmerischen Beziehungen zwischen Berg und Mark sowie den Kunden, Lieferanten und Kapitalgebern darstellen. Diese Fragestellungen, die in keiner Biografie komplett und insgesamt ungleichmäßig behandelt wurden, deuten zwar auf eine Mittlerposition in der skizzierten unternehmenshistorischen Debatte hin. Liest man die einzelnen Biografien aber genauer, wird deutlich, dass der Band seine besonderen Stärken bei den nicht-unternehmensbezogen Funktionen der Porträtierten hat. Dies bedeutet, dass die 23 porträtierten Unternehmer von den fachlich ausgewiesenen AutorInnen aus Wissenschaft, Archiv und Praxis schwerpunktmäßig in ihrer Rolle als Wirtschaftsbürger oder Politiker betrachtet wurden. Unternehmerinnen fanden dabei keinen Eingang in den Band, lediglich eine unternehmerisch tätige Unternehmerwitwe erwähnt Stefan Gorißen im Beitrag über Johan Caspar Harkort IV. Ob Unternehmerinnen hier im Gegensatz zu anderen Regionen wie dem Ruhrgebiet, dem Kölner Raum und Oberschlesien keine Rolle gespielt haben, stellt also ein deutliches, aber im Band unerwähntes Desiderat dar.

In Bezug auf die zweite Diskussionslinie innerhalb der Teildisziplin Unternehmensgeschichte beziehen die Beiträge des Bandes ebenfalls nur implizit Stellung. Die Mehrzahl der Aufsätze ist nämlich nicht theorie- oder methodengeleitet, kaum quantitativ, wenig vergleichend und nur wenig methodisch innovativ gearbeitet. Neuere Diskussionsstränge der Biografie- und Erinnerungsforschung werden ebenfalls nicht aufgegriffen. Gorißen geht in einem seiner beiden Beiträge zwar näher auf den Begriff des sozialen Kapitals von Bourdieu ein, und auch Stremmel erwähnt in seiner konzisen Einführung mit gelungener Einbettung in den Forschungsstand Konzepte wie „Funktionseliten“ und „Netzwerke“. Diese werden für die Biografien aber kaum genutzt. Anstatt neuere kultur-, unternehmens- oder wirtschaftshistorische Ansätze und Fragestellungen einzubeziehen 3, lehnt sich der Band stark an Literatur und Konzepte der Bürgertumsforschung an, seien sie nun aus dem Frankfurter Forschungsprojekt um Lothar Gall oder aus der Bielefelder Schule um Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler. Daher wurden Vorarbeiten quantitativer Art nicht unternommen, stattdessen stützte man sich auf bereits vorhandenes Material. Dass wichtige neue Ergebnisse der regionalen Industrialisierungsforschung, v.a. der Kölner Schule um Toni Pierenkemper, und internationale Debatten kaum erwähnt werden, mag auch der relativ langen Vorbereitungszeitraum geschuldet sein. Dass beim Unternehmerbegriff auf Schumpeter oder andere wirtschaftswissenschaftliche Definitionen verzichtet wird und etwa bei Michael Knieriem (über Johann Caspar Engels II) der Begriff des Grimmschen Wörterbuchs diskutiert wird, erstaunt dagegen.

Alle behandelten Unternehmer waren Frühindustrielle, die die Industrialisierung im bergisch-märkischen Raum entscheidend vorantrieben oder politisch beeinflussten. Die Auswahl erfolgte relativ wahllos, versammelt aber Unternehmer, die zwar strategische Entscheidungen im Unternehmen trafen und eine gesellschaftliche Rolle als Funktionsträger spielten, dennoch in der zweiten Reihe standen und durchweg nur einem regionalen Kreis bekannt waren (S. 14f.). Es wurde auf eine sachlogische Gliederung – etwa nach Fragestellung, Branchen oder nach Subregionen – verzichtet. Dies erschien schon im vorhergehenden Band, der mit den Ingenieuren im Ruhrgebiet eine wesentlich homogenere Berufsgruppe behandelte, nicht recht schlüssig. 4 Ausgewogen behandelt wurden Unternehmer aus beiden Regionen (Berg und Mark) und den verschiedenen Branchen wie Handel, Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Maschinenbau, Textil- und Papierherstellung, weniger aber Sondertypen wie der adelige Unternehmer und der Handwerker-Techniker. Insgesamt kann man wie Stremmel in der Einleitung idealtypisch in drei abfolgende Generationen (Ancien Régime, Wirren und Restauration) und in drei Gruppen (Traditionalisten, Industrialisten und rationale Pragmatiker) unterscheiden. Dabei sollten die Unterschiede stärker im Hinblick auf eine präzise Fragestellung herausgearbeitet werden. Ihr Fehlen erscheint mir als das wesentlichste Manko des Bandes. Sehr positiv fällt dagegen auf, dass alle Beiträge bis auf Beate Battenfeld mit einem knappen Beitrag über Ferdinand Jagenberg und Rudolf Boch, der den Elberfelder Johann Jacob Aders als Wirtschaftsbürger porträtiert, meist umfangreiches neues Quellenmaterial auswerten. Eine umfassendere, profundere Beschreibung der unternehmerischen Tätigkeit als in anderen Beiträgen finden sich bei Horst Conrad (über Levin und Ludwig von Elverfeldt), bei Horst Sassin (über August Schnitzler), Christian Hillen (über Arnold Wilhelm Hardt) und bei Reininghaus’ (über Johann Heinrich Schmidt), dessen Aufsatz zudem chronologisch gut gegliedert ist. Dies gilt auch für seinen zweiten Beitrag über Peter Eberhard Müllensiefen, den er 1997 in der NDB porträtiert hatte, und der stärker sachlogisch strukturiert ist. Der Mitte 2002 verstorbene Historiker Wolfgang Eduard Peres, der postum unterstützt von Jürgen Weise seinen Ahnen Daniel Peres darstellt, und Ulrich S. Soénius (über August Wilhelm Holthaus) bieten ebenfalls gute, teils tiefe Gliederungen und sind kenntnisreich verfasst. Gut lesbare Darstellungen in einem anschaulichen Stil bieten Uwe Eckardt (Carl Hecker-Biografie) und Ralf Rogge (Beitrag über Peter Knecht), die wichtige Fragen der 1848/49er-Revolution ebenso diskutieren wie Eckhard Trox mit dem unternehmerisch äußerst glücklosen Wilhelm Gerhardi. Hier wird nochmals deutlich, dass politische Grundanliegen der Wirtschaftsbürger eine gewichtigere Rolle einnehmen als die unternehmerische Tätigkeit. Auch die Beiträge von Jürgen Weise (über Johann Abraham Henckels und Söhne), Tanja Bessler-Worbs (über Moritz Heilenbeck), Klaus Herdepe (über Heinrich Kamp), Gunnar Teske (über Johann und Peter Brüninghaus), Andreas Berger (über Friedrich Huth), Götz Bettge (über Alexander und Hermann Löbbecke) und schließlich Stremmel (kenntnisreiche Darstellungen von Wilhelm Turck und Wilhelm Funcke), widmen sich detailreich eher der Charakterisierung der Unternehmer und ihrer Rolle als Wirtschaftsbürger als ihrer unternehmerischen Funktionen und Erfolge.

Insgesamt macht der Band deutlich, dass es im Bergisch-Märkischen eine ähnlich evolutionäre Entwicklung in der Frühindustrialisierung gab, wie sie auch in neueren Untersuchungen zur englischen Industrialisierung diskutiert wird. Nur langsam ging man von alten Produktionsformen und -strukturen wie Handwerk, Verlag und Manufaktur zum Fabriksystem über. Dabei erwiesen sich laut Stremmel und anderen die frühindustriellen Unternehmer der Region als „klassische Übergangsmenschen“ (S. 38), bei denen es nicht möglich sei wie Wehler zwischen traditionellem Stadtbürgertum und moderner Bourgeoisie zu unterscheiden. Die weiterhin notwendige Forschung zu diesem Themenfeld erleichtert ein sehr umfassendes Literaturverzeichnis (S. 615-655) und sachbezogene Register zu Personen, Firmen, Institutionen und geografischen Angaben (S. 656-681). Was den Erfolg des Unternehmers ausmacht, welchen ökonomischen Beitrag er zur Frühindustrialisierung in der Region leistete und inwiefern er dabei abhängig war von der Entwicklung der Branche, in der er agierte, wird für diese Region noch genauer geklärt werden müssen. Insofern können alle Beiträge dieses grundlegenden biografischen Sammelbandes in einem Spannungsverhältnis zwischen „Tradition und Innovation“ (S. 7ff.) gesehen werden, denn sie sind für innovative Fragestellungen der Unternehmerforschung ungemein anregend.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel Pierenkemper, Toni, Was kann eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung leisten – und was sollte sie tunlichst vermeiden?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 44, 1 (1999), S. 15-31; Pohl, Manfred, Zwischen Weihrauch und Wissenschaft? Zum Standort der modernen Unternehmensgeschichte. Eine Replik auf Toni Pierenkemper, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 44, 2 (1999), S. 150-163; Pierenkemper, Toni, Sechs Thesen zum gegenwärtigen Stand der deutschen Unternehmensgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 45 (2000), S. 158-166.
2 Vgl. dazu Berghoff, Hartmut, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn 2004; Ders., Art. Business History, in: Smelser, Neil J.; Baltes, Paul B. (Eds.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 2, Oxford 2001, S. 1421-1426; Rasch, Manfred, Von Festschrift und Hagiographie zur theorie- und methodengeleiteten Darstellung. Unternehmens- und Unternehmergeschichtsschreibung der Stahlindustrie im Ruhrgebiet in den letzten hundert Jahren, in: Ferrum 74 (2002), S. 15-48; Pierenkemper, Toni, Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 1), Stuttgart 2000; Plumpe, Werner; Pfister, Ulrich, Plädoyer für eine theoriegestützte Geschichte von Unternehmen und Unternehmern, in: Westfälische Forschungen 50 (2000), S. 1-22.
3 So wird auch Wischermann, Clemens, Frühindustrielle Unternehmensgeschichte in institutionalistischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 453-474 nur in den Anmerkungen erwähnt.
4 Vgl. dazu meine Besprechung von Weber, Wolfhard (Hg.), Ingenieure im Ruhrgebiet, Münster 1999, in: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 52,4 (2000), S. 173f.