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Titel
Schleyer. Eine deutsche Geschichte


Autor(en)
Hachmeister, Lutz
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
447 S., 38 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marica Tolomelli, Dipartimento di Discipline Storiche, Universität Bologna

Im Anschluss an seinen dokumentarischen Film über Hanns Martin Schleyer hat Lutz Hachmeister nun seine Kenntnisse zu dieser ikonenhaften Figur des Deutschen Herbstes vertieft, ausgeweitet und sie in einer biografischen Studie zusammengeführt. Jenseits der karikaturhaften Bilder, die Schleyer insbesondere in den 1970er-Jahren als „Boss der Bosse“, „Chefkapitalisten“ und frühen SS-Mann darstellten, wird endlich der Mensch Schleyer in seinem vollständigen, facettenreichen und widersprüchlichen Werdegang entdeckt.

Das Interesse für Schleyer beruht nicht nur auf den tragischen Geschehnissen seiner Entführung und Ermordung durch die RAF, sondern auch und vor allem auf der Tatsache, dass es sich dabei um eine Person handelt, deren Lebenslauf die zentralen Ereignisse und politischen Entwicklungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts exemplarisch widerspiegelt. Aus diesem Grund wird Schleyers Biografie zugleich als „eine deutsche Geschichte“ im weitesten Sinne des Wortes präsentiert. Die von Hachmeister verfolgte zweigleisige Betrachtungsperspektive erweist sich jedoch teilweise als problematisch, denn sie neigt zu einer Überbetonung der historischen Hintergründe und politischen Konstellationen, in denen sich Schleyer bewegte. Dies hat zur Folge, dass dem Menschen Schleyer in manchen Passagen wieder der Rückfall in denjenigen Hintergrund droht, aus dem ihn Hachmeister holen möchte. Ebenso tragen die biografischen Exkurse, die immer wieder zu Schleyers Kommilitonen, Freunden, Kollegen und Feinden führen, sicherlich nicht dazu bei, Profil und Schwerpunkt der Arbeit hervorzuheben.

Hachmeisters Doppelstrategie, Schleyers Leben zu rekonstruieren und zugleich ein „Stück“ deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts darzustellen, wird auch methodisch untermauert. Angewandt wird der Ansatz einer „verstehenden Biographie neueren Typs“ (S. 27): Hachmeister versucht das Verhältnis zwischen dem Hauptakteur und den ihn umgebenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konstellationen zu berücksichtigen. Dadurch soll auch der Gegensatz zwischen der „konventionellen“, auf Einzelpersonen fixierten Biografie auf der einen Seite und den „abstrakten struktur- und sozialgeschichtlichen Darstellungsweisen“ (S. 24) auf der anderen Seite produktiv überwunden werden. Dass es nicht einfach ist, ein analytisches Gleichgewicht zwischen der Mikroebene des Individuallebens und der Makroebene politischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungen zu erreichen, lässt sich an manchen schwierigen Übergängen dieser Biografie feststellen. Insbesondere im ersten Teil, wo es um Schleyers Leben vor und während des Krieges geht, aber auch in den übrigen Kapiteln verleiht das kontinuierliche Springen zwischen den zwei Ebenen der Studie einen teils fragmentarischen, teils verwirrenden und schwerfälligen Charakter.

Wenngleich die Verknüpfung des biografischen Zugangs mit einem vage formulierten sozialgeschichtlichen Ansatz nicht wirklich überzeugend gelingt, bringt die Studie Präzision und Klarheit zur Person Schleyers und seiner berüchtigten Vergangenheit – und dies nicht nur im Zusammenhang mit seinem politischen und beruflichen Engagement während der NS-Zeit. Auch die Phase der Fortführung seiner Karriere in der Bundesrepublik – nachdem Schleyer die Entnazifizierungsverfahren durch die französischen Behörden nach einer dreijährigen Internierungshaft listig überstanden hatte – wird detailliert und aufschlussreich rekonstruiert. Bezüglich der NS-Zeit können die LeserInnen erfahren, dass Schleyer definitiv nicht – im Gegenteil zu dem, was in den 1970er-Jahren in linken Milieus kursierte – „Heydrichs Beifahrer“ im Protektorat Böhmen und Mähren war, dass seine Rolle im NS-System also eher die eines überzeugten Aktivisten als die eines „Hauptschuldigen“ gewesen war. Was sein Leben nach Gründung der Bundesrepublik anbelangt, fällt hingegen markant auf, wie ungezwungen und unbekümmert er sich an die neue demokratische Ordnung anpasste, wobei er in einem 1973 veröffentlichten Buch über seine sozio-politischen und wirtschaftlichen Auffassungen durchscheinen ließ, wie stark er noch am Korporatismus der 1930er-Jahre festhielt.1

Trotz seiner Begeisterung für Erhards propagandistisches Schlagwort der „formierten Gesellschaft“ und seines „korporatistischen Hangs“ zeigte Schleyer als Personalchef beim Großkonzern Daimler-Benz und Aufsichtsratsvorsitzender von Mercedes-Benz Argentina jedoch eine durchaus klassenkämpferische Verhaltensdisposition. In der Bundesrepublik setzte er sich für eine Linie der harten Konfrontation durch Aussperrung von streikenden Metallarbeitern ein (1963), und im Argentinien der 1970er-Jahre scheute er sich nicht, die Politik der „Ausschaltung subversiver Elemente“ zu unterstützen, welche die putschistische Regierung in Kooperation mit der systemtreuen Automobilgewerkschaft SMATA in den Betrieben (einschließlich Mercedes-Benz) durchführte (S. 260f.). Mit der Darstellung von Schleyers Auffassungen zu den Arbeitsbeziehungen bietet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Problematik der „mentalen Brüche und Kontinuitäten“ (S. 26) der deutschen Gesellschaft im Übergang von der NS-Diktatur zu einem demokratischen System.

Schleyers „deutsche Geschichte“ wird von Hachmeister wie eine deutsche Tragödie in der longue durée dargestellt, als ob in den 1970er-Jahren alte, ungelöste Probleme und unbeglichene Rechnungen zu ihrem „Showdown“ gelangt wären. Der Deutsche Herbst wird aus dieser Perspektive zu einem sozio-politischen Scheideweg der bundesrepublikanischen Geschichte, zu einer Zäsur, die Hachmeister nicht nur und auch nicht in erster Linie auf einen Generationenkonflikt zurückführt, sondern vielmehr auf der Ebene der politischen Kultur (West-)Deutschlands zu erklären versucht. Das grausame Ende von Schleyers Leben kann insofern sicherlich als die Einlösung einer weit zurückliegenden und „heillosen“ Abrechnung interpretiert werden – eine Abrechnung, die bereits kurz nach Schleyers Entführung seitens der außerparlamentarischen Linken als eine allegorische Abwicklung zwischen „Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung“ und einem „früheren Mitglied einer kriminellen Vereinigung“ gedeutet wurde.2

Auf einer tieferen Ebene jedoch, welcher Hachmeister zu Recht eine „historisch spannendere“ Bedeutung zuschreibt (S. 37), werden die Ereignisse des Deutschen Herbstes als die abschließende Phase der Geschichte der „außerstaatlichen Militanz“ im 20. Jahrhundert gedeutet. Diese Geschichte habe ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg und erstrecke sich über die „Freicorps, die radikal-völkischen Studentenverbindungen [...] bis zum späten SDS und zu den terroristischen Gruppierungen der siebziger Jahre“ (S. 37). Wenn man unter dem von Hachmeister wenig präzise formulierten Begriff der „außerstaatlichen Militanz“ nicht einen bloßen Leitfaden „deutscher Kontinuitäten“ versteht3, sondern die politische Konfliktkultur bzw. die institutionell verankerten Formen der sozialen Konfliktaustragung, dann kann man in der interpretatorischen These dieser Studie einen wichtigen und weiterführenden Beitrag für die deutsche Zeitgeschichte erkennen. Denn Hachmeister bietet in der Betrachtung der turbulenten Geschichte der 1970er-Jahre eine innovative Perspektive: Er fordert dazu auf, den Terrorismus von der einschränkenden Hypothek der 68er-Bewegung zu befreien (ohne dabei die Relevanz dieser sozialen Bewegung zu leugnen, S. 352) und ihn nicht bloß als eine ereignisbedingte Entartungsgeschichte, sondern als genuin historisches Phänomen zu begreifen und zu erklären.

Bedauerlicherweise bleibt Hachmeisters These eine anregende Intuition, ohne argumentativ und historisch überzeugend belegt zu werden. Es wird zwar behauptet, dass „der historische Grund des Linksterrorismus in [...] der Verwandlungs- und Kontinuitätszone zwischen der ‚Volksgemeinschaft‘ des ‚Dritten Reiches‘, dem NS-Staatsterrorismus und der nach Westen orientierten Nachkriegsdemokratie“ liege (S. 354). Das Statement wird aber nicht weiter ausgeführt. Dieser Mangel ist allerdings mehr dem verfolgten Anspruch und der angewandten Methode als einer grundsätzlichen analytischen Schwäche der Studie zuzuschreiben. Lutz Hachmeisters hauptsächliches Ziel ist es, das Leben von Hanns Martin Schleyer zu rekonstruieren, und darin bleibt er letztlich auch gefangen.

Anmerkungen:
1 Schleyer, Hanns Martin, Das soziale Modell, Stuttgart 1973.
2 Buchholz, Martin, Die Entführung. Schleyer. Eine deutsche Karriere, in: Berliner Extra Dienst, 9.9.1977, S. 2f., hier S. 3.
3 Kraushaar, Wolfgang, Deutsche Kontinuitäten, in: Die Zeit, 17.6.2004, S. 47.

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