Geschichte des deutschen Buchhandels

Historischen Kommission der Buchhändler-Vereinigung (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1870-1918. Frankfurt am Main 2001 : Buchhändler-Vereinigung, ISBN 3-7657-2351-7 645 S. € 66,00

Historischen Kommission der Buchhändler-Vereinigung (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Teil 2: Das Kaiserreich 1871-1918. Frankfurt am Main 2003 : Buchhändler-Vereinigung, ISBN 3-7657-2647-8 703 S. € 119,90

Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die „Leserevolutionen“ des 18. und 19. Jahrhunderts haben wesentlich beigetragen zur Dynamik deutscher Gesellschafts- und Kulturentwicklung seit der Aufklärung. Es waren Umwälzungen in Lesefähigkeit und Leseverhalten, im Charakter der Lesestoffe sowie ihrer Herstellung und Verbreitung – Umwälzungen, die gleichzeitig Ursachen, Mittler und Indikatoren für Veränderungslinien der deutschen Gesellschaft insgesamt bildeten. Von daher kann das Projekt einer Buchhandelsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, das von der Historischen Kommission des Börsenvereins betrieben wird, mit großer Aufmerksamkeit rechnen. Es soll nämlich nicht die verdienstvolle Überblicksdarstellung von Wittmann 1 ersetzen, sondern die vierbändige Buchhandelsgeschichte von Kapp und Goldfriedrich ablösen, deren vierter und letzter Textband 1913 erschienen ist. Sie wird gleichermaßen Ernst Drahns „Geschichte des deutschen Buch- und Zeitschriftenhandels“ fortführen, die seit 1914 die materialreichste Darstellung zum Kolportagebuchhandel bildet. Teilweise neu aus den Quellen erarbeitet, wird das Gesamtwerk etwa zehn Bände umfassen. Allein dem Kaiserreich sind drei Teilbände gewidmet, von denen die beiden ersten mit rund 1.350 Seiten inzwischen vorliegen und hier zu besprechen sind.

Besprechen muss in diesem Fall vorrangig heißen, einen Überblick über die Architektur des Werks zu geben. Im Zentrum stehen die Verlage (Unternehmen, Verleger, Programme) und die großen Sparten des Buchvertriebs. Der erste Band skizziert wesentliche historische und politische Voraussetzungen; der dritte soll neben weiteren Dimensionen des Buchvertriebs Bibliotheken und Buchverleih, Leser und Autoren behandeln sowie ein synthetisierendes Resümee bieten. Zu den einzelnen Themen wurden ausgewiesene ExpertInnen als Verfasser gewonnen. Die Kapitel über Verlage und ihre Programme hat mehrheitlich Georg Jäger erarbeitet, der auch als Herausgeber das Gesamtprojekt organisiert – eine geradezu herkulische Leistung. Von den rahmenden Aufsätzen abgesehen, halten die einzelnen Abschnitte sich nahe am Gegenstand und verzichten um der Lesbarkeit willen auf explizit theoriebezogene Interpretation. Das Werk will weder in historiografische Paradigmendebatten noch in Deutungskontroversen zum Kaiserreich eingreifen; es soll „Daten und Fakten“ für stärker analytisch angelegte Studien bieten. Konzeptionelle Differenzen und auch Widersprüche zwischen verschiedenen Beiträgen wurden hingenommen; sie beeinträchtigen den Gebrauchswert des Werks als thematische Sammlung von monografischen Studien nicht.

Band 1 eröffnet eine sozial- und kulturhistorisch dichte Skizze der Buchhandelsgeschichte von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung aus der Feder von Monika Estermann und Georg Jäger. Wer mit Blick auf den Börsenverein als Auftraggeber Hagiografie befürchtet, kann beruhigt werden; Nationalisierung und ständisch-konservative Züge des Buchhandels-Selbstverständnisses als normsetzender Bildungsvermittler werden keineswegs ausgeblendet. Die gesellschaftsgeschichtlichen Kontexte des Kaiserreichs fasst Dieter Langewiesche souverän und pointiert zusammen. Wolfram Siemann stellt prägnant die Entwicklung der staatlichen Versuche zur normativen Regulierung des Presse- und Verlagswesens (vulgo: der Zensur) im langen 19. Jahrhundert dar, Martin Vogel das Urheber- und Verlagsrecht. Der rahmende Teil schließt mit Beiträgen zur industriellen Buchproduktionstechnik und zur typografischen Gestaltung aus der Feder von Peter Neumann.

Der erste Schwerpunkt stellt den Verlagsbuchhandel dar: die unterschiedlichen Formen der Verbindung von Druck und Verlag, die Kalkulation, die Rolle des Verlegers und seiner Repräsentation – jeweils veranschaulicht in kleinen monografischen Skizzen zu einzelnen Unternehmen, Unternehmern und ihrem sozialen Umfeld. Den Hauptteil der beiden vorliegenden Bände bildet ein Durchgang durch das Spektrum, die spezifischen Entwicklungen und Probleme der unterschiedlichen Programmbereiche: Borussica; politische und weltanschauliche Verlage (Gangolf Hübinger, Helen Müller); Universal- und Universitätsverlage; wissenschaftliche, medizinische und juristische Verlagshäuser; Sachbuch-, Ratgeber- und Lexikonproduktion; Kartografie; Verlage für Kunst, Architektur und Kunstgewerbe; Musikalien und Schulbuch; Kinder- und Jugendbuch (Ute Dettmar, Hans-Heino Ewers, Ute Liebert, Hans Ries); Belletristik (Monika Estermann, Stephan Füssel).

In all diesen Aufsätzen geht es um weit mehr als Buchprogramme. Verlage und ihre Produktion steigen und fallen mit geistigen Strömungen und Publikumsverschiebungen, sie sind Akteure und Objekte von Literatur-, Meinungs- und Kulturpolitik. Der Ideen-, Mentalitäts- und Kulturhistoriker wird hier nicht nur Daten und Belege, sondern immer wieder Unbekanntes und Anregendes finden. Diesen Teil beschließt Barbara Kastner mit einem zahlengespickten Kapitel zur Statistik und Topografie der Verlagsproduktion und ihrer Veränderung im Kaiserreich.

Die folgenden beiden Hauptteile wenden sich den in vieler Hinsicht dynamischsten Sektoren des Buchhandels zu, die am Engsten verknüpft waren mit dem Wandel zur massendemokratischen kapitalistischen Industriegesellschaft. Das Zeitschriftenwesen und neue Vertriebsformen wie der Kolportage-, Reise- und Verlagsbuchhandel (Mirjam Storim), die Bahnhofsbüchereien (Christine Haug) und die Kaufhäuser machten am offensten sichtbar, dass ein sozial deutlich erweitertes und in seinen Ansprüchen und Lesegewohnheiten tiefgreifend verändertes Publikum die Nachfrage bestimmte. Der Beitrag von Andreas Graf und Ute Pellatz zu den Familien- und Unterhaltungszeitschriften bündelt geradezu die Tendenzen, die alle Sektoren des Buchhandels durchdrangen und veränderten: die Dominanz der Unterhaltungsmotive, den Aufstieg der Bilder, die Spezialisierung der Interessen und die Prominenz der Ratgeberfunktion. Der letzte Themenblock ist dem Zwischenvertrieb gewidmet: Grossobuchhandel, Barsortiment und Kommissionsbuchhandel (Georg Jäger und Thomas Keiderling).

Das Werk steht unter dem konzeptionellen Anspruch, „im Sinne eines Kommunikationsmodells alle Stufen der Produktion, des Handels und des Umgangs mit dem Buch [zu berücksichtigen]: Vom Autor als Schöpfer und Urheber des Textes über den Verlag als Hersteller des gedruckten Buches, die Verbreitung über alle Handelsstufen, die Bibliotheken als Orte des Sammelns, der Erschließung und Entleihung bis zu den eigentlichen Adressaten, den Käufern und Lesern“. Wesentliche Aspekte davon sind im dritten Band noch darzustellen. Da ist es riskant, Proportionen und Akzentuierungen bereits jetzt zu kommentieren – doch der Rezensent wäre der Erste, der sich freut, wenn der ausstehende Band ihn widerlegen sollte.

Rudolf Schenda hat seine klassische Studie zu den populären Lesestoffen des 19. Jahrhunderts nicht nur um der witzigen Anspielung willen „Volk ohne Buch“ genannt. Bereits im 19. und noch mehr im 20. Jahrhundert waren Lesen und der Umgang mit Druckwaren keineswegs identisch mit der Lektüre oder gar dem Kauf und Besitz von Büchern. Im Gegenteil: Unter den Lesestoffen und Lesepraktiken rückte die Buchlektüre eher an den Rand. Dem tragen die vorliegenden Bände durchaus Rechnung. Nicht nur mit der profilierten Einbeziehung von Zeitschriften, Kolportage, Kaufhaus, sondern auch mit Hinweisen auf Bilderbögen, populäre Druckgrafik und Kioskliteratur. Doch bleibt – aus der Perspektive des alltagsorientierten Kulturhistorikers – die Strukturierung von der Zentralität des seriösen, anspruchsvollen Buches her unbefriedigend. So findet man weder im Abschnitt über die protestantischen Verlage noch in dem über die Zeitschriften den 1880 gegründeten Christlichen Zeitschriftenverein, der immerhin 1912 zu seinen Sonntags- und Gemeindeblättern Unterhaltungsbeilagen sowie eigenständige Familien- und Unterhaltungszeitschriften mit einer regelmäßigen Auflage von mindestens 300.000 Exemplaren herausgab. Hinzu kamen Kalender (über 800.000) Stück und ein Angebot von 120 Titeln der Erzähl- und Jugendliteratur – allesamt zu Pfennigpreisen an ein literatur- und bildungsfernes Publikum vertrieben.

Unter den belletristischen Verlagen sucht man vergeblich „Kürschners Bücherschatz“ und weitere preiswerte, meist broschierte Reihen der Unterhaltungs- und Kriminalliteratur 2, die als Vorläufer und später Teil der Heftromanliteratur ein breites, vor allem weibliches Publikum mit Erzählungen und Romanen versorgten. In der einleitenden Skizze wird der „Heftchenroman am Kiosk“ ausdrücklich einbezogen; in den Aufsätzen jedoch bleibt es bei marginalen Erwähnungen der modernen Groschenheftserien und des so genannten „Auchbuchhandels“, der vor allem die unterbürgerliche Leserschaft versorgte.

Siemann spricht von der Entstehung eines relevanten, alle Schichten einbeziehenden Marktes für Erotika nach 1871; nur im Zeitschriftenabschnitt wird das Thema kurz aufgenommen, die einschlägigen Buch- und Bildverlage bleiben im Dunkeln. Ebenso die Anbieter des breiten Spektrums an Humoristika, der massenhaften Witz-, Vortrags- und Coupletsammlungen für den Individualkonsum wie für Familien- und Vereinsfeiern. Die Perspektive des realen Druckwarengebrauchs und die Perspektive der „seriösen“ Buchhandelsgeschichte klaffen leider ein Stück weit auseinander.

Dennoch entsteht hier fraglos ein Standardwerk, von dem viele Disziplinen profitieren. Sein Gebrauchswert wird sich voll entfalten, wenn mit dem dritten Band die (hoffentlich vielseitigen) Register vorliegen. Die tief gestaffelte Gliederung der vorliegenden Inhaltsverzeichnisse ermöglicht aber schon jetzt eine recht gezielte Suche. Die Gestaltung ist leserfreundlich, die Bebilderung eröffnet eine eigenständige Erkenntnisdimension, und der Text ist so fehlerfrei, wie Menschenwerk sein kann; die Korruption der Dehmelschen Sammlung „Der Buntscheck“ zum „Buntspecht“ (Teil 2, S. 123) bildet die Ausnahme zur Regel. Man kann nur hoffen, dass das Gesamtwerk auf dem hier erreichten Niveau möglichst schnell zum Abschluss kommt.

Anmerkungen:
1 Wittmann, Reinhard, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1999.
2 Bloch, Robert N., Kürschners Bücherschatz (1897-1920). Eine Bibliographie. Giessen 1994; Ders., Bibliographie deutscher Unterhaltungs- und Kriminalliteraturreihen (1892-1932), Giessen 1996.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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