M. Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsoz. Wissenschaftspol.

Cover
Titel
Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik.


Autor(en)
Grüttner, Michael
Reihe
Studien zur Wissenschafts- und Universitäts-Geschichte 6
Erschienen
Heidelberg 2004: Synchron Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Institut für Rechtswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Biografische Forschungen zum Nationalsozialismus haben derzeit Konjunktur, da sich hier immer noch eine Forschungslücke auftut, die sich im Wesentlichen aus der langjährigen Verdrängung der NS-Vergangenheit und den Sperrfristen für personenbezogene Unterlagen in den Archiven erklärt. Das hier vorzustellende Lexikon von Michael Grüttner, der seit 2003 als Professor für Neuere Geschichte an der Technische Universität Berlin lehrt, enthält Kurzbiografien zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Das Werk gliedert sich in eine dreieinhalbseitige „Einführung“ (S. 9-12), den biografischen Hauptteil (S. 13-189) und den Anhang (S. 191-214), der Quellen- und Literaturverzeichnis, Abkürzungen, einen Summary in englischer Sprache sowie Informationen über den Autor und die Auskunft gebenden Institutionen umfasst.

In seine Untersuchung hat Grüttner drei verschiedene Personengruppen einbezogen. Die erste Gruppe, die vollständig aufgenommen wurde, umfasst die Rektoren und Leiter der „Dozentenschaften“ der Universitäten und Technischen Hochschulen, die Gaudozentenbundführer und Dozentenbundführer, die Vorsitzenden bzw. Reichsführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes und der Deutschen Studentenschaft seit 1931, die Vorstandsmitglieder des Verbandes Deutscher Hochschulen, die Vertrauensleute der Hochschulkommission der NSDAP, die seit 1934 an den Medizinischen Fakultäten ernannt wurden, und die Präsidenten und Generalsekretäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wurden zudem als zweite Personengruppe berücksichtigt: Die Kultusminister und die wichtigsten Hochschulreferenten der Länder, die einflussreichsten Wissenschaftspolitiker des Reichserziehungsministeriums, die wichtigsten Gaustudenten(bund)führer und Funktionäre des NSD-Dozentenbundes, das Leitungspersonal der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Reichsforschungsrates, ferner die wichtigsten Wissenschaftspolitiker des Amtes Rosenbergs, der SS und des NS-Lehrerbundes. Schließlich wurden, „um den Gebrauchswert des Buches zu erhöhen“, als dritte Personengruppe zusätzlich Wissenschaftler aufgenommen, „wenn sie während der NS-Diktatur an ihrer Hochschule oder innerhalb ihrer Disziplin eine politisch signifikante Rolle gespielt haben“. Einbezogen wurden insbesondere Vertreter der neuen, vom Regime besonders geförderten Fächer (Rassenhygiene etc.), wobei die Auswahl „natürlich bis zu einem gewissen Grade subjektiv“ gewesen sei. Es habe jedoch nicht die Absicht bestanden, „sämtliche Wissenschaftler aufzulisten, die aktive Nationalsozialisten waren“ (S. 10).

Von den benutzten Quellen hebt Grüttner die seit Dezember 1934 angelegte „Kartei aller Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ als besonders ergiebig hervor. Lücken in den Biografien würden vor allem für die unmittelbare Nachkriegszeit und hinsichtlich der Mitgliedschaft in politischen Parteien nach 1945 bestehen. Angestrebt werde mit dem Lexikon, „sich im polykratischen Dschungel nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik besser zurechtzufinden“ und „Grundlagenmaterial“ für weitere Forschungen zu liefern, beispielsweise zum „Problem personeller Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich und vom Dritten Reich zur Bundesrepublik oder zur DDR“ (S. 11).

Die einzelnen Kurzbiografien sind chronologisch strukturiert und enthalten Angaben zu Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Beruf des Vaters, Konfession, Ausbildung, berufliche Laufbahn, Mitgliedschaft in politischen Parteien oder Organisationen und in studentischen Verbindungen, politische Positionen in Staat und Partei, Militärzeit, Todesdatum und Todesort. Das Biogramm schließt mit Hinweisen zu den Quellen. Nicht aufgeführt werden Schriften und Veröffentlichungen der beschriebenen Personen.1 Die Gesamtzahl der in alphabetischer Reihenfolge erfassten Viten beträgt etwa 570. Darunter befinden sich bekannte Persönlichkeiten wie der Rassenforscher Eugen Fischer, der Historiker Walter Frank, der Rassentheoretiker Hans F.K. Günther, der Philosoph Martin Heidegger, der Strafrechtswissenschaftler Eduard Kohlrausch, der Pädagoge Ernst Krieck, der Physiker Max-Planck, der „Zigeunerforscher“ Robert Ritter, Reichserziehungsminister Bernhard Rust, der Arzt Ferdinand Sauerbruch, „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach, der Jurist Carl Schmitt, der Psychiater Carl Schneider, der Philosoph Eduard Spranger und der Rassenhygieniker Otmar Freiherr von Verschuer. Während über diese Prominenten in der Regel leicht zugängliche biografische Literatur vorliegt, mussten Daten von weniger bekannten Wissenschaftlern oft mühsam aus den Archiven, der zeitgenössischen Literatur oder anhand von Einzelanfragen bei verschiedenen Personen oder Institutionen zusammengetragen werden. Hinzuweisen wäre diesbezüglich etwa auf die einzige im Lexikon erwähnte Frau, die nahezu unbekannte Liselotte Machwirth (1910-1937). Machwirth fand Aufnahme im Lexikon, weil sie 1934 bis 1936 Referentin der Reichsarbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen und Hauptamtsleiterin in der Reichsführung der Deutschen Studentenschaft war.

Ohne den Wert der Kurzbiografien grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, erscheinen einige Punkte verbesserungswürdig. In erster Linie ist hier die mangelnde Benutzerfreundlichkeit zu nennen. Der Leser wird mit den biografischen Einträgen allein gelassen, ohne ihm ergänzende Informationen zu liefern. Eine sozialhistorische Auswertung des Materials erfolgt nicht. Wer sich über die Repräsentanten einer wissenschaftlichen Einrichtung oder eines speziellen Faches ein Bild machen möchte, ist gezwungen, das ganze Werk en détail zu studieren. Hier hätten aussagefähige Verzeichnisse, zur Not auch die Angabe der Fachrichtung oder der Institution in der Kopfzeile der Kurzbiografie, eine Orientierungshilfe geben können. Hinweise, welche Bedeutung die einzelnen Personengruppen im NS-Staat hatten und in welcher Zahlenrelation sie zueinander stehen, unterbleiben. Besonders die Frage, wie viele Gelehrte zur nicht näher definierten dritten Gruppe der „weiteren Wissenschaftler“ gehören und nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden, ist für die Einschätzung der NS-Wissenschaftspolitik von Relevanz. Waren es zehn, hundert oder vierhundert, und inwieweit repräsentieren die erfassten Personen die Elite ihrer Disziplinen im Nationalsozialismus? Mit guten Gründen ließe sich die vorliegende Liste erheblich verlängern. Man denke beispielsweise an den Jugendpsychiater Werner Villinger (1887-1961), den Althistoriker Wilhelm Weber (1882-1948), den Rassenforscher Ernst Rüdin (1874-1952) und den Erbstatistiker Siegfried Koller (1908-1998). Angesichts ihrer Ausstrahlung in der Wissenschaft wäre weiter zu fragen, warum Koryphäen wie der Physiker Wernher von Braun (1912-1977), der Biochemiker Adolf Butenandt (1903-1995) oder der Physiker Werner Heisenberg (1901-1976) keine Aufnahme fanden. Nicht berücksichtigt wurde die Akademie für Deutsches Recht, die in zahlreichen Ausschüssen wichtige nationalsozialistische Projekte wie die Schaffung eines „Volksgesetzbuches“ oder die Novellierung des Jugendstrafrechts vorantrieb.2 Aus der Leitung dieser NS-Akademie seien hier die Juristen Hans Frank (1900-1946) und Karl Emge (1886-1970) erwähnt.

Trotz dieser Einwände verdient Grüttners Werk Anerkennung. Dass es ihm gelungen ist, zu einer so großen Zahl von Leitungspersönlichkeiten in der Wissenschaftspolitik des NS-Staates umfangreiche Biogramme zu erstellen, wird jeder zu honorieren wissen, der einen ähnlichen Versuch auch nur in bescheidenen Ansätzen unternommen hat. Eine größere Vollständigkeit der Daten und der einschlägigen Literatur ließe sich wohl nur im interdisziplinären Rahmen verwirklichen.3 Aber auch so wird mancher Forscher, der sich über die Vita einer bestimmten Persönlichkeit zwischen 1933 und 1945 informieren will, in dem Lexikon fündig werden. Man darf gespannt sein, ob es Michael Grüttner gelingen wird, anhand der vorgelegten Sammlung von Kurzbiografien „ein präzises Profil der im Wissenschaftsbetrieb tätigen NS-Aktivisten zu erstellen“ (S. 12).

Anmerkungen:
1 In einigen Kurzbiografien weist Grüttner auf die Benutzung der „Diss.“ hin, leider ohne den jeweiligen Titel in das Literaturverzeichnis aufzunehmen.
2 Vgl. Schubert, Werner, Akademie für Deutsches Recht 1933-1945. Protokolle der Ausschüsse, 15 Bde., Frankfurt am Main 1986-2003.
3 Beispielsweise wäre zum Althistoriker Helmut Berve (S. 22) an Spezialliteratur zu ergänzen: Christ, Karl, Helmut Berve, in: Ders., Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 125-187; Rebenich, Stefan, Alte Geschichte zwischen Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31 (2001), S. 457-496.

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