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Titel
Demokratie, Recht und soziale Kontrolle im klassischen Athen.


Herausgeber
Cohen, David; Müller-Luckner, Elisabeth
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 49
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 205 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

David Cohen hat eine Reihe von Studien vorgelegt, in denen er für eine Überwindung des institutionengeschichtlichen Zugriffs auf das athenische Rechtssystem plädiert, um dessen Einbettung in umfassende Mechanismen der sozialen Kontrolle Rechnung tragen zu können. Bei grundsätzlicher Anerkennung der Fruchtbarkeit dieses Ansatzes ist Kritik vor allem an den weitreichenden Analogieschlüssen aus anderen "mediterranen" Gesellschaften und an der Tendenz, die Gerichtsverfahren sozusagen als Fortsetzung der Fehde mit anderen Mittel verstehen zu wollen, geübt worden.1

In dem Kolloquium, das Cohen 1998 als Stipendiat des Historischen Kollegs in München veranstaltet hatte, sollte, wie er in seiner knappen Einführung schreibt (S. VII-IX), die Bedeutung der sozialen Kontrolle für das Rechtssystem des demokratischen Athens thematisiert werden, das sich durch die Partizipation der Bürgerschaft und ein differenziertes Gerichtssystem bei gleichzeitigem Fehlen von Erzwingungsstäben zur Verfolgung von Delikten und zur Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen auszeichnet.2 Cohen räumt ein, dass es sinnvoll gewesen wäre, dieses Thema auch im Hinblick auf Sklaven und Frauen als Objekten sozialer Kontrolle (die Metöken gehören wohl auch dazu) zu erörtern, dies habe sich aber nicht realisieren lassen.

Um es vorweg zu sagen: Der Band hält nicht, was Vorwort und Titel versprechen. Von den sozialen Mechanismen, die im athenischen Rechtssystem funktionale Äquivalente zur "Polizei" sein könnten, ist keine Rede. Auch die weiter nach dem Vorwort zu erwartende Diskussion über die Angemessenheit der Kategorie "face-to-face-society" (Peter Laslett) auch für Athen (Moses Finley) findet nicht statt. Nach welchen Kriterien die Themen der einzelnen Beiträge sehr unterschiedlichen Umfangs (acht auf Englisch, drei auf Deutsch) gewählt wurden, ist nicht erkennbar. Den Titel des den Band beschließenden Essays von John L. Comaroff (S. 189-205), der einen Teil der vorstehenden Aufsätze in das Konzept der sozialen Kontrolle einordnet (das Jon Elster am Anfang des Bandes, S. 1-13, in seinen Differenzierungen vorstellt), kann man mit etwas Bosheit als Kommentar lesen: "Out of Control" - auch wenn sich der Autor dann bemüht, die kollektive Übung in "conceptual diversity, orientational diversity, theoretical diversity, topical diversity" (S. 191) als Vorzug zu präsentieren.

Aufgenommen ist ein Aufsatz zum heutigen amerikanischen Militärstrafrecht bezüglich Desertion und Feigheit vor dem Feind, in dem William I. Miller gelegentlich Vergleiche mit antiken und mittelalterlichen Äquivalenten einstreut (S. 15-35); ferner eine Abhandlung über Plutarchs Ausführungen in Schriften seiner "Moralia" zum politischen Leben in den Poleis der römischen Kaiserzeit, die Lin Foxhall etwas angestrengt unter Reflexionen zu sozialer Kontrolle zu subsumieren sucht (S. 173-188). Cynthia Patterson erörtert die - zum Teil wohl tatsächlich auf Solon zurückgehenden - Regeln der Bestattung in Athen (S. 93-107).

Gleich drei Beiträge behandeln Religion als mögliches Instrument sozialer Kontrolle, wobei der Schwerpunkt auf Formeln der Verfluchung und Selbstverfluchung liegt. Während Christopher Faraone die Bedeutung von Eid und Verfluchung in athenischen Blutgerichtsfällen und deren Funktion als Einschränkung von Missbrauch feststellt (S. 77-92), bemerkt Henk Versnel, dass das Thema für Athen nur bedingt von Relevanz sei; er wendet sich deshalb ausführlich den Fluchtafeln der hellenistischen Epoche und der Kaiserzeit, vor allem aus Knidos und Lydien, zu (S. 37-76); Gerhard Thür behandelt eine Inschrift aus Mantineia um 460 v.Chr. (S. 109-114). Die politische Theorie wird in den Bemerkungen von Alberto Maffi zur Verbindung von Erziehungsprogramm und Rechtsdurchsetzung in Platons "Nomoi" gestreift (S. 147-153).3

Für Historiker sind zweifellos zwei Beiträge am ergiebigsten, in denen sich theoretische Reflexion und empirische Analyse glücklich verbinden. Bei Karl-Joachim Hölkeskamp ("Nomos, Thesmos und Verwandtes. Vergleichende Überlegungen zur Konzeptualisierung geschriebenen Rechts im klassischen Griechenland", S. 115-146) geht es darum, wie sich zum einen im Begriff des Nomos das andauernde Spannungsverhältnis zwischen umfassenden Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und Normen des gesatzten Rechts widerspiegelt und wie zum anderen die Festlegung des positiven Rechts eine Verschriftlichung inklusive einer "Monumentalisierung" - durch Aufstellung von Inschriften an zentralen öffentlichen Plätzen - erforderte, gerade weil die politische Interaktion generell von Mündlichkeit geprägt war. Jochen Martin ("Formen sozialer Kontrolle im republikanischen Rom", S. 155-172) legt dar, wie in der römischen Republik die "Beziehungskreise für soziale Kontrolle" (Familie, Verwandtschaft, Klientel) sich mit den innerhalb des politischen Systems institutionalisierten Kontrollmechanismen so verbanden, dass die Herrschaft der Nobilität stabilisiert werden konnte. Zu beiden Aufsätzen hätte man sich jeweils ein Pendant mit einer Analyse der entsprechenden, jedoch unterschiedlichen Konstellationen in der jeweils anderen Gesellschaft, Rom bzw. Athen, gewünscht.

Wenn diese Rezension einen überwiegend kritischen Ton anschlägt, so bedeutet dies, wie ausdrücklich betont werden soll, kein Urteil über die Qualität der einzelnen Aufsätze. Es muß aber festgestellt werden, dass der Kolloquiumsband unter einem verheißungsvollen Titel ein Sammelsurium präsentiert. Ein Register, selbst ein Namenregister, das erleichtert hätte, Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen, fehlt; drei Aufsätze (Miller, Faraone, Hölkeskamp) sind erweiterte Fassungen schon an anderer Stelle publizierter Arbeiten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Cohen, D., Theft in Athenian Law, München 1983; Ders., Law, Sexuality, and Society. The Enforcement of Morals in Classical Athens, Cambridge 1991 (vgl. die Rezension von W. Nippel, HZ 259 (1994), S. 446f.); Law, Violence and Community in Classical Athens, Cambridge 1995 (vgl. die Rezension von G. Herman, Gnomon 70, 1998, S. 605-615); ferner verschiedene Aufsätze des Autors, davon besonders programmatisch: Greek Law. Problems and Methods, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt. 106 (1989), S. 81-105.
2 Vgl. Hunter, V. J., Policing Athens. Social control in the Attic lawsuits, 420-320 BC, Princeton 1994.
3 Irritierend ist, dass in diesem auf Deutsch verfassten Beitrag zwei mehrzeilige Platon-Zitate im Original, jedoch in transkribierter Form vorgelegt werden und die beigefügte Übersetzung auf Englisch.

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