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Titel
Platon Werke I 2: Apologie des Sokrates. Übersetzung und Kommentar


Herausgeber
Heitsch, Ernst
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Prozess gegen Sokrates (399 v.Chr.) ist einer der berühmtesten Prozesse der Weltgeschichte. In der neuzeitlichen Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte ist er immer wieder im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die Feldherrn der Arginusenschlacht (406 v.Chr.) diskutiert worden, und oft genug sind beide Verfahren als Ausdruck der Willkürherrschaft des athenischen Demos bezeichnet worden, die in "Justizmorden" gipfelte.1 Seit den christlichen Apologeten des 2. Jahrhunderts 2 ist die Parallele zum Prozess Jesu gezogen worden: Die Verkünder der Wahrheit (die beide keine Schriften hinterlassen hatten, deren Lehre jeweils nur durch das Zeugnis ihrer Jünger tradiert wurde) 3 wurden zum Tode verurteilt.

Gewiss gab es auch abweichende Stimmen. So hat Hegel die Verurteilung des Sokrates für unausweichlich gehalten, weil dieser mit seinem subjektiven Wahrheitsanspruch die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft untergraben habe.4 Nietzsche sah die Gemeinsamkeit der Prozesse gegen Sokrates und Jesus darin, dass "die zwei größten Justizmorde in der Weltgeschichte [...], ohne Umschweife gesprochen, verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde" sind. "In beiden Fällen wollte man sterben; in beiden Fällen liess man sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stossen."5

Eine historische Analyse des Sokrates-Prozesses muss auf verschiedenen Ebenen durchgeführt werden. Zunächst stellt sich das Quellenproblem, ob die "Apologie" Platons als weitgehend authentische Wiedergabe der Verteidigungsrede des Sokrates gelten kann und wie die von ihr abweichenden Angaben bei Xenophon in dessen "Apologie" und vor allem in den "Memorabilien" einzuschätzen sind. Ferner sind die Rechtsgrundlage der Anklage und die Identität der Ankläger zu erörtern. Daran können Überlegungen zur Motivation der Ankläger angeknüpft werden, die aber angesichts des Fehlens der Anklagerede(n) allenfalls aus prosopografischen Indizien bzw. aus allgemeinen Überlegungen zum politischen und religiösen Klima in Athen kurz nach der Wiederherstellung der Demokratie zu erschließen sind. Die Motive der Mehrheit der Geschworenen müssen beim (systembedingten) Fehlen von Beratung und Urteilsbegründung grundsätzlich offen bleiben, was immer Zeitgenossen oder spätere Generationen über die Gründe zu wissen geglaubt haben.

Eine Ausgabe von Platons "Apologie", die nach den Vorgaben der Reihe aus Übersetzung und Stellenkommentar (dazu diversen Appendices, Literaturverzeichnis und Register) besteht, ist nicht das Genre, in dem eine systematische Erörterung dieser Fragen erwartet werden kann. Da es sich bei dem Herausgeber um einen ausgewiesenen Kenner des athenischen Rechtssystems handelt6, lohnt es sich jedoch, seine verstreuten Bemerkungen zu diesen Fragen zusammenzustellen. Heitsch datiert die Entstehung dieser Schrift Platons auf ca. 385 (S. 177ff.). Er glaubt, dass sich Platon bei der Gestaltung der Rede an der methodischen Maxime des Thukydides (1,22,1) orientiert habe, die bekanntlich einen großen Spielraum zwischen wortgetreuer und frei gestalteter Wiedergabe zulässt, von Heitsch hier aber im Sinne der möglichst engen Anlehnung an den "Gesamtsinn des wirklich Gesagten" akzentuiert wird (S. 195). Xenophons "Apologie" hält er für weitgehend abhängig von derjenigen Platons (S. 190), die Passagen zum Sokrates-Prozess in den "Memorabilien" für historisch wertlos, da sie sich auf die spätere, fiktive Anklageschrift des Polykrates 7 beziehen (S. 191f.).

Die Rechtsgrundlage der Anklage 8 lässt sich nicht genau bestimmen. Der von Diopeithes um 432 initiierte Volksbeschluss 9 kommt dafür selbst dann nicht in Frage, wenn er durch die Gesetzesrevision der Jahre 410-399 bestätigt worden sein sollte, da er eine Eisangelie-Klage vorsah (S. 55, Anm. 37). Das Gesetz über die Asebie-Klage lässt sich nur annähernd aus einigen Parallelstellen rekonstruieren (S. 108 mit Anm. 187). Der Vorwurf, sich nicht an die Götter der Polis zu halten, statt dessen neue einführen zu wollen, beziehe sich nicht auf fehlenden "Glauben" oder mangelnde Teilnahme an den Kulthandlungen der Polis, sondern darauf, die "im Kult verehrten Götter [...] provozierend in Zweifel" zu ziehen und "statt ihrer von anderen Göttern" zu reden (S. 108), was Sokrates für den Ankläger mit seinem ständigen Bezug auf das "Daimonion", dessen Stimme er folge, getan habe (S. 109, 129f.). Zur Rechtserheblichkeit des Vorwurfs der Verführung der Jugend lässt sich aus der "Apologie" nichts entnehmen, da Sokrates den Spieß umdreht, indem er durch seine Fragen an den Ankläger dessen Ahnungslosigkeit zum Thema Jugenderziehung demonstriert (S. 104f.). Allerdings legt Sokrates Wert auf den Nachweis, dass diejenigen, die sich um ihn scharen, nicht als seine Schüler gelten dürfen (S. 138ff.).

Die Identität des Hauptanklägers Meletos mit dem Ankläger gegen Andokides, ebenfalls in einem Asebie-Prozess des Jahres 399, ist fraglich; über den Mitkläger Lykon lässt sich nichts ausmachen, im Gegensatz zu dem zweiten Mitkläger Anytos, der ein bekannter Politiker war, nur dass auch er in der "Apologie" kaum eine Rolle spielt (S. 100f.).10 Insofern liefert diese Schrift keine Hinweise auf mögliche politische Motive hinter der Anklage. Die Verteidigung des Sokrates geht auf die vorliegende Anklage nur bedingt ein, da sie sich vor allem ausführlich mit den "ersten Anklägern", das heißt mit der in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten (so in Aristophanes' "Wolken") kursierenden Kritik an seinem Auftreten auseinandersetzt (S. 56). Dies läuft darauf hinaus, dass Sokrates den Geschworenen krasse Voreingenommenheit attestiert (S. 115). Die Rechtfertigung seiner gesamten Lebensführung dient nicht der üblichen Strategie von Angeklagten, die Geschworenen durch Hinweis auf Verdienste um die Polis für sich einzunehmen (S. 41f.), vielmehr wird durch die Hervorhebung des rechtschaffenen Verhaltens sowohl im Arginusenprozess 11 wie unter den "Dreißig" der Unterschied zwischen der Demokratie und dem Terrorsystem von 404/03 bewusst eingeebnet (S. 131ff.). Wenn Sokrates tatsächlich den Geschworenen gesagt hätte, er würde ein Angebot der Freilassung gegen den Verzicht auf öffentliches Philosophieren ablehnen, hätte dies eine weitere Provokation dargestellt, da das Gericht nach der Rechtsordnung ein solches Angebot gar nicht hätte machen können (S. 121ff.).

Bezüglich des Antrags des Sokrates zum Strafmaß stellt sich das grundsätzliche Problem, ob eigentlich ein Verurteilter überhaupt verpflichtet war, einen Strafantrag gegen sich selbst zu stellen, oder ob er nicht darauf verzichten konnte, wie dies Xenophon (Apologie 23) für Sokrates unterstellt (S. 148, Anm. 307).12. Ob Sokrates tatsächlich, wie Platon es darstellt, zunächst für sich die Ehrung einer Speisung im Prytaneion beantragt hat, muss man offen lassen (S. 148). Irritierend bleibt die Erwägung der (lebenslangen) Gefängnisstrafe, da dauerhafte Strafhaft für das athenische Gerichtssystem sonst nicht bezeugt ist (S. 151, Anm. 313). Für historisch hält Heitsch dagegen den Antrag auf eine Geldstrafe in der exorbitanten Höhe von dreißig Minen, für welche die anwesenden Freunde (einschließlich Platon) aufkommen wollen (S. 153).13 Es stellt sich dann, wenn dieser Antrag seriös vorgebracht worden sein sollte, die Frage, wie sich die evidente Verärgerung von achtzig Geschworenen erklärt, die Sokrates zunächst freigesprochen hatten, bei der Entscheidung über das Strafmaß jedoch für die Todesstrafe stimmten.14 Heitsch verwickelt sich hier in einen Widerspruch, weil er diese Reaktion nun doch wieder mit dem vorausgegangenen Vorschlag des Sokrates auf Ehrung erklärt (S. 154 mit Verweis auf S. 148, Anm. 305, 307).15

Dass Sokrates nach der Entscheidung über das Strafmaß noch einmal eine - in der Verfahrensordnung nicht vorgesehene - dritte Rede gehalten hat, kann man in dieser Form ausschließen. Heitsch hält aber für denkbar, dass es einen historischen Kern für Platons Darstellung gegeben haben könnte. Kriton wird sich unmittelbar nach der Urteilsverkündung an den Gerichtsmagistrat mit dem Angebot einer Bürgschaftsstellung gewendet haben, um Sokrates die Gefängnishaft vor der Hinrichtung, die sich aus sakralrechtlichen Gründen verzögerte, zu ersparen. Bei dieser Gelegenheit könnte Sokrates informell noch einige Worte an den Archon bzw. noch anwesende Geschworene gerichtet haben (S. 154ff.).

Wenn man sich auf Platons "Apologie" stützt, bleiben viele Fragen zum Sokrates-Prozess offen. Wie überzeugend Rekonstruktionen sind, die sich auf andere Quellen gründen, ist hier nicht zu erörtern. 16 Evident ist jedenfalls, dass der Sokrates-Prozess auf bestimmte strukturelle Schwächen des athenischen Rechtssystems verweist. Dazu zählt besonders die mangelnde Definition von Straftatbeständen, für die das Delikt der Asebie mit seiner "Unbestimmtheit und Dehnbarkeit" ein besonders augenfälliges Beispiel ist17; ferner das Verfahren, bei Delikten, für die es keine gesetzliche Strafe gibt, in einer weiteren Runde über alternative Strafanträge abzustimmen (was für einen Verurteilten, der sich unschuldig fühlte, die Zumutung bedeutete, dennoch gegen sich selbst eine Strafe beantragen zu müssen) - mit der möglichen Konsequenz, dass Geschworene, die zuvor den Angeklagten freigesprochen hatten, in der zweiten Abstimmung für den Antrag der Anklage votierten (was sich bei geheimer Stimmabgabe nicht ausschließen ließ). Man könnte auch noch das - von Platon hervorgehobene - Problem nennen, dass selbst Prozesse, die mit einem Todesurteil enden konnten, innerhalb nur eines Tages abzuschließen waren.18

Welche Motive im Falle des Sokrates auch immer die Ankläger und die Mehrheit der Geschworenen bestimmt haben mögen19, für einen Verstoß gegen die Verfahrensregeln gibt es keinerlei Anzeichen. "Justizselbstmord" 20 kommt der Sache im Falle Sokrates wohl näher als "Justizmord" im Sinne einer vorsätzlichen Rechtsbeugung.

Anmerkungen:
1 So noch jüngst in zwei Darstellungen, die ansonsten nicht alte Klischees reproduzieren: Funke, P., Athen in klassischer Zeit, München 1999, S. 97; Welwei, K.-W., Das klassische Athen, Darmstadt 1999, S. 256.
2 Vgl. u.a. Harnack, A. von, Sokrates und die alte Kirche, in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 1, Gießen 1904, S. 27-48; Müller, K. W., Schierlingstrank und Kreuzestod. Anmerkungen zu den Prozessen gegen Sokrates und Jesus, Antike und Abendland 32 (1986), S. 66-88; Dassmann, E., Christus und Sokrates. Zur Philosophie und Theologie bei den Kirchenvätern, Jahrbuch für Antike und Christentum 36 (1993), S. 33-45.
3 Insofern folgte auch auf die von Schleiermacher aufgeworfene Frage nach dem historischen Sokrates diejenige nach dem historischen Jesus; vgl. Gründer, K., Sokrates im 19. Jahrhundert, in: Fromm, H. u.a. (Hgg.), Verbum et Signum I: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, München 1975, S. 539-554.
4 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 2. Teil, 2. Abschnitt, 3. Kapitel (Hegel, G. W. F., Werke, Bd. 12, Frankfurt 1986, S. 329f.)
5 Menschliches, Allzumenschliches II. 1. 94 (Nietzsche, F., Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 2, ND München 1999, S. 414).
6 Vgl. u.a. Heitsch, E., Antiphon aus Rhamnus (Akademie d. Wiss. u. d. Lit. Mainz, Abh. d. Geistes- u. Sozialwiss. Kl., 1984, 3), Mainz 1984; Ders., Der Archon Basileus und die attischen Gerichtshöfe für Tötungsdelikte, in: Thür, G. (Hg.), Symposion 1985. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, Köln 1989, S. 71-87.
7 Zur Rekonstruktion dieser Schrift vgl. Chroust, A.-H., Socrates, Man and Myth. The two Socratic apologies of Xenophon, London 1957, S. 69-100.
8 Diogenes Laertios 2,40.
9 Plutarch, Perikles 32,1.
10 Zu den Regeln über die Aufteilung von Anklage und Verteidigung auf mehrere Sprecher vgl. allgemein Rubinstein, L., Litigation and Cooperation. Supporting Speakers in the Courts of Classical Athens, Stuttgart 2000.
11 Heitsch (S. 134) folgt einer vereinfachenden Lesart des Arginusen-Prozesses, die den komplizierten Verfahrensfragen (vgl. Bleckmann, B., Athens Weg in die Niederlage, Stuttgart 1998, S. 558ff.) schwerlich gerecht wird.
12 Vgl. Brickhouse, Th. C.; Smith, N. D., Socrates' Proposed Penalty in Plato's Apology, Archiv für Geschichte der Philosophie 64 (1982), S. 1-18, hier S. 5.
13 Nach Xenophon (Oikonomikos) 2,3 soll Sokrates ein Vermögen im Wert von fünf Minen gehabt haben.
14 Diogenes Laertios 2, 41f. Dort wird allerdings ein Antrag des Sokrates auf eine niedrige Geldstrafe vorausgesetzt.
15 Die Tradition, dass in der Forderung nach Ehrung die entscheidende Provokation lag, findet sich schon bei Cicero, de oratore 1, 231f.
16 Um eine primär politische Motivation für Anklage und Verurteilung rekonstruieren zu können, muss man erstens unterstellen, dass es sich bei dem von Xenophon in den "Memorabilien" (1,1,1ff.; 1,2,9ff.) genannten Ankläger, der die Kritik des Sokrates an der Demokratie und seine Nähe zu Personen wie Kritias und Alkibiades anführt, um eine historische Figur, also wohl Anytos, und nicht um eine literarische Fiktion des Polykrates handelt; und zweitens, dass auf die politischen Vorwürfe nicht von Sokrates selbst, wohl aber von den ihn unterstützenden Rednern (nach Xenophon, Apologie 22) repliziert worden ist. Darauf basiert die Deutung von Hansen, M. H., The Trial of Sokrates - from the Athenian point of view, Kopenhagen 1995; Ders., The Trial of Sokrates - from my point of view, in: Noctes Atticae. 34 Articles on Graeco-Roman Antiquity and its Nachleben. Studies presented to Jørgen Mejer, Copenhagen 2002, S. 150-158.
17 Thalheim, Th., Art. "Asebeias graphe", RE II, 2 (1896), 1529; vgl. ferner u.a. Finley, M. I., Socrates and Athens, in: Ders., Aspects of Antiquity, Harmondsworth 1977, S. 60-73; Cohen, D., The Prosecution of Impiety in Athenian Law, Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Rom. Abt. 105 (1988), S. 695-701.
18 Platon, Apologie 37a-b in Verbindung mit dem Entwurf einer eigenen Gerichtsordnung, Nomoi 856a.
19 Eine spezifische Sensibilität in religiösen Fragen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Krisenerfahrung wird angenommen u.a. bei Connor, W. R., The Other 399. Religion and the trial of Socrates, in: Georgica. Greek Studies in honour of George Cawkwell, London 1991, S. 49-56; Wolpert, A., Remembering Defeat. Civil war and civic memory in ancient Athens, Baltimore 2002, S. 62ff.
20 Rüstow, A., Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. 2, Erlenbach 1952, S. 133; vgl. die oben im Text zitierte Formulierung von Nietzsche.

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