Cover
Titel
Das Kuriositätenkabinett.


Autor(en)
Mauries, Patrick
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Laube, Berlin

Was haben bizarre Korallen, Muscheln und Fossilien, riesige Straußeneier und Walfischknochen, filigrane Elfenbeinschnitzereien und Wissenschaftsinstrumente, skurrile Wachsporträts und Totenmasken, anatomische Präparate und getrocknete Pflanzen, Gemälde, antike Skulpturen und Automaten gemeinsam? Kaum etwas für denjenigen, der nur analytisch zu denken versteht, der sich ausgestelltes Wissen nur geordnet, auf verschiedene Spezialmuseen verteilt, vorstellen kann; viel hingegen für denjenigen, der sich überraschenden Erkenntnisformen, dem Vergleich des anscheinend nicht Zusammengehörigen aussetzt, dessen Auge im Stande ist, im Sammelsurium der Dinge aus den verschiedensten Gattungen ein virtuoses Spiel der Formen und Analogien zu veranstalten. Wenn der Gesichtssinn eines Wunderkammerbesuchers geübt war, wenn ihm die von Nikolaus von Kues so bezeichnete „vis assimilativa“ innewohnte, dann erkannte er Affinitäten zwischen Dingen unterschiedlichster Form; dann war es ihm möglich, die allen Objekten zugrunde liegende Einheit, wenn nicht zu erkennen so doch mindestens zu erspüren. Besonders geeignet waren Hybriden oder Mischwesen, die die üblichen Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur überschritten, wie Steine in Ruinenform oder Nautilusmuscheln auf Goldschmiedemontagen.

Zum Geheimnisvollen der Rezeptionsgeschichte von Kunst- und Wunderkammern gehört ihr regelmäßig wiederkehrendes Ausbleiben jeglicher Wirkung. Anscheinend wollen Kuriositätenkabinette vergessen sein, damit sie wie im Märchen wiedererweckt werden können. Erst eine 1909 entstandene Fotografie des Sammlungsraums im obersten Stockwerk des Francke´schen Waisenhauses in Halle machte die Museumswelt mit der Kunst- und Naturalienkammer der Pietisten wieder vertraut. Schon ein Jahr zuvor hatte Julius von Schlosser mit seiner Abhandlung „Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance“ die Einseitigkeit seiner auf Spezialisierung, Arbeitsteilung und Entzauberung setzenden Kollegen konterkariert. Aber diese Freilegung von Wundern der Schaulust war spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zugeschüttet, als Nüchternheit, Technik und Fortschrittsgeist die Wissenschaftskultur beseelte. Erst mit den Zweifeln an diesen Paradigmen rückten auch wieder die Kunst- und Wunderkammern in das Blickfeld der Forschung und damit die Sehnsucht, symbolische, magisch besetzte Denkformen, Analogien zwischen Kultur und Natur, Leben und Tod zu verstehen. Diese erneute, weltweit immer noch anhaltende Renaissance hatte in Italien und in Großbritannien schon in den 1980er-Jahren begonnen.1

Geschrieben, d.h. in Buchstaben übersetzt ist inzwischen viel, weniger allerdings bildhaft vermittelt worden. Eine Reihe von überaus verdienstvollen Studien schwächeln, wenn es um Quantität und Qualität ihrer Abbildungen geht, ein nicht unerhebliches Manko, da es doch in Wunderkammern um die Sichtbarkeit einer „Welt en miniature“ geht.2 Es ist daher sehr zu begrüßen, dass der Pariser Kunstjournalist Patrick Mauriès entschlossen auf die Aussagekraft des Bildes gesetzt hat, während sein im Übrigen informativ-kluger, subtil-ausgewogener Text dezent in den Hintergrund tritt. Zahlreiche sonst versteckte Details erscheinen jetzt auf scharfen, überwiegend vergrößerten Abbildungen in aller Deutlichkeit, ob es nun um eine von Wenzel Jamnitzer um 1550 angefertigte, sich in einen Lorbeerbaum verwandelnde Daphne geht, deren Arme in Korallenfigurationen enden, oder um eine in einen Ministrauß verwandelte unregelmäßige Perle. Fast scheint es so, dass die Kuriosa auf den großformatigen, zum Teil ausklappbaren Abbildungen besser zu identifizieren sind, als wenn man leibhaftig vor ihnen stände. Mauriès schafft mit seinem Buch, wo sich zwischen zwei Buchdeckeln auf 250 Seiten wenn nicht das gesamte Universum, so doch die zentralen Eigenschaften frühneuzeitlicher Sammlungen entfalten, geradezu das bibliophile Pendant einer Wunderkammer.

Der Autor spannt einen weiten Bogen, von enzyklopädisch angelegten Kunstkammern fürstlicher Sammler und Alchemisten, die sich anscheinend wahllos alles einverleibten, was denkwürdig sein konnte, über Gelehrte der Aufklärung mit ihren Kabinetten, wo schon frühzeitig der Universität und Akademie entsprechend eine wissenschaftliche Spezialisierung Raum griff bis zu den Experimenten der Dadaisten und Surrealisten des 20. Jahrhunderts bzw. den Assemblages zeitgenössischer Künstler.

Mauriès erwähnt die wichtigsten Kunstkammern zwischen Neapel und Kopenhagen, Oxford und Prag: die Habsburger Wunderkammern von Erzherzog Ferdinand II. in Ambrass oder von Kaiser Rudolf II. auf dem Hradschin, die Naturalienkabinette der Ärzte und Apotheker Ferrante Imperato, Francesco Calzolari, Basilius Besler oder des Universalgelehrten Ulisse Aldorvandi. Auch die englischen kulturgeschichtlichen Sammlungen im neogotischen Ambiente, wie z.B. Horace Walpoles Strawberry Hill in Twickenham oder Samuel Rush Meyricks Goodrich Court, die statt Klassifizierung und Erklärung wieder Geheimnis und Rätsel in den Vordergrund stellen, fehlen nicht. Mauriès skizziert auch die Sammler, meist melancholische Naturen oder Grübler, die sich mit einer Wunderkammer ein traumhaftes Refugium schufen, wo sie als „senex puerilis“ die Dinge wie ein Kind bewundern konnten.

Wunderkammern präsentieren eine Welt von gestern. Eine Rekonstruktion ist in den allermeisten Fällen unmöglich, da fast alle Sammlungen aufgelöst wurden, viele Dinge verloren gingen und bestenfalls in Spezialmuseen gewandert sind. Nur auf Kupferstichen – meist repräsentativ auf dem Frontispiz von zeitgenössischen Abhandlungen abgedruckt - bekommt man noch einen Eindruck von den einzigartigen Arrangements.3 Deutlich sieht man Rahmen, Schachteln, Nischen, Schubladen und Vitrinen, die in ihren aufeinander abgestimmten Konstellationen Symmetrien und Hierarchien erkennen lassen.

Es galt, durch Sammlungen die Schöpfung in all ihren Facetten zu erhöhen, um so die verborgene Einheit des Universums zu enthüllen. Mauriès zitiert den englischen Religionsphilosophen Thomas Browne (1605-1682), für den die Welt eine einzige große Metapher war, ein immenses Geflecht aus Analogien. Die ganze Welt sei ein Reliquienschrein Gottes und alles, was wir darin erblicken, sei ein Objekt der Weisheit, Allmacht und Güte Gottes. Gerne hätte man in diesem Kontext mehr erfahren, über Parallelen und Unterschiede zwischen mittelalterlichen Reliquiensammlungen und Wunderkammern der Renaissance bzw. des Barock.

Auch glänzt der Prachtband von Mauriès nicht gerade mit fundierten Auseinandersetzungen zur Wissenschaftsgeschichte. Dafür ist allein schon die Literaturliste zu dürftig, der Anmerkungsapparat zu schlicht, das Register zu lückenhaft, so dass es vielleicht besser gewesen wäre, ganz auf diese Usancen des wissenschaftlichen Betriebs zu verzichten. Auch verfolgt sein Buch keine übergreifende Fragestellung, wie z.B. zum Beziehungsgefüge zwischen spezifischen Wissenskulturen und bestimmten Formen des Sammelns. Dafür geizt das protomuseale Potpourri nicht mit anregende Thesen. Deutlich wird, wie sehr die klassifizierende Aufklärung der Kunst- und Wunderkammer-Idee entgegenstand, wie sich in „studiolos“ und „cabinets“ bis Ende des 17. Jahrhunderts eine allegorische Sicht der Welt spiegelte, eine Totalität der Wirklichkeit im Gewand einer vagen Offenbarung, der man ganz nahe zu sein glaubte, sobald der Sammler nur seine Dinge genau und leidenschaftlich betrachtete. Vielleicht ist das der Grund, warum die Lust ungebrochen ist, diesen Bildband immer wieder aufzuschlagen.

Anmerkungen:
1 Siehe Lugli, Adalgisa, Naturalia et Miribalia. Il collezionismo enciclopedico nelle Wunderkammern d´Europa, Milano 1983; Impey, Oliver; MacGregor, Arthur (Hgg.), The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and Seventeenth - Century Europe, Oxford 1985.
2 Bredekamp, Horst, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993; Grote, Andreas (Hg.), Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994.
3 Auch die sich als einziges bis heute bestehendes Original verstehende Kunst- und Naturalienkammer von Halle basiert auf Ordnungsvorstellungen, die mit denen des Barock nicht mehr viel gemein haben. Zwischen 1734 und 1741, im aufgeklärten Zeitalter der „Encyclopédie“ Diderots also, die paradoxerweise das Ende des weltumfassenden enzyklopädischen Sammelns einläuten sollte, katalogisierte Gottfried August Gründler diese Sammlung und ordnete sie in die Schränke ein.

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