E. Courtney: The fragmentary Latin poets

Cover
Titel
The Fragmentary Latin Poets. Edited with Commentary. Revised Edition


Herausgeber
Courtney, Edward
Erschienen
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
$49.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kruschwitz, Corpus Inscriptionum Latinarum, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die überwiegende Mehrzahl der literarischen Texte des römischen Altertums ist entweder gar nicht oder aber nur mehr oder weniger stark fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen.1 Es ist folglich eine wichtige Aufgabe der lateinischen Philologie, die Fragmente zu sammeln, gegebenenfalls den ursprünglichen Autoren und Werken zuzuweisen sowie - im besten Fall, wenn der gesicherte Textbestand dies zulässt - auf der Grundlage der Fragmente interpretierend ein Bild von Autor und Werk zu rekonstruieren. In der Geschichte der Latinistik hat es sich so eingebürgert, dass die Fragmente der dramatischen Poesie (untergliedert nach Tragiker- und Komikerfragmenten) von denen epischer und lyrischer Poesie gesondert gesammelt werden.

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sind in nur kurzem Abstand zwei umfangreiche Sammlungen erschienen, die sich um die Fragmente der letztgenannten Kategorie der Epiker und Lyriker verdient machten: Edward Courtneys The Fragmentary Latin Poets (FLP, Oxford 1993) und die von Jürgen Blänsdorf besorgte Neubearbeitung von Willy Morels und Karl Büchners Fragmenta Poetarum Latinorum (FPL, Stuttgart 1995). Blänsdorf beschränkt sich in FPL im Wesentlichen auf eine reine Textedition sowie bibliografische Nachweise, denen er allenfalls knappe kritische Hinweise sowie Angaben zu den Dichterpersönlichkeiten hinzufügt; dafür bemüht er sich um eine möglichst vollständige Erfassung aller Fragmente der lateinischen Poesie. Demgegenüber verfolgte Courtney in FLP eine restriktivere Politik, indem er etwa allzu unaussagekräftige Fragmente ausschließt oder auch die Saturnier des 3. und 2. Jahrhunderts v.Chr. nicht berücksichtigt; dafür bietet er aber zu allen Texten, die er aufnimmt, einen umfassenden Kommentar.2 Nach zehn Jahren ist nun eine - um einen Anhang mit Korrekturen und Nachträgen erweiterte - zweite Auflage von Courtneys FLP erschienen, die es hier vorzustellen gilt.

Chronologisch umfassen die Texte in den FLP den Zeitraum von Ennius bis Hilarius, also vom 2. Jahrhundert v.Chr. bis zum 5. Jahrhundert n.Chr. Fragmentarisch überlieferte kleinere Dichtwerke bedeutender literarischer Persönlichkeiten wie Ennius, Accius, M. und Q. Cicero, Varro, Caesar, Gallus, Ovid und Plinius sind hierin ebenso eingeschlossen wie etwa die Fragmente der Präneoteriker und Neoteriker. Auch manch literarischer Versuch bedeutender Staatsmänner wie Octavian (der ein bemerkenswert indezentes Stück Dichtung hinterlassen hat), Nero, Hadrian und Gallien ist aufgenommen (um Cicero und Caesar hier nicht noch einmal zu nennen). Schließlich finden sich allerlei hübsche Kleinodien; herausgehoben seien nur die wenigen Verse aus der Feder des Maecenas, die ein nur allzu häufig unbeachtetes Pendent zu den Maecenasgedichten des Horaz bilden.

Die erste Auflage der FLP ist von der Kritik mit unterschiedlichem Echo aufgenommen worden: Ein Teil der Rezensenten verfasste nachgerade hymnische Würdigungen dieses in der Tat überaus nützlichen Werkes; ein anderer Teil äußerte inhaltliche Kritik und auch methodische Bedenken. Im Umgang mit der Kritik wurde ein sehr sympathisches Verfahren gewählt: Ausschnitte aus den positiven Rezensionen sind zur Werbung auf dem Buchrücken abgedruckt; die kritischen Rezensionen werden am Beginn der Nachträge bibliografisch nachgewiesen, diverse Hinweise aus ihnen im Rahmen der Addenda erörtert.

Es wäre müßig, hier - wie es bisweilen in Rezensionen zur ersten Auflage geschah - erneut über Sinn und Unsinn von eklektischen Fragmentausgaben zu diskutieren: Jeder kennt den immensen Nutzen solcher Bücher (zumal wenn sie auf dem Niveau wie das hier vorliegende verfasst sind), und das Lamentieren ist eher Ausdruck des Gefühls, dass etwas vermisst wird, als wirkliches Notieren von Versagen. Das für die zweite Auflage gewählte Verfahren der Reproduktion unter Beifügung eines Anhangs hat den durchaus angenehmen Vorteil, dass die in vielen Aufsätzen und Büchern bereits erfolgte Zitation der FLP nicht hinfällig geworden ist. Es gestaltet aber zugleich die Lektüre mühselig, da stets zu überprüfen ist, ob zur jeweiligen Passage Nachträge gegeben wurden. Auch konnten einige editorische Fehlentscheidungen durch die gewählte Form der Neuausgabe nicht korrigiert werden. Nur zwei seien hervorgehoben - eine vielleicht weniger bedeutende Formalie und eine allerdings bedenkliche inhaltliche Notiz3: (I) Das gewählte Druckbild lässt die Text- und Kommentarteile - zumindest für das Empfinden des Rezensenten - nicht immer hinreichend deutlich hervortreten; es ist nicht selten reichlich mühselig, sich innerhalb der einzelnen Abschnitte zu orientieren. (II) Eine in der Tat vom methodischen Standpunkt her nicht akzeptable Fehlentscheidung war (und bleibt somit) der Einschluss der pompejanischen Tiburtinus-Inschrift(en), die unbedingt in die Musa lapidaria gehört hätte.4 Ihre inhaltlich-sprachliche Nähe zu den Präneoterikern rechtfertigt die formale Einordnung keineswegs. Ebenso hätte Courtney sonst auch reale Grabgedichte zu den Epitaphs of the Poets stellen oder aber diese Texte umgekehrt in die Musa lapidaria aufnehmen können.

Die Kommentare sind durchweg gediegen und regen stets auch dort, wo man ihnen nicht folgen mag, zum Nachdenken an. Es sei hier darauf verzichtet, Beispiele dafür anzuführen, wo der Rezensent im Detail zu anderen Auffassungen gelangt (auch wenn es derer nicht wenige gibt). Nicht überzeugend ist die Auswertung der Sekundärliteratur. Auch dies braucht hier nicht umfassend dokumentiert zu werden, sei aber zumindest an drei ausgewählten Beispielen gezeigt: (I) Zu den Hedyphagetica des Ennius (in FLP S. 22-25, 501), einem parodistischen Lehrgedicht über Delikatessen, findet sich kein Hinweis auf die umfangreichen und ausführlich kommentierten Editionen von Apuleius' Apologia (worin der Text tradiert ist) von V. Hunink (Amsterdam 1997) und J. Hammerstaedt (Hg., Darmstadt 2002), worin insbesondere die Identifikation der zahlreichen Fischsorten versucht wird. Auch die vom Rezensenten vorgelegte Textrekonstruktion wird nur punktuell - und dort unsachlich, nämlich unter Auslassung des entscheidenden Arguments - herangezogen. (II) Zum oben bereits genannten Ensemble der pompejanischen Tiburtinus-Inschriften (in FLP S. 79-81, 506) erwähnt Courtney die Arbeiten von V. Tandoi und A. M. Morelli. Hinweise auf die wichtigen Monografien von M. Massaro zur republikanischen epigrafischen Poesie (Bari 1992) und insbesondere von P. Cugusi zu den literarischen Aspekten der metrischen Inschriften (2. Aufl., Bologna 1996) wären jedoch unerlässlich gewesen. (III) Auch zu den von Gellius überlieferten Epitaphs of the Poets (in FLP S. 47-50, 503-504), einer Sammlung angeblicher Grabgedichte für die frühen Dramatiker Naevius, Plautus und Pacuvius, wäre ein Hinweis auf Massaros Buch zweckmäßig gewesen, zudem hat sich der italienische Gelehrte mit dem Grabgedicht des Pacuvius noch ausführlicher in einem Aufsatz von 1998 auseinandergesetzt.5 Hier hätte der Leser immerhin eine umfassende und sorgfältige Diskussion zum Grabgedicht des Pacuvius im Verhältnis zu realen Grabinschriften der Zeit finden können. Eine ganze Reihe weiterer Beispiele ließen sich finden, die angeführten Fälle mögen als Belege für die vorgenommene Einschätzung jedoch ausreichen. Leider bleibt allzu oft unklar, ob die Literatur absichtlich oder aber nur aufgrund von Nachlässigkeit nicht berücksichtigt wurde. Die bisweilen unbefriedigende Auswertung der erfassten Literatur legt letzteres nahe.

Während in Rezensionen eher das Fehlen von Indizes beklagt zu werden pflegt, ist hier der Ort, explizit das Gegenteil zu tun: Bereits die erste Auflage war mit einem herausragenden umfassenden Index ausgestattet. Es ist in höchstem Maße lobenswert, dass auch der Addendateil mit derselben Sorgfalt indiziert wurde. Mit Nachdruck zu rügen ist jedoch, dass sich in der verbesserten Neuauflage keine Konkordanz zu Blänsdorfs FPL findet, während deren vorangehende Auflagen von Morel und Büchner sehr wohl in Konkordanzen dokumentiert wurden.

Fazit: Jedem, der sich wissenschaftlich mit lateinischer Poesie befasst, vermögen Courtneys FLP herausragende Dienste zu erweisen. Die Souveränität, mit der der Autor über die enorme Bandbreite verschiedener Autoren und Texte urteilt, ist staunenswert und sucht ihresgleichen. Auch die in den Addenda an vielen Stellen erkennbare Fähigkeit zur selbstkritischen Revision früherer Urteile demonstriert Größe. Dennoch darf das Urteil angesichts der angeführten Punkte nicht vollends versöhnlich ausfallen: Es wäre wünschenswert, dass eine dritte Auflage, die dem Werk hoffentlich beschieden sein wird, einige grundlegende Veränderungen in der Anlage sowie eine gründlichere Dokumentation der Sekundärliteratur aufweist, um den ohnehin schon hohen Nutzen noch zu steigern.

Anmerkungen:
1 Unter 'fragmentarisch' sei zweckmäßigerweise mit Courtney (S. VII) verstanden: "The strictest definition of a fragment is that it is a quotation from a work which we go not possess in a continous manuscript text. A wider definition would also include works of which we have a manuscript portion in mutilated form."
2 Der Vollständigkeit halber sei nebenbei erwähnt, dass sich Courtney durchaus nicht nur mit den FLP auf das steinige Gelände der Erklärung fragmentarischer Texte begeben hat: Vergleichbares hat er insbesondere mit seiner Musa lapidaria (Atlanta 1995) für eine Auswahl von metrischen Inschriften sowie mit Archaic Latin Prose (Atlanta 1999) für die archaische lateinische Prosa geleistet.
3 Vielleicht wäre es auch nicht abwegig gewesen, Übersetzungen beizufügen, wie etwa in der Musa lapidaria geschehen?
4 Vgl. Anm. 2.
5 Massaro, M., Gli epigrammi per L. Maecius Pilotimus e A. Granius Stabilio (CIL, I², 1209 e 1210), Epigraphica 60 (1998), S. 183-206.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension