A. Rödder: Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990

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Titel
Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990.


Autor(en)
Rödder, Andreas
Reihe
Oldenbourg Grundriss der Geschichte 19a
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 39,80 (geb.), € 24,80 (Paperback)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Süß, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Während die „langen 1960er-Jahre“ der Bundesrepublik seit einiger Zeit intensiv erforscht werden1, haben die 1970er und 1980er-Jahre bislang nur wenig eigenständiges historiografisches Profil gewinnen können. Andreas Rödder kann daher für seinen neuen „Grundrisse“-Band, der den Zeitraum vom Beginn der Sozialliberalen Koalition bis zur Deutschen Einheit umspannt, mit einiger Aufmerksamkeit rechnen. Er knüpft an Rudolf Morseys Darstellung in der gleichen Reihe an, die die Zeit bis zum Ende der Großen Koalition erschließt, so dass die Geschichte der „Bonner Republik“ nun erstmals umfassend behandelt wird.

Der Darstellungsteil umfasst rund 100 Seiten. Synthesen auf derart knappem Raum zwingen Autoren zu rigorosen Auswahlentscheidungen, die bei einigen Bänden der Reihe zu einer starken Konzentration auf die Politikgeschichte geführt haben. Rödder hat dieser Versuchung in erfreulicher Weise widerstanden. Drei entlang der Regierungszeiten Willy Brandts („Modernisierungseuphorie“ 1969–1973), Helmut Schmidts („Krisenmanagement“ 1974–1982) und Helmut Kohls („Neuorientierung und Kontinuität“ 1982–1989) gegliederten Kapiteln zur politischen Geschichte der „alten“ Bundesrepublik und einem Abschnitt zur Vereinigung 1989/90 hat Rödder Ausführungen über „Allgemeine Tendenzen“ der Epoche vorangestellt, die etwa ein Drittel des Darstellungsteils ausmachen. Dort entwirft er eine konzise Skizze der ökonomischen, technologischen, sozialstrukturellen und soziokulturellen Entwicklung. Damit trägt der Autor dem Trend zur methodischen und thematischen Pluralisierung der Zeitgeschichte Rechnung und setzt gleichzeitig einen eigenen Akzent. Viele Grundfragen der bundesdeutschen Geschichte sind eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung verkoppelt. Daher überzeugt es, dass Rödder ökonomischen und sozialpolitischen Fragen mehr Gewicht einräumt, als vergleichbare Darstellungen dies bisher getan haben.

Die Bedeutung der 1970er-Jahre als „wirtschaftsgeschichtlicher Zeitenwende“2 tritt deutlich hervor. Dadurch, dass die Freigabe des Dollarkurses die Unterbewertung der D-Mark auf den Exportmärkten beseitigte und sich der Preis des wichtigsten Energieträgers durch den Ölboykott der arabischen Staaten innerhalb weniger Wochen verdreifachte, entfielen zwei zentrale Faktoren der westdeutschen Nachkriegsprosperität. Zusammen mit den Auswirkungen neuer Schlüsseltechnologien wie der Mikroelektronik trug dies zu einem langfristigen Formwandel des Wirtschaftswachstums bei, das seine Beschäftigungswirksamkeit zunehmend einbüßte, wodurch sich das Bedingungsgefüge und der Problemhorizont staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik im Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft nachhaltig veränderten. In dieser Perspektive erscheinen die 1970er-Jahre als ambivalente Umbruchphase, in der viele Spielregeln und vermeintliche Gewissheiten der industriegesellschaftlichen Hochmoderne an Geltungskraft verloren, andererseits aber im „Modell Deutschland“ zeitweise nicht ohne Erfolg noch einmal konserviert wurden – freilich um den Preis verzögerter Anpassung an den ökonomischen Strukturwandel.

Auch für die 1980er-Jahre, als die Bundesrepublik mit der stabilen D-Mark als Leitwährung den europäischen Wirtschaftsraum dominierte und die europäische Integration vor allem als ökonomisches Projekt betrieben wurde, erweist sich Rödders Perspektive als fruchtbar. Demgegenüber werden andere Themen wie die gerade für die 1980er-Jahre wichtigen Migrationsbewegungen sowie umweltgeschichtliche Fragen nur knapp gestreift. Besonders im letzten Fall spiegelt dies allerdings auch den unbefriedigenden Forschungsstand wider. Das verweist auf ein besonderes Problem bei der Konzeption des Bandes: Zu den bewährten Bestandteilen der Oldenbourg-Grundrisse zählt ein Abschnitt über „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“. Da der Untersuchungszeitraum jedoch „als Forschungsfeld gerade erst im Werden“ begriffen ist (S. 109), kann der Verfasser keinen Forschungsbericht im herkömmlichen Sinne präsentieren. Rödder macht aus dieser Not eine Tugend, indem er Forschungsdesiderate aufzeigt, mögliche Perspektiven künftiger Forschung benennt und einen kompetenten Überblick über die für Zeithistoriker relevanten Befunde der gegenwartsnahen Sozial- und Kulturwissenschaften gibt (etwa zur Wertewandelsforschung). Eine Zeittafel, mehrere Schaubilder, Tabellen und die für die „Grundrisse“ charakteristische umfangreiche Bibliografie ergänzen Darstellungsteil und Forschungsbericht.

Rödder erzählt die Geschichte Westdeutschlands in den 1970er und 1980er-Jahren mit Sinn für deren Ambivalenzen und nicht ohne Ironie, etwa wenn er darlegt, dass die Bundesrepublik „eine Politik der Stabilisierung der DDR betrieb, die ihr Ziel einer Liberalisierung der DDR verfehlte, dafür entgegen ihren Absichten eine Destabilisierung der DDR beförderte, die wiederum“ – zu einem Zeitpunkt, als beinahe niemand mehr ernsthaft mit einer Wiedervereinigung rechnete – „dazu beitrug, das ursprüngliche Ziel der Bonner Deutschlandpolitik der Fünfzigerjahre zu erreichen“ (S. 98). Dass Rödder über komplexe, unter den Zeitgenossen sehr strittige Materien nüchtern und abgewogen urteilt, wie in seinen Bilanzen der sozialliberalen und der liberalkonservativen Reformpolitik, zählt zu den besonderen Stärken des Bandes. Ausgewogenheit bedeutet indes keinen Verzicht auf ein eigenes Urteil. Gegenüber generalisierenden Interpretamenten, die die Geschichte der Bundesrepublik einseitig aus der Perspektive einer Erfolgsgeschichte deuten, ist Rödder mit Recht skeptisch (S. 122f.). Auch argumentiert er überzeugend gegen die These, der Regierungswechsel von 1969 habe eine „Umgründung“ oder „zweite Gründung“ der Bundesrepublik bewirkt (S. 35).

Die Bände der Oldenbourg-Grundrisse richten sich in erster Linie an Studierende. Unter dem Zwang, die große, teilweise disparate Stofffülle zu bändigen, hat Rödder einen hoch verdichteten Text geschrieben. Gerade Studienanfänger sind an die harte Kost sehr informationshaltiger Texte indes nicht immer gewöhnt. Möglicherweise wäre etwas weniger Informationsfülle zu Gunsten stärker konturierter Deutungsachsen und einer besseren Lesbarkeit mehr gewesen. Ein zweiter Einwand ist grundsätzlicher: Die vom Verlag vorgegebene Eingangszäsur 1969 erweist sich im Lichte von Rödders Darstellung als ziemlich willkürlich gesetzt, da sie sich weder aus der Periodisierung ökonomischer, sozialstruktureller oder kultureller Wandlungsprozesse plausibel ableiten lässt noch aus der politischen Entwicklung. Im Gegenteil: Hier verdeckt sie wichtige Kontinuitätselemente der Reformpolitik aus der Zeit der Großen Koalition. Bisweilen führt die Orientierung an der Eingangszäsur 1969 auch dazu, dass Beiträge, die die Geschichte der Bundesrepublik in einer zeitübergreifenden Perspektive untersuchen, nicht oder nur punktuell in Darstellung und Forschungsbericht eingearbeitet wurden.3

Indes beeinträchtigen solche Einwände das ausgesprochen positive Gesamturteil über den neuen Grundrisse-Band nur unwesentlich. Rödder ist eine beeindruckende Synthese gelungen, der breite Verwendung zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Für den Ertrag der bisherigen Forschung vgl. Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hgg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Frese, Matthias; Paulus, Julia; Teppe, Karl (Hgg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003 (beide mit Ausblicken in die frühen 1970er-Jahre); Faulstich, Werner (Hg.), Die Kultur der 60er Jahre, Paderborn 2003.
2 Graf Kielmansegg, Peter, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 467.
3 Vgl. exemplarisch die für die Geschichte der 1970er-Jahre grundlegenden Befunde in Schlemmer, Thomas; Woller, Hans (Hgg.), Bayern im Bund, Bd. 2: Gesellschaft im Wandel 1949–1973, München 2002, sowie die Bände 4-9 der Berliner Willy-Brandt-Ausgabe, Bonn 2000–2003.