B. Sonnenberger: Nationale Migrationspolitik

Cover
Titel
Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955-1967


Autor(en)
Sonnenberger, Barbara
Reihe
Schriften zur hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte 6
Erschienen
Anzahl Seiten
555 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Kreienbrink, Osnabrück

Die Arbeit von Barbara Sonnenberger gehört zu den jüngeren Arbeiten der historischen Migrationsforschung, die sich auf breiter Quellenbasis mit der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik auseinandersetzen.1 Sie analysiert das „erste ‚lange’ Jahrzehnt der Arbeitsmigration“ (S. 12) von 1955 bis 1967 unter der Fragestellung, inwiefern diese Zeit lediglich eine „Gastarbeiterperiode“ darstellte oder den Beginn eines bis heute fortwirkenden Einwanderungsprozesses bedeutete. Damit hinterfragt sie die Thesen der älteren, vornehmlich politikwissenschaftlichen und soziologischen „Ausländerforschung“, nach denen in diesem Zeitraum die Politik der Bundesregierung nur an kurzfristiger Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet gewesen sei, ohne langfristige, soziale Folgen der Zuwanderung wahrzunehmen oder zu bedenken. Zudem hätte sich in den Wanderungsmustern bis zum Ende der 1960er-Jahre keine Verfestigung der Zuwanderung ergeben, wie sie zum Beispiel durch Familiennachzug entsteht.2

Um Wechselwirkungen und Widersprüche zwischen politisch-administrativen Steuerungsversuchen und den faktischen Migrationsprozessen aufzuzeigen, geht Sonnenberger diese Analyse auf zwei Ebenen an. Auf der einen Seite untersucht sie die Politik der Bundesregierung, die die Steuerungskompetenz für Migration besaß. Auf der anderen Seite betrachtet sie die konkreten Migrationsmuster in Südhessen (vor allem in Darmstadt und Rüsselsheim) anhand der regionalen und lokalen Entwicklung, betrieblichen Politiken und der Lebenspraxis von Migranten. Als Heuristik verwendet sie dabei die jeweils idealtypisch definierten Begriffe Gastarbeiterpolitik/Gastarbeit beziehungsweise Einwanderungspolitik/Einwanderung (S. 17-20).

Nach einer kurzen Einordnung von Arbeitsmigration und Ausländerpolitik in historische Entwicklungslinien seit dem Kaiserreich sowie strukturelle und soziopolitische Voraussetzungen in der Bundesrepublik jener Jahre folgen drei jeweils gleich aufgebaute Kapitel, in denen die politischen und rechtlichen Bedingungen in drei Teilbereichen auf Bundesebene, die Situation im Bundesland Hessen, die lokale Situation in Darmstadt und Rüsselsheim, die betrieblichen Politiken sowie schließlich die Perspektiven der Migranten behandelt werden. Eine Zusammenfassung, ein Tabellenanhang sowie ein Register runden den Band ab.

Migrationswege und Migrationsmuster

Für die Einreise kamen verschiedene Wege in Frage, wie die Anwerbung über die Kommissionen im Ausland (1. Weg), das Sichtvermerkverfahren mit vorheriger Beantragung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis (2. Weg), die Einreise mit Touristenvisum und Arbeitssuche vor Ort (3. Weg), die EWG-Freizügigkeit, die für Italiener von Bedeutung war, sowie den Familiennachzug. Rechtliche Grundlagen für einen längerfristigen Aufenthalt wurden erst 1965 mit dem Ausländergesetz geschaffen. Insgesamt ergaben die Regelungen kein einheitliches Konzept, vielmehr divergierten die Interessen verschiedener Ministerien, wobei das Bundesinnenministerium aus Sicherheitserwägungen dazu neigte gegen außen- und wirtschaftpolitische Positionen des Bundesarbeitsministeriums, des Bundeswirtschaftsministerium und des Auswärtigen Amts zu stehen. So konnte es trotz hoher Fluktuation bereits frühzeitig zu Tendenzen der Verfestigung des Aufenthalts mit längeren Aufenthaltszeiten und Familiennachzug kommen. Dabei überlappten sich teilweise die Muster von Arbeits- und Familienmigration, wenn sich beispielsweise bei einem nicht unerheblichen Anteil weiblicher Migration Ehepartner ebenfalls anwerben ließen.

Das stereotype Bild der Wanderungsmotivationen, das sich aus Aspekten wie ökonomischen Zwängen im Heimatland, dem einseitigen Interesse an Maximierung des Sparziels und Rückkehrorientierung zusammensetzt, muss zu Gunsten einer vielschichtigen Palette aufgegeben werden. Sonnenberger identifiziert bis 1967 entsprechend verschiedene Muster. So gab es einen geringen Anteil von Pendelmigranten (Saisonarbeiter) sowie in erheblich stärkerem Umfang Kurzzeitmigranten, die weniger als ein Jahr blieben und ihren Aufenthalt in der Regel vor dem Ende des Vertrages beendeten. Entsprachen diese damit nicht den in sie gesetzten ökonomischen Erwartungen, so war dies bei „Gastarbeitern“ (ein bis drei Jahre) und Dauermigranten (drei bis fünf Jahre) sehr wohl der Fall. Das Muster der potentiellen und faktischen Einwanderer, die länger als fünf Jahre blieben, widersprach hingegen deutlich den Steuerungsinteressen, ohne dass dagegen interveniert wurde.

Arbeit

In diesem Bereich zeigte sich auffällig das Nebeneinander von Gastarbeiter- und Einwanderungspolitik, da die Beschäftigungspolitik einerseits den Inländerprimat aufrechterhielt, die Zulassung zum Arbeitsmarkt periodisierte und die Ausländerbeschäftigung als Konjunkturpuffer betrachtete. Andererseits waren die ausländischen Arbeitskräfte arbeits- und sozialrechtlich weitgehend gleichgestellt (zum Beispiel beim Kündigungsschutz) und es wurden keine maximale Beschäftigungsdauer oder Karenzzeiten wie in der Schweiz eingeführt. So kam man den wirtschaftlichen Interessen der Betriebe an einer gewissen Kontinuität der Beschäftigungsverhältnisse entgegen. Damit verwandelte sich die Ausländerbeschäftigung aber in einen integralen Bestandteil des deutschen Wirtschaftslebens mit langfristiger Ersatzfunktion auf dem Arbeitsmarkt. Je nach Branchen kam es dabei zu teilweise zielgerichteten Unterschichtungen der deutschen Beschäftigten.

Auf der Ebene der Migranten muss das Bild des industrieunerfahrenen, aus gleichsam vormodernen Zusammenhängen kommenden, vorwiegend männlichen, lediglich einkommensmaximierenden und harte Bedingungen ergeben ertragenden ausländischen Arbeiters ebenfalls korrigiert werden. Vorbildung, ein nicht unerheblicher Anteil weiblicher Arbeitsmigrantinnen, längerfristige Aufenthaltsorientierungen mit Familiennachzug, die Auswirkungen auf das Sparziel hatten, sowie eine relative Position der Stärke, die sich in Zeiten der Vollbeschäftigung durch Streiks oder die Möglichkeit zum Arbeitsplatzwechsel ergab, stehen dem Bild des „verschämten Gastarbeiters“ (S. 348) entgegen.

Wohnen

In dieser Frage wurde bei den politischen Überlegungen zur Förderung von Gemeinschaftsunterkünften beziehungsweise des Wohnungsbaus für Migrantenfamilien noch am ehesten das Konzept einer Gastarbeiterpolitik verfolgt. Die Politik hielt sich soweit wie möglich zurück, ohne es jedoch zu Problemen bei der Anwerbung durch fehlende Unterbringungsmöglichkeiten kommen zu lassen. Auch wenn es bei der Wohnungsbauförderung kaum zu inhaltlichen Ergebnissen kam, war dies nicht Desinteresse, sondern folgte bewusst dem Ziel, keine Anreize für den Familiennachzug zu schaffen.

Auch hier korrigiert Sonnenberger für das Verhalten von Migranten ältere Forschungsergebnisse. Demnach galt für alleinaufhältige Arbeitsmigranten in Gemeinschaftsunterkünften nicht, dass sie aufgrund der vorausgesetzten stereotypen Dispositionen sich nur ergeben an teilweise widrige Wohnverhältnisse angepasst hätten. Vielmehr weist sie verschiedene Verhaltensweisen (Rückzug, individuellen oder kollektiven Protest, Pragmatismus) und Bedeutungszuschreibungen für das Wohnen im Migrationsprozess nach, die sich zwischen Akzeptanz solcher Verhältnisse als typischer Wohnform für einen begrenzten Zeitraum bis hin zu Verwandlung in Dauerprovisorien bewegten. Ähnlich differenziert sie bei Migrantenfamilien und wendet sich zum Beispiel gegen handlungstheoretische Forschungsansätze, die unzureichende Wohnsituationen in Vierteln mit hoher Ausländerkonzentration als Folge individueller Präferenzen erklären. Stattdessen muss das Fehlen eines alternativen Angebots berücksichtigt werden, das Familien auf den freien Wohnungsmarkt verwies. In letzter Konsequenz aber schlug dieses von politischer Seite letztlich intendierte Hemmnis für Familiennachzug fehl und trug zu fortwährenden Problemen bei.

Insgesamt kann das Buch zeigen, dass die Politik der Regierung bis 1967 zwar nicht auf Einwanderung aber auch nicht auf ein reines Gastarbeiterkonzept ausgerichtet war. Dennoch war die Regierung nicht völlig konzeptionslos, reaktiv oder blind für die sozialen Dimensionen der Migration. Stattdessen handelte es sich für sie um ein nachgeordnetes und je nach Opportunität neu zu strukturierendes Politikfeld (S. 450). Für den Migrationsverlauf erwiesen sich vor allem lokale und regionale Determinanten wie die Unternehmenspolitik sowie die Struktur des örtlichen Arbeitsmarktes als entscheidend, die aber nicht nur ein, sondern ein Nebeneinander verschiedener Migrationsmuster hervorbrachten.

Die Ergebnisse der Politikanalyse ergänzen jene von Schönwälder, die stärker auf handels-, außen- und europapolitische Faktoren verwiesen hatte.3 Anders als jene verzichtet Sonnenberger jedoch weitgehend darauf, unter Hinweis auf die nicht vorhandenen Lenkungsmöglichkeiten der Länder, die Interventionen aus der Landespolitik zu berücksichtigen, was bei einer Regionalstudie etwas erstaunt. Überhaupt bleibt der Grund für die Auswahl Hessens eher unklar. Das gilt ebenso für die Notwendigkeit, in alle Kapitel eine Darstellung des Migrationsgeschehens im gesamten Bundesland einzubeziehen, wenn sich hieraus kaum Ergebnisse ableiten und die eigentliche Analyseebene im lokalen und regionalen Raum liegt. Diese Kritikpunkte ändern aber nichts daran, dass diese Studie einen höchst interessanten und wichtigen Beitrag zur Korrektur bisheriger Sichtweisen auf die Geschichte des deutschen Migrationsgeschehens leistet.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Schönwälder, Karen, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er Jahren bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Steinert, Johannes-Dieter, Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945-1961, Osnabrück 1995.
2 So auch wieder aktuell Meier-Braun, Karl-Heinz, Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt am Main 2002, S. 30.
3 Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität (wie Anm. 1), S. 214-366. Die Arbeiten sind ungefähr zeitgleich entstanden.

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