R. Bessel u.a. (Hgg.): Life After Death

Cover
Titel
Life After Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe During the 1940s and 1950s


Herausgeber
Bessel, Richard; Schumann, Dirk
Reihe
Publications of the German Historical Institute Washington D.C.
Erschienen
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
£15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Henrik Meyer, Graduiertenkolleg "Das Neue Europa", Humboldt-Universität zu Berlin

Wie aktuell die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der frühen Nachkriegsjahre immer noch ist, kann angesichts der D-Day-Feierlichkeiten, der Debatten um Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ und um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ kaum übersehen werden. Der Mitte des 20. Jahrhunderts widmet sich auch der Sammelband, den Richard Bessel und Dirk Schumann unter dem etwas esoterisch wirkenden Titel „Life after Death“ herausgegeben haben. Die Stärke des Buchs liegt in seinen methodischen Ambitionen: Es zeigt die blinden Flecken üblicher Periodisierungen auf. Mit der Frage nach Gewalt und Normalisierung wird den Autoren eine dichotome Begrifflichkeit in die Hand gegeben, die bei den 14 Aufsätzen für eine gewisse Kohärenz sorgen soll. Leider bleibt dies zu vage – und das ist der Hauptkritikpunkt an diesem ansonsten sehr inspirierenden Band –, weil es den Herausgebern in ihrer Einführung nicht gelingt, die Dimensionen der Begriffe und mögliche Wirkungsmechanismen so differenziert darzulegen, dass sie als Analysekategorien fungieren könnten. Sie bleiben lediglich erkenntnisleitende Metaphern, die von den Autoren unterschiedlich intensiv reflektiert verwendet werden. Überzeugender ist das Bekenntnis der Herausgeber zu methodischer Vielfalt und Interdisziplinarität. Neben die Geschlechter- und Konsumgeschichte und die Geschichte der kollektiven Erinnerungen stellen sie einen sehr anregenden psychologischen Ansatz. Die größte Stärke des Bandes liegt jedoch darin, dass die meisten Aufsätze vergleichend angelegt sind – sowohl innerhalb von Nationen als auch international-europäisch. Dabei werden die Mehrzahl der Länder Süd-, West- und Mitteleuropas und die USA einbezogen.1

Methodische Fragen provoziert das Buch, indem es eine Konvention hinterfragt. Üblicherweise begreifen Historiker das Kriegsende 1945 als Epochenschwelle oder sehen im Beginn der Blockkonfrontation und der Neugründung der deutschen Staaten 1948/49 einen Einschnitt, der als Anfangs- oder Endpunkt historischer Betrachtung dient.2 Die Autoren hier blicken dagegen über diese Schwelle hinweg; sie betrachten die 1940er und die 1950er-Jahre zusammen. Gerade diese beiden Dekaden seien Übergangsjahrzehnte zwischen den beiden Hälften des Jahrhunderts und verkörperten in ihrer Gegensätzlichkeit das 20. Jahrhundert in konzentrierter Form: „Gewalt“ in den 1940er-Jahren gegenüber „Normalität“ in den 1950er-Jahren (S. 5). Diese bewusst gewählte, sicher vergröbernde Gegenüberstellung soll es ermöglichen, die Auswirkungen der „Gewalt“ auf das Leben der Menschen im Nach-Krieg zu betrachten. In den verschiedenen Aufsätzen versuchen die Autoren zu erklären, wie die Erfahrung von Gewalt die Nachkriegsgesellschaften prägte – und ihr vielfach beobachtetes Streben nach „Normalität“ (S. 12).

Der letzte Aufsatz des Bandes („Dissonance, Normality, and the Historical Method: Why did some Germans Think of Tourism after May 8, 1945“), den die Herausgeber eigentlich an den Anfang hätten stellen müssen, widmet sich dem Begriff der Normalität. Der von Alon Confino verfasste Text zerfällt in zwei sehr unterschiedliche Teile und erscheint beim ersten Lesen verwirrend. Dennoch ist er der erkenntnistheoretisch und konzeptionell anregendste des Bandes. In gedanklichen Schleifen führt Confino den Leser von der Geschichte des Phänomens Tourismus hin zu dessen „unnormal“ erscheinendem Wiederauftauchen direkt nach Kriegsende, um dann zu konzeptionellen Überlegungen zur Vorerfahrungsgebundenheit von Normalität zu kommen. Im zweiten Teil diskutiert Confino Normalität in einem ganz anderen Sinne, nämlich im Hinblick darauf, ob der Nationalsozialismus mit den Verfahren der „normalen Geschichte“ zu erfassen sei. Confino wehrt sich gegen diese Idee „normaler Geschichte“, die er als „moralische Metapher“ entlarvt (S. 339f.). Für ihn ist Normalität ein Begriff, der Erkenntnis befördere, indem er selbst hinterfragt werde, bevor er als Maßstab dienen könne; Normalität sei immer relativ (S. 341). Solches Nachdenken ist über dieses Buch hinaus relevant, weil Normalität (besonders wegen des impliziten Werturteils) gern von Historikern als Messlatte verwendet wird.3

Einen recht gelungenen Beitrag zur Interdisziplinarität leisten Alice Förster und Birgit Beck im ersten Aufsatz des Bandes („Post-traumatic Stress Disorder and World War II: Can a Psychiatric Concept help us understand Postwar Society?“). Sie versuchen, die Anwendbarkeit des in der Zeit des Vietnamkrieges entwickelten psychologischen Konzepts der "Post-traumatic Stress Disorder" auszuloten. Dabei sind sie sich der Probleme sehr bewusst, die eine Übertragung psychologischer individualisierender Ansätze auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen mit sich bringt (S. 31).

Die Geschlechterperspektive wird als Erfahrung der Frauen und der Männer sowie anhand der Einstellungen und Verhaltensweisen zu Ehe und Familie verfolgt. Zwei vergleichende Aufsätze nehmen die Erfahrungen von Frauen in den Blick. Andrea Petö betrachtet die Erfahrung von Vergewaltigung in Wien und Budapest sowie ihre individuelle und kollektive Verarbeitung. Der Artikel von Atina Grossmann („Trauma, Memory, and Motherhood“) vergleicht den Geburtenboom der Holocaust-Überlebenden in den Lagern der „Displaced Persons“ in Deutschland mit der niedrigen Fertilität der übrigen Frauen nach Kriegsende. Die Gründe für den Kinderwunsch der „Displaced Persons“ sieht Grossmann im individuellen Bedürfnis nach einer neuen Familie, um damit die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Dies verband sich mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und nicht zuletzt mit der politischen (zionistischen) Vision, die Nation neu zu schaffen, die gerade in Gestalt von Frauen und Kindern repräsentiert wurde.

Während Joanna Bourke („Going home“) auf der Basis zeitgenössischer Umfragedaten die Erfahrungen amerikanischer und britischer Soldaten bei ihrer Rückkehr in die ersehnte Normalität des Zivillebens untersucht, widmen sich Pat Thane („Family Life and ‚Normality’ in Postwar British Culture“) und Dagmar Herzog („Desperately Seeking Normality: Sex and Marriage in the Wake of War“) der Frage, wie sich die Kriegserfahrung auf Ehe und Familie und auf sexuelle Normen in Großbritannien bzw. in Deutschland ausgewirkt hat. Für Deutschland hebt Herzog hervor, dass das Bild einer prüden Kriegs- und Nachkriegszeit nicht stimme. Erst die „Normalität“ der 1950er-Jahre brachte eine konservative Einstellungswende gegenüber der Sexualität. Dazu gehörte auch der Wiederaufstieg kirchlicher Moralvorstellungen, den Damian van Melis als „Ecclesiastical Triumphalism“ beschreibt.

Die weiteren Aufsätze über die Narrative des Gedenkens lassen einige Schlussfolgerungen für eine europäische Geschichte des Umgangs mit der Vergangenheit zu. Sabine Behrenbeck wirft einen vergleichenden Blick auf das Gedenken an die Kriegs- und Gewaltopfer in Ost- und Westdeutschland. Pieter Lagrou vergleicht „Nationalization of Victimhood“ in Westeuropa, während Donald Sassoon zeigt, wie am Mythos vom „guten Italiener“ geschmiedet wurde. Überall wurde bei der Beschwörung des eigenen Leidens der Holocaust ausgeblendet, über jüdische Opfer nicht offen gesprochen – bestenfalls wurden sie implizit einbezogen (S. 64, 255). Die Verarbeitung diente der Rekonstruktion der eigenen Nation nach Krieg, Besatzung und Kollaboration.

Die Auswirkungen des Krieges auf Konsum- und Alltagskultur untersucht Michael Wildt klassisch sozialgeschichtlich („Continuities and Discontinuities of Consumer Behaviour in West Germany in the 1950s“). Paul Betts („The Politics of Post-Fascist Aesthetics“) widmet sich der Frage, welche Kontinuitäten der Alltagsästhetik aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bei der Normalisierung in beiden deutschen Staaten prägend waren.

Der thematische Schwerpunkt des Bandes, die Frage nach kollektiven Erinnerungen, mag heute nicht mehr so innovativ erscheinen wie vor einigen Jahren, was auch an der langen Produktionsfrist des Konferenzbandes liegt. (Die Tagung fand 1998 statt.) Ein Mehrwert für die Europa-Historiografie ergibt sich aber durch den systematisch angewandten Vergleich, der zeigt, inwieweit die Reaktionen der Europäer auf dem Weg in die Normalität ähnlich waren. Zudem macht der Band darauf aufmerksam, dass es ein wichtiges Korrektiv ist, neben den Diskursen auch individuelle Erfahrungen und Erinnerungen sowie besonders die Interaktion der beiden zu betrachten, wie es einige der Aufsätze versuchen.

Anmerkungen:
1 Die Herausgeber merken selbstkritisch an, dass mit Ungarn nur ein osteuropäisches Land berücksichtigt wurde (S. 8).
2 Diese Konvention ist in letzter Zeit immer stärker aufgeweicht worden, z.B. in der Diskussion über die Kontinuität der Eliten vom NS-Deutschland in die Bundesrepublik. Vgl. etwa Frei, Norbert (Hg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001.
3 So etwa von Harold James, der in seiner europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts von der Rückkehr zu „normalized demographies“ und „normalized politics“ nach dem Ende des Kalten Krieges spricht. Allerdings problematisiert er die augenscheinliche Normalität demokratischer politischer Entwicklung selbst. Vgl. James, Harold, Europe Reborn: A History, 1914–2000, Harlow 2003, S. 387ff., 391.

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