H.-W. Goetz u.a. (Hgg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert

Cover
Titel
Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung


Herausgeber
Goetz, Hans-Werner; Jarnut, Jörg
Reihe
MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens1
Erschienen
Paderborn 2003: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Schiel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat in der Wochenzeitung DIE ZEIT (Ausgabe vom 06.05.04) einen Artikel zu der immerwährenden Debatte um den Nutzen der Geisteswissenschaften veröffentlicht, der folgendermaßen beginnt: „Forschung kann glücklich machen. Wer vor einigen Wochen die aufgekratzte Edelgard Bulmahn beobachten konnte, die sich wie ein Backfisch gefreut hat, dass es unter tätiger Mithilfe deutscher Wissenschaftler gelungen ist, Wasser auf dem Mars zu entdecken, weiß endlich um die befreiende Wirkung wissenschaftlicher Exzellenz. Weitgehend freilich herrscht Grabesstimmung. Abhilfe kann da nur Exzellenz schaffen, und zwar Exzellenz, die entweder spektakuläre Ergebnisse erzielt oder produktnah wirtschaftsstandortrelevantes Wissen produziert.“

Dieser Erwartungshaltung gegenüber hat die Geisteswissenschaft einen schweren Stand. Doch Nassehi verzichtet auf eine weitere dieser ebenso feurigen wie verzweifelten Selbstverteidigungsreden der „Betroffenen“, die sich und die anderen durch Hinweise etwa auf die ‚kritische Begleitung’ der Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse o.ä. vom Nutzen ihrer Wissenschaft überzeugen wollen, sondern wendet sich vielmehr gegen diese Argumentation selbst: „Wer so argumentiert, hat die Kritik eigentlich schon geschluckt […] die kultur- und sozialwissenschaftlichen Technologiezentren [sind] alles andere als randständige Produktionsstätten, sondern Fabriken unserer individuellen und kollektiven Beschreibungs- und Bemessungsformeln“, und das heißt für ihn, dass „auch die Ergebnisse der Kultur- und Sozialwissenschaften eben nur Technologien [sind], deren politische, ökonomische und pädagogische Umsetzung ebenso zerstörerische wie aufbauende Kräfte freisetzen kann […]. Erst wenn man uns Schlimmes zutraut, werden wir auch mit angemessenen Mitteln ausgestattet. Vielleicht müssen wir nur glaubhaft machen, was wir schon Schlimmes angerichtet haben und wozu wir fähig sind“.

Der sinkende Stellenwert der Geisteswissenschaften innerhalb unserer Gesellschaft, so ist aus der Argumentation Armin Nassehis deutlich geworden, löst unter den „Betroffenen“ allenthalten zwei gegensätzliche Reaktionsmuster aus: Die einen lamentieren aus der Defensive heraus, verweisen weinerlich auf die teils exponierte Bedeutung ihres Faches in der Vergangenheit und sind mit schönen Phrasen zum kollektiven Moral- und Verantwortungsbewusstsein und dem ach so unersetzlichen humanistischen Bildungskanon allein auf Schadensbegrenzung aus. Die anderen begegnen den neuen Herausforderungen offensiv, indem sie nach fortwährender Neuverortung ihres Faches innerhalb des aktuell-gesellschaftlichen Kontextes streben und damit glaubwürdige und zeitgemäße Antworten auf die Relevanz ihres Tuns anbieten können.

Die Jahrtausendwende war auch für die Mediävistik Anlass zur Selbstreflexion. „Stand und Perspektiven“ lautet denn auch der Untertitel zu dem von Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut herausgegebenen Sammelband, der die Vorträge und Diskussionsergebnisse der Mediävistentagung enthält, die im Oktober 2001 unter der Leitung des „Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens“ (IEMAN) in Paderborn stattfand. Dem Aufbau der Tagung entsprechend, gliedert sich der Band in drei Sektionen. Die erste Sektion gibt in sieben Beiträgen einen Überblick über die internationale Lage der Mediävistik, die zweite versammelt weitere acht VertreterInnen verschiedener Disziplinen um das Problem der Interdisziplinarität und der dritte Teil reflektiert in 13 Beiträgen neue Themen- und Forschungsansätze und diskutiert die kulturalistische Wende in der Mediävistik.

Die Beiträge der ersten Sektion machen zunächst deutlich, dass der deutsche Begriff der Mediävistik und der englische der Medieval Studies nicht synonym gebraucht werden. Während der deutsche Terminus in erster Linie die mittelalterliche Geschichtswissenschaft bezeichnet, ist der englische grundsätzlich fachübergreifend und multidisziplinär angelegt. Weiterhin lässt der erste Teil des Tagungsbandes, welcher neben Deutschland Vertreter aus Frankreich, Russland, Ungarn, den USA, England und Italien zu Wort kommen lässt, den Eindruck entstehen, dass es um die deutsche Mediävistik im internationalen Vergleich nicht allzu schlecht bestellt ist. So scheint die Lage in Frankreich am desolatesten zu sein, wenn Alain Guerreau die derzeitige Situation wörtlich als „wirklich schlimm“ bezeichnet. Während man in Deutschland an kritischen Editionen und anspruchsvollen Lexika arbeite, würden in Frankreich Handbücher für Erstsemester geschrieben (S. 37). Doch wirkt Guerreaus Beitrag selbst so schulmeisterlich und defensiv, dass zu hoffen ist, dass er nicht für die Gesamtheit der französischen Mediävistik gesprochen hat. Die osteuropäischen Vertreter, deren Disziplin aufgrund der großen historischen Umwälzungen ganz offensichtlich in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise steckt, scheinen dahingegen zuversichtlicher: Während die Westeuropäer den Osten neu entdeckten, käme es in Russland zu einer Enteuropäisierung des Bildes der russischen Vergangenheit. Kirche und Religiosität rückten als Subjekt mittelalterlicher Geschichte erneut in den Mittelpunkt russischer Mediävistik (S. 50-52) und in dem das Mittelalter verherrlichenden Ostmitteleuropa sei zumindest positiv, dass es dem Fach an finanziellen Zuwendungen und Medienwirksamkeit nicht fehle (S. 57). Die amerikanische Mediävistik dagegen hat einerseits sehr viel früher als die europäische zu supranationalen Fragestellungen und komparatistischen Ansätzen gefunden (S. 65), andererseits ist die Forschung sehr viel stärker als in Europa marktabhängig (S. 68). Peter Johanek, der die deutsche Mediävistik entlang ihrer Paradigmenwechsel (Staat – Gesellschaft – Kultur) darstellt, konstatiert außerdem eine Wende hin zur oralen Wissenschaftskultur, in welcher nicht mehr Monografien und Zeitschriftenaufsätze, sondern Tagungen und Vorträge die auslösenden Faktoren wissenschaftlicher Diskussion darstellten (S. 25). Es bleibt jedoch zu fragen, ob dieser Trend im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Forschung so begrüßenswert ist, oder ob die schriftliche Ausarbeitung von Argumentationen für die langfristige Sicherung von Forschungsergebnissen nicht weiterhin unersetzlich bleibt.

Im Zentrum der zweiten Sektion steht der Ruf nach interdisziplinärer Vernetzung. Im Hinblick auf die rechte Begrifflichkeit lassen sich die Beiträge dabei in zwei Lager spalten: Während die Mehrheit am traditionellen Begriff der Interdisziplinarität festhält, verteidigt eine Minderheit den Begriff der Transdisziplinarität. So plädiert Otto Gerhard Oexle für mehr disziplinäre Grenzgänger, die die Grenze ihrer Disziplin mehr lieben als die ausgetretenen Pfade und die transdisziplinär denken und forschen (S. 243). Momentan ändert der Streit um die Begrifflichkeiten jedoch wenig daran, dass wirkliche Vorschläge zur Umsetzung der Forderung nach Vernetzung weiterhin fehlen.

In der dritten Sektion schließlich werden neue Ansätze, Methoden und Themen diskutiert. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Frage nach dem Umgang mit mittelalterlichen Texten, dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und der ‚Medienpraxis’ des Mittelalters. Kontrovers scheint dabei die Frage der Anwendbarkeit der Erkenntnisse moderner Medienwissenschaften auf mittelalterliche Verhältnisse (H. Wenzel und E. Bremer versus W. Ernst). Frank Rexroth und Ernst Schubert diskutieren die kulturwissenschaftlichen Potenziale traditioneller Themen am Beispiel des Ritualismus bzw. der Spielleute und Vaganten. Barbara Rosenwein fordert eine Geschichte der Emotionen als notwendigen Bestandteil der Mentalitätsgeschichte ein und Anne-Marie Helvétius schlägt vor, die Austauschbeziehungen zwischen Klöstern des Okzidents und des Orients dafür zu nutzen, mit der traditionell dichotomisch angelegten Gegenüberstellung beider Kulturkreise aufzuräumen und grenzübergreifend zu forschen.

Betrachtet man jedoch die Gesamtheit der Beiträge und die Kernpunkte der Diskussionen, so erweisen sich drei Vorträge als quasi programmatisch: der Einführungsvortrag von Hans-Werner Goetz, derjenige von Otto Gerhard Oexle zur Mittelalterforschung in einer sich wandelnden Moderne und der von Michael Borgolte zur Mediävistik als vergleichender Geschichte Europas. Fünf Punkte erscheinen dabei in der Zusammenschau wesentlich. Zunächst ist der von Johanek aufgezeigte Paradigmenwechsel vom Paradigma der Gesellschaft und der sozialgeschichtlichen Geschichtswissenschaft zum Paradigma der Kultur und der Mediävistik als fachübergreifender Kulturwissenschaft auf breiten Konsens gestoßen. Dabei hat Oexle das Konzept einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik theoretisch fundiert, indem er fordert, an die Erkenntnisse der Historischen Kulturwissenschaft (Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer und Karl Mannheim) wieder anzuknüpfen (S. 238-242). Zweitens zieht sich der Ruf durch die Beiträge, Europa in den Mittelpunkt mediävistischer Forschung zu stellen. Das Mittelalter liege vor der Genese nationaler Interpretationen, so Oexle, und sei deshalb ein bevorzugter Gegenstand, um die jeweils kulturellen und historisch bedingten nationalen Geschichtsdeutungen sichtbar zu machen (S. 252), und Borgolte weist darauf hin, „dass es [dabei] nie eine einzige, kanonisierte und endgültige Geschichte Europas geben kann, sondern nur denkbar viele Geschichten unseres Kontinents […]. Es ist diese Pluralität, die der Eigenart europäischer Geschichte selbst Rechnung trägt“ (S. 322). Drittens bildet die Forderung nach mehr Komparatistik eine Grundkonstante des Tagungsbandes: „Europäische Geschichte, die ein lebensweltliches Desiderat ist, aber als holistischer Entwurf unwissenschaftlich wäre“, so wiederum Borgolte, „kann gar nicht anders als komparatistisch ansetzen. Nur im Vergleich sind alle Kulturen im Einzelnen angemessen zu würdigen, ohne hinter dem vermeintlich Wichtigeren marginalisiert zu werden“ (S. 321). Viertens findet eine Auseinandersetzung mit dem wachsenden Legitimierungszwang des eigenen Faches gegenüber Politik und Gesellschaft statt. Dazu Hans-Werner Goetz: „Es ist nicht das Mittelalter, sondern das – sich zeitgemäß wandelnde – Mittelalterbild, das für eine immer neue ‚Aktualität’ des Mittelalters sorgt: Erst in diesem ‚Nachwirken’, in der Mittelalterrezeption, begründet sich die Relevanz der Mediävistik.“ (S. 14) Und Oexle ergänzt, das Mittelalter sei nicht nur Gegenstandsbegriff, sondern auch Reflexionsbegriff für das historische Denken der Moderne selbst (S. 252). Fünftens schließlich ist die Notwendigkeit zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur- und Geisteswissenschaften angeklungen. Hans-Werner Goetz fordert: „Wenn die Naturwissenschaften längst in Bereiche vorgestoßen sind, in denen von Empirie keine Rede mehr sein kann, und wenn sie mit ‚Modellen’ arbeiten, die zum guten Teil ‚Denkmodelle’ sind, dann […] löst sich der alte Gegensatz zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf.“ (S. 14)

Insgesamt blieben auch in Paderborn diejenigen in der Minderheit, die im Sinne von Armin Nassehi wirklich zu begründen wussten, weshalb ihr Fach für unsere Gesellschaft heute von Interesse sein kann und muss, doch zeigen die vielseitigen und insgesamt recht hochwertigen Beiträge gleichzeitig, wie innovativ die Mediävistik sein kann, und dass es weder sinnvoll noch wahr ist, die derzeitige Lage des Faches mit Alain Guerreau als „wirklich schlimm“ zu bezeichnen.

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