M. Riekenberg u.a. (Hgg.): Kultur-Diskurs. Identitäten in Lateinamerika

Titel
Kultur-Diskurs. Kontinuität und Wandel der Diskussion um Identitäten in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Riekenberg, Michael; Rinke, Stefan; Schmidt, Peer
Reihe
Histoamericana 12
Erschienen
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Fischer, Auslandswissenschaft/ Romanischsprachige Kulturen, Universität Erlangen-Nürnberg

Diesen Sammelband haben die Herausgeber, Michael Riekenberg, Stefan Rinke und Peer Schmidt, ihrem „akademischen Lehrer bzw. Förderer“, dem Lateinamerika-Historiker Hans-Joachim König, gewidmet. Seit dem Beginn der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen haben sich Intellektuelle in der Neuen Welt intensiv mit der „wer sind wir“-Frage auseinandergesetzt. König leistete in Deutschland Pionierarbeit, indem er dieses scheinbar ewige Bemühen zu seinem Forschungsgegenstand machte. Die Ergebnisse seines 1984 mit der Habilitierung abgeschlossenen Projektes hat er 1988 in der Monografie „Auf dem Wege zur Nation. Nationalismus im Prozeß der Staats- und Nationbildung Neu-Granadas 1750 bis 1856“ veröffentlicht. König erbrachte damit just zu dem Zeitpunkt den Nachweis für das Bestehen vorgestellter nationaler Gemeinschaften, als sich in der Geschichtsforschung die konstruktivistische Deutung der Nationsproblematik durchsetzte. Benedict Anderson hatte in seinem 1983 publizierten Essay dem in der Neuen Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert aufkeimenden kreolischen Nationalismus eine Pionierrolle zugeschrieben; Königs Fallstudie über das südamerikanische Neu-Grananda belegte anhand der Auswertung von Presseartikeln, Pamphleten, Gedichten, Wappen und Münzen diese These auf beeindruckende Weise. Er brachte außerdem die Diskussion über den Wandel von nationalen Identitäten mit dem von ihm entwickelten Krisenmodell entscheidend voran.

Im vorliegenden Sammelband beschäftigen sich 24 AutorInnen mit der Identitätsproblematik in Lateinamerika. Dabei wird die Nation als hauptsächlicher Bezugspunkt gesehen, wobei die „Veränderung der von uns wahrnehmbaren Lebenswelten, und damit der Identitätsoptionen“ berücksichtigt werden (S. 13). Die Herausgeber haben den Band in fünf Teile gegliedert: In einem ersten Themenkreis werden „Geschichtsdiskurse und Öffentlichkeit“ behandelt. In einem zweiten Teil werden Aufsätze unter der Überschrift „Geschichte als Text“ vorgestellt. In einem dritten Bündel von Texten steht „Das Eigene und das Andere“ im Mittelpunkt. Einem vierten Teil sind Aufsätze über „Die Begründung von Identitätsdiskursen im 19. Jahrhundert“ zugeordnet. Im fünften Teil schließlich geht es um „Perspektiven zeitgenössischer Identitätskonstruktionen“. Die in diesem Buch vereinigten Beiträge sind hinsichtlich der untersuchten Epochen, geografischen Räume, Gegenstände sowie Analyseebenen und -konzepte sehr vielfältig. Dies zeigen exemplarisch die Texte der deutschen Lateinamerika-Historiker, auf die ich im Folgenden eingehe.

Stefan Rinke (Katholische Universität Eichstätt) beschäftigt sich mit dem Thema „Bildräume: Geschichte und Nation im chilenischen Kino des zwanzigsten Jahrhunderts“. Im Hinblick auf den Wandel der nationalen Identität war Rinke zufolge bedeutsam, dass in Chile der Film als neues Medium seit der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts auch für die Armen erreichbar war. Trotz der Übermacht aus Hollywood wurden von 1910 bis 1934 immerhin 78 chilenische Stummfilme produziert. Die Autoren waren laut Rinke darum bemüht, Anschluss an die criollismo-Bewegung zu finden, welche die angeblich heile ländliche Welt stilistisch überhöhte. Mit Hollywood konnte das chilenische Filmschaffen allerdings nicht Schritt halten, da laut Rinke die staatliche Förderung zu wenig nachhaltig und die Aufnahmefähigkeit des nationalen Marktes zu gering blieb. Zwischen 1950 und 1973, dem Jahr des Putsches der Militärs gegen die von Salvador Allende angeführte linke Regierung der Unidad Popular, rückten im Film die zuvor aus dem nationalen Projekt Ausgeschlossenen als Geschichte machende Akteure in den Mittelpunkt. Nach einer Phase der Zensur und des Exils feierte in den 1990er-Jahren der chilenische Film seine Wiederauferstehung. Er steuerte maßgebliche Beiträge zur Durchleuchtung der Diktatur bei. Rinke weist einschränkend mit Recht darauf hin, dass der „neue“ chilenische Film lediglich ein kleines, auserlesenes Publikum erreicht; die große Masse der Bevölkerung lässt sich mehr denn je durch Hollywood bedienen.

Fokussiert Rinkes Beitrag auf das Medium Film, so beschäftigt sich Michael Riekenberg (Universität Leipzig) mit historiografischem Material. In seinem Beitrag über die frühe argentinische Geschichtsschreibung plädiert er für historiografische Untersuchungen unter ethnografischen Prämissen. Er betont, dass sich die kreolischen Historiker Argentiniens im 19. Jahrhundert im Zuge einer als politisch verstandenen Nation schwerpunktmäßig „mit der Hervorbringung von Gemeinschaftssymbolen“ auseinandersetzten (S. 151). Ihnen habe sich die Aufgabe gestellt, die als fremd wahrgenommenen nicht-kreolischen Bevölkerungsteile in ein evolutionär aufgefasstes Geschichtsmodell einzupassen. Ähnlich wie Rinke unterstreicht auch Riekenberg, dass trotz Hybridisierungstendenzen in der Nationskonstruktion im Laufe des 20. Jahrhunderts die „alten“ Narrationen und Symbole nationaler Identität nie vollständig verschüttet wurden. Sie seien als Fragmente nach wie vor abgreifbar.

Barbara Potthast (Universität zu Köln) beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit der nationalen Identität in Paraguay. Sie stellt fest, dass die „offizielle Geschichte“ die Nation schon immer als Ergebnis einer „harmonische[n] Vermischung von Eroberung und Eroberten“ dargestellt habe, „die sich beständig gegen äußere Bedrohungen zur Wehr setzen mussten, was sie mit außergewöhnlichem Heldenmut taten“ (S. 240). Potthast vermutet, dass das unter dem Diktator José Gaspar Rodríguez de Francia (1814-40) gegen „Spanier“ ausgesprochene Verbot, sich mit „Amerikanern“ zu mischen, vor allem dem Zweck gedient habe, die Vorherrschaft der lokalen Bevölkerung sicherzustellen. Die in der Forschung vorgefundene Interpretation, dass sich hinter dieser Maßnahme letztlich indigenistische Absichten verbargen, weist sie zurück. Gegen das Ende des 19. Jahrhunderts wurde der mestizische Mythos Potthast zufolge durch rassenbiologisches Denken aufgeladen.

Walther L. Bernecker (Universität Erlangen-Nürnberg) widmet sich in seinem Aufsatz über die Diskussionen um wirtschaftliche Modernisierung und Demokratie der Reformulierung der lateinamerikanischen Nationsprojekte im Zweiten Weltkrieg sowie der unmittelbar darauf folgenden Phase. Laut Bernecker sind die Reformdebatten vor dem Hintergrund sich verändernder endogener und exogener Rahmenbedingungen zu beurteilen. Bereits während des Kriegs habe eine kurze Phase der Demokratisierung eingesetzt: „Volkskräfte wurden mobilisiert, relativ freie Wahlen fanden unter hoher Wählerbeteiligung statt.“ (S. 431) Diese bis 1946 dauernde Konjunktur führt er auf internationale Diskussionen über Probleme der Demokratie sowie interne gesellschaftliche Veränderungen zurück, die zu verstärkten Partizipationsforderungen von (städtischen) Arbeitern und Gruppen aus der Mittelschicht sowie Studenten und Intellektuellen führten. Strukturalistische Wirtschaftswissenschaftler und technokratische Modernisierer im Umfeld der UN-Wirtschaftskommission sekundierten diese Bestrebungen, indem sie eine neue Rolle des Staates als Motor für eine nachholende Industrialisierung einforderten. Nach Bernecker kam es ab 1948 zu Rechtsrutschen; linke Gruppierungen und Parteien wurden zunehmend von den Regierungen ausgeschlossen. Der Beginn des Kalten Kriegs habe diese Entwicklung begünstigt.

Eine nochmals andere Facette der Nationsproblematik zeigt Michael Zeuske (Universität zu Köln) in seinem Beitrag über den kubanischen Unabhängigkeitskrieg (1895-98). Zeuske versucht, den Subalternen eine Stimme zu geben. Seine Akteure, Ex-Sklaven und durch die Sklaverei geprägte Bevölkerungsgruppen, (re-)konstruiert er mittels Notariatsprotokollen und Prozessakten.

Ähnlich wie Zeuske beschäftigt sich auch der Beitrag aus der Feder von Horst Pietschmann (Universität Hamburg) mit der Unabhängigkeitsproblematik in Lateinamerika. Sein Text über die Staats- und Nationsbildung in der spanischen Welt beschränkt sich allerdings nicht auf methodische Fragen, sondern vielmehr auf die Darstellung historiografischer Tendenzen. Pietschmann plädiert für eine „lange“ Betrachtungsweise mit den Eckdaten 1766 (Beginn der Reformpolitik unter Karl III.) und 1830 (Abschluss der Staatsbildung). Er hebt die Impulse der französischen Revolutionsforschung und der vom Autor und seinen Schülern selbst stark geprägten deutschen Nachkriegshistoriografie hervor. Pietschmann erwähnt, dass die Historiografie bei der Ursachenforschung lange Zeit die fiskalistisch motivierten Modernisierungsversuche des spanischen Mutterlandes, die Identitätskonstruktion des Kreolentums und die durch Verwaltungsmaßnahmen forcierte Integration Amerikas in das Mutterland betonte. Er plädiert dafür, vermehrt „unterschiedliche Grade von Modernität zwischen Europaspaniern und Hispanoamerikanern“ (S. 331) zu berücksichtigen.

Peer Schmidt (Universität Erfurt) liefert ebenso wie Pietschmann einen Beitrag zur Unabhängigkeitsphase. Seine Betrachtungen umfassen den Zeitraum 1789-1821 und konzentrieren sich auf den neuspanischen Klerus. Schmidt vertritt zur in der Forschung verbreiteten These, der zufolge sich ein wachsender Teil des zuvor äußerst loyalen mexikanischen Klerus im Laufe des Unabhängigkeitsprozesses radikalisierte und maßgeblich zur Unabhängigkeit Mexikos beitrug, eine revisionistische Position. Der überwiegende Teil des Klerus sei nicht revolutionär gesinnt gewesen, das oft beschworene aufklärerische Gedankengut habe mit der europäischen Aufklärung nichts gemein gehabt. Vielmehr sei das Handeln des überwiegenden Teils des institutionalisierten Katholizismus durch die Angst vor der Zerstörung der Einheit der herrschenden Religion und der gesellschaftlichen Hierarchien geprägt gewesen. Dies habe die Entstehung des Konservativismus in Mexiko begünstigt.

Insgesamt bieten diese Aufsätze einen repräsentativen Ausschnitt der derzeit an deutschen Universitäten verankerten historischen Forschung zur Identitätsproblematik in Lateinamerika. Die Untersuchungen zeigen, dass die Unabhängigkeitsphase sowie ganz allgemein Souveränitätsgefährdungen die Konstruktion und den Wandel nationaler Identitäten stark beeinflussten. Die Diskussionen über nationalen Wandel und Identität(en) verstehen die Herausgeber als „Kultur-Diskurs“. Um einem Missverständnis vorzubeugen, soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass die vorgestellten Texte überwiegend auf konventionelle kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Konzepte rekurrieren. Dies trifft auch für die Mehrzahl der hier nicht besprochenen Beiträge aus den Disziplinen Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Soziologie und Politikwissenschaft zu.

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