C. Moisel: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher

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Titel
Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Moisel, Claudia
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 2
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Juni 2004 jährte sich nicht nur die Landung der alliierten Truppen zum 60. Mal, sondern auch eines der schrecklichsten Massaker, das Deutsche im Zweiten Weltkrieg begangen haben: Im Zuge so genannter Vergeltungsmaßnahmen wurden mindestens 642 Bewohner der zentralfranzösischen Ortschaft Oradour-sur-Glane von in die Normandie vorrückenden Angehörigen der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ grausam umgebracht. „Oradour“ wurde in Frankreich zu einem Symbol des Schreckens der deutschen Besatzung und stand deshalb auch im Mittelpunkt der Ahndung deutscher Kriegsverbrechen. Der „strafrechtlichen Aufarbeitung der Besatzungszeit in Frankreich“ wurde, wie Claudia Moisel in der Einleitung ihrer Untersuchung mit Recht betont (S. 10), lange Zeit kaum Beachtung geschenkt, obwohl sie, wie Forschungen zur Frühgeschichte der Bundesrepublik seit Mitte der 1990er-Jahre mehrfach gezeigt haben, eines der Kernprobleme der Geschichte der Westintegration darstellt.1 Gleichwohl fehlte bisher eine Monografie zu diesem Themengebiet. Diese Lücke konnte durch Moisels Studie nun auf breiter Archivbasis und durch eine erstmalige Auswertung auch französischer Quellen geschlossen werden.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile unterschiedlichen Umfangs. Während der erste Teil (S. 19-40) als zweite Einleitung fungiert und einen kurzen Überblick über die deutsche Besatzungszeit von 1940 bis 1944 gibt, befasst sich der zweite Teil und Kern des Buches in 11 Abschnitten (S. 41-181) ausführlich mit den einzelnen Aspekten der französischen Kriegsverbrecherpolitik und ausgewählten Militärgerichtsverfahren. Der dritte, wiederum kürzere Teil (S. 183-241) kontrastiert das französische Vorgehen mit der Verfolgung bzw. Nicht-Verfolgung derselben Personengruppe in der frühen Bundesrepublik.

Zeitlich vom Untertitel des Buches abweichend, für Politik und Praxis der Strafverfolgung nach 1945 aber von entscheidender Bedeutung ist es, dass bereits die französischen Exil-Regierungen in London und Algier Konzepte für die Ahndung der deutschen Kriegsverbrechen erarbeitet hatten. So konnte Frankreich schneller und umfassender als die anderen Londoner Exil-Regierungen, aber auch als England und die USA, auf das Problem der strafrechtlichen Verfolgung reagieren (S. 52ff.). Bei der Entwicklung neuer Rechtsgrundsätze (S. 59ff.) bildete sich deshalb recht schnell eine juristische Argumentationsfigur heraus, die in der Folge eine wichtige Rolle spielen sollte und von der einschlägigen deutschen Rechtsprechung nach 1949 entscheidend abweicht: Nicht (nur) einzelne Täter, sondern ganze Personengruppen sollten aufgrund der Zugehörigkeit zu kriminellen Organisationen oder an Kriegsverbrechen beteiligten militärischen Einheiten ohne den Beweis individueller Verantwortlichkeit vor Gericht gebracht werden.

Die Suche nach deutschen Kriegsverbrechern begann auf französischer Seite im Herbst 1944 in den Gefangenenlagern. Aus Angst vor Repressalien gegen französische Kriegsgefangene auf deutschem Boden wurden die entsprechenden Prozesse aber auf die Zeit nach dem Krieg vertagt. Neben SS-Einheiten wurden, den vorher entwickelten Grundsätzen folgend, auch ganze Wehrmachtseinheiten, die in Kriegsverbrechen verwickelt waren, in Gefangenschaft belassen. Die harten Urteile gegen deutsche Kriegsverbrecher in der unmittelbaren Nachkriegszeit können mit einem speziellen französischen Vergeltungsbedürfnis erklärt werden, wie auch das Vorgehen gegen die Kollaborateure aus den eigenen Reihen zeigt. Hier überschnitten sich die „justitielle Ahndung der deutschen Verbrechen mit der politischen Säuberung der kompromittierten französischen Eliten in Politik und Verwaltung, Justiz und Militär“ (S. 238). Dass theoretische Konzepte und ihre praktische Umsetzung oft auseinander klaffen, kann Moisel am Beispiel Frankreichs eindrücklich illustrieren: Im Zuge des beginnenden Ost-West-Konfliktes wurde die großzügige Auslieferungspolitik von amerikanischer und britischer Seite nahezu gestoppt. Richteten sich diese Maßnahmen ursprünglich gegen die zahlreichen Ersuchen aus Osteuropa, so war ab Herbst 1946 auch Frankreich von der Verhandlungsbereitschaft der Amerikaner und Briten in der Frage der deutschen Kriegsverbrecher direkt betroffen: Die „anglo-amerikanische Wende in der Auslieferungsfrage“ (S. 117) fällte zu einem relativ frühen Zeitpunkt eine Entscheidung darüber, welche Personen sich überhaupt noch vor französischen Gerichten zu verantworten hatten.

Im Zuge der Ermittlungen zum Oradour-Prozess stellte sich die bedeutsame Frage, wie mit den am Massaker beteiligten elsässischen Soldaten umzugehen sei. Sollte es getrennte Verfahren für deutsche und von den deutschen Besatzungsbehörden zum Waffendienst gezwungene französische Täter geben? Der Text des „2. Kriegsverbechergesetzes“ vom September 1948 verlangte – im Sinne der Überlegungen der Exil-Regierung – von den Angeklagten den jeweils individuellen Beweis, sowohl zur Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation gezwungen worden zu sein als auch an dem zur Last gelegten Verbrechen NICHT teilgenommen zu haben. Der Oradour-Prozess (S. 159-167) begann am 12. Januar 1953. Am 28. Januar beschloss das französische Parlament, die gemeinsame Anklage von Deutschen und Franzosen für ungültig zu erklären. Am 19. Februar 1953 wurde ein Amnestiegesetz erlassen, dass die zuvor verurteilten 14 französischen Täter – im Gegensatz zu den 6 deutschen Verurteilten – wieder auf freien Fuß setzte. Kurz vor der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages wurden im Dezember 1962 auch die letzten deutschen Kriegsverbrecher aus französischen Gefängnissen entlassen.

Die Kriegsverbrecherfrage war allerdings noch nicht abschließend geklärt: Das Gesetz über die „Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 26. Dezember 1964 formulierte die direkte Antwort Frankreichs auf die erste deutsche Verjährungsdebatte, in der sich mit der Frist 1965 ein Ende der Strafverfolgung abzeichnete. Wenn auch von Moisel nur angedeutet, zeigt die Gegenüberstellung der betreffenden Parlamentsdebatten doch klare Optionen auf, die in der deutschen Diskussion nicht ergriffen wurden bzw. nicht ergriffen werden konnten. So blieb es beim am 25. März 1965 beschlossenen Verfahrenskompromiss (Verlängerung der Verjährungsfrist) mit seinen bekannten Folgen: Es fand kein weiteres Verfahren gegen namentlich bekannte und unbehelligt auf dem Gebiet der Bundesrepublik lebende Teilnehmer bzw. Befehlsgeber des Massakers von Oradour statt. In der Folge weigerte sich die französische Militärjustiz, die deutschen Prozesse aktiv zu unterstützen, da die Rechtshilfe eher eine Nicht-Bestrafung der deutschen Täter begünstigte (Überleitungsvertrag). Im Juni 1969 wurde die Verjährungsfrist erneut verlängert. Erst mit dem nach langem Ringen im Januar 1975 zustande gekommenen deutsch-französischen Zusatzabkommen waren erneute Ermittlungsverfahren gegen die in Frankreich in Abwesenheit verurteilten Kriegsverbrecher auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik möglich. Der Lischka-Prozess in Köln (1965–1980) war allerdings der einzige Prozess, dessen Zustandekommen durch das Zusatzabkommen ermöglicht wurde.

Moisel gelingt es auf beeindruckende Weise, die äußerst komplizierten Hürden der juristischen Aufarbeitung der in Frankreich verübten nationalsozialistischen Gewaltverbrechen darzustellen, die sich aus den verschiedenen Rechtsgrundlagen (Völkerrecht, Besatzungsrecht, Militärgerichte), den politischen Debatten zwischen den Alliierten, zwischen Deutschland und Frankreich sowie der Passivität der deutschen Behörden bei der Strafverfolgung von Kriegverbrechen ergeben haben. Gerade die Abschnitte über die bisher wenig erforschte Kriegsverbrecherpolitik der Résistance erbringen viele neue Einsichten. Das Anliegen, auf die Interdependenz von Justiz, Politik und öffentlicher Meinung exemplarisch an Präzedenzfällen und Prozessen gegen zentrale Figuren der deutschen Besatzungspolitik einzugehen, hat Moisel – mit zwei kleinen Einschränkungen – ebenfalls überzeugend eingelöst. Die Rezeption der Prozesse in der Öffentlichkeit (S. 10) wird nur an einzelnen und sehr selektiven Pressestimmen „gemessen“. Auch wenn im Rahmen einer Monografie nicht zu bewältigen, so scheint mir nicht nur in diesem konkreten Zusammenhang eine eingehendere Untersuchung auch der Perzeption von einzelnen NSG-Prozessen in der Öffentlichkeit in Form einer umfassenden Medienanalyse für die Zukunft dringend geboten.

Darüber hinaus hätten die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Rechtsprechung noch stärker herausgearbeitet werden müssen. Das Gesetz über die „Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erlaubte es, auch noch Jahre später Klaus Barbie vor Gericht zu stellen. Bei Prozessen gegen französische Täter, in der Regel hohe Funktionsträger des Vichy-Regimes, wurde es ebenfalls angewendet. Dieses Vorgehen lag vielleicht nicht in der ursprünglichen Intention des Gesetzes, war aber eine positive Folgeerscheinung. In der Bundesrepublik bedurfte es hingegen langwieriger Verfahren und komplizierter juristischer Argumentationshilfen (Exzesstäter), um Angeklagte vor Gericht zu bringen. Nichtsdestotrotz: Auch über den engen Kontext der deutschen Kriegsverbrecher in Frankreich hinaus wird Moisels Studie in Zukunft zu den einschlägigen Werken im Bereich der NSG-Prozesse zu zählen sein.

Anmerkung:
1 Brochhagen, Ulrich, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 128-150 (Kapitel 8: Französische Kriegsverbrecher-Prozesse); Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

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