G. Metzler: Der deutsche Sozialstaat

Cover
Titel
Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall


Autor(en)
Metzler, Gabriele
Erschienen
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ayaß, Fachbereich Sozialwesen, Universität Kassel

Neuere Gesamtdarstellungen zur Geschichte des deutschen Sozialstaats im Allgemeinen bzw. der sozialen Sicherung im Besonderen, die nicht gleich Handbücher sind, gibt es nur wenige.1 Schon deswegen verdient die Studie der Tübinger Historikerin Gabriele Metzler Beachtung. Wissenschaftlich-nüchtern hätte der Titel des Buchs lauten können: „Von der bismarckschen Arbeiterversicherung bis zur Pflegeversicherung“. Doch Metzler hat (auch) einen streitbaren politischen Essay geschrieben und ihre These schon in den Titel gepackt.

Das Buch basiert vollständig auf Forschungsliteratur. Die Autorin suggeriert an keiner Stelle, zeitgenössische Veröffentlichungen, Parlamentsdebatten oder gar Archive ausgewertet zu haben. Selbst das „Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege“ wird aus zweiter Hand zitiert (S. 138). Neue Forschungsdetails sind da nicht zu erwarten, allenfalls neue Bewertungen und Gewichtungen, zumal die habilitierte Historikerin zuvor zu keinem Teilbereich der Sozialpolitikforschung ausgewiesen war. Das muss kein Manko sein – vielleicht ist es für Quereinsteiger mit unverdorbenem Außenblick leichter, eine lesbare Überblicksstudie zu schreiben, als für quellenverliebte Spezialisten, die im Detail versinken. Mutig ist Metzlers Vorgehen allemal.

Natürlich bleibt bei einem solchen Ritt über die Jahrzehnte hinweg vieles verkürzt. Das Kapitel über die Entstehung des Sozialstaats im Kaiserreich ist gerade 21 Seiten lang, die Zeit des Nationalsozialismus wird auf 28 Seiten abgehandelt, für die Euthanasie-Morde bleibt lediglich eine Seite. Jeder Spezialist wird für sein jeweiliges Fachgebiet Verkürzungen und Fehlbewertungen finden können. Mich persönlich hat die doch ziemlich veraltete Einschätzung der „Kaiserlichen Sozialbotschaft“ vom 17. November 1881 als „Gründungsurkunde des deutschen Sozialstaats“ geärgert (S. 17). Die Sozialbotschaft wurde im Übrigen nicht von Bismarck entworfen, wie Metzler schreibt, sondern von Robert Bosse, dem Leiter der II. Abteilung im Reichsamt des Innern.2

Im ersten Kapitel wird die Genese der bismarckschen Arbeiterversicherung sehr knapp beschrieben. Die nicht mehr dem Forschungsstand entsprechende „Zuckerbrot und Peitsche“-These wird undifferenziert übernommen. Bismarcks Beweggründe bleiben eher dunkel, und als politischer Akteur kommt Bismarck insgesamt nicht vor – anders als der Buchtitel es erwarten lässt. Metzler übernimmt auch die weit verbreitete und wohl unausrottbare Behauptung, die bismarckschen Sozialversicherungsgesetze seien auf die Industriearbeiter zugeschnitten gewesen (S. 20, 25f.). Der personale Geltungsbereich der Unfallversicherung (nimmt man die von der Forschung wenig beachteten vier Ausdehnungsgesetze hinzu), der Krankenversicherung und der Rentenversicherung ging jedoch schon zu Bismarcks Zeiten weit über die Fabriken hinaus. Zum Beispiel erfasste die gesetzliche Krankenversicherung von Anfang an sämtliche Handwerksgesellen, die (ausgedehnte) Unfallversicherung auch land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und die Rentenversicherung vom ersten Tag an alle „Personen, welche als Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden“.

Überzeugender wird Metzlers Beschreibung und Analyse für die Zeit nach Bismarck. Wesentliche Elemente des deutschen Sozialstaats wie die Etablierung des Arbeiterschutzes, die Ausgestaltung des Arbeitsrechts und den Aufbau städtischer Sozialpolitik schildert Metzler eingehend. Es folgt ein ausführliches Unterkapitel über die Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg; in Übereinstimmung mit der Forschung sieht Metzler ihn als Schrittmacher der Sozialpolitik und das Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 als „Meilenstein in der Geschichte der Arbeitsbeziehungen“ (S. 49). Ein Abschnitt zum „überforderten Wohlfahrtsstaat“ in der Weimarer Republik ist vor allem dem Problem der Regulierung des Arbeitsmarktes und des verwickelten Aufbaus der Arbeitsvermittlung bzw. der Arbeitslosenversicherung gewidmet. Die Jahre 1880 bis 1930 mit Kaiserreich, Weltkrieg und Weimarer Republik fasst Metzler recht plausibel als Einheit zusammen, macht damit aber unausgesprochen deutlich, dass das meiste, was wir heute unter „Sozialstaat“ verstehen, erst nach Bismarck entstanden und nicht auf ihn zurückzuführen ist.

Im zweiten Kapitel verlässt Metzler ihr chronologisches Vorgehen, zieht eine Zwischenbilanz und diskutiert die Frage, warum Sozialstaaten im Modernisierungsprozess entstehen. Am Beispiel des Aufstiegs der Rassenhygiene analysiert die Autorin eingehend die Ambivalenzen des Sozialstaats.

Für die sozialpolitische Einschätzung des Nationalsozialismus stellt Metzler im dritten Kapitel zunächst die massiven Eingriffe in Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen in den Mittelpunkt. Anschließend fällt der Blick auf die vergleichsweise geringen Eingriffe in das Sozialversicherungsrecht, um sich dann wieder der betrieblichen Sozialpolitik zuzuwenden. Der Sozialstaat der NS-Zeit wird nicht nur rassen-, sondern auch klassenbezogen beschrieben. Die Sozialpolitik „zielte in erster Linie auf die Arbeiterschaft, die für das Regime gewonnen werden sollte“ (S. 135). Insgesamt „verschärften sich die schon vorher angelegten Tendenzen zu Aussonderung und Exklusion zu Fragen von Leben und Tod“ (S. 126). Irrig ist allerdings die gleich an zwei Stellen (S. 122, 126) vorgetragene Behauptung, der Ausschluss „Minderwertiger“ und „Erbkranker“ von sozialen Leistungen sei mit dem Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft verbunden gewesen. So weit gingen nicht einmal die radikalsten Entwürfe des „Gemeinschaftsfremdengesetzes“.

Das vierte Kapitel behandelt die Entwicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute. Zunächst werden die Kontinuitätslinien herausgearbeitet, die insbesondere für Westdeutschland galten, während SBZ bzw. DDR die bis dahin beschrittenen Pfade doch recht weitgehend verlassen konnten. Die Rentenreform des Jahres 1957 schätzt Metzler als „Richtungsänderung im deutschen Entwicklungspfad“ ein: Seither begann die deutsche Sozialpolitik spekulative Züge zu entwickeln, da sie auf positive wirtschaftliche Weiterentwicklung setzte (S. 178f.). Renten waren nun nicht mehr Zuschuss zum Lebensunterhalt, sondern eine Lohnersatzleistung, die die individuelle Lebensarbeitsleistung widerspiegeln sollte.

Um 1972/73 habe die Expansion des westdeutschen Sozialstaats den Höhepunkt erreicht. Nun folgten sozialpolitisch eher magere Jahre, in denen allerdings in Teilbereichen wie der Einführung des Erziehungsgeldes und Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung weiterhin munter expandiert wurde. Demografischer Wandel und die Transformation der Erwerbsgesellschaft – so Metzler – sind allerdings strukturelle Krisenfaktoren, die durch die bald einsetzenden Sparmaßnahmen nicht in den Griff zu bekommen waren, zumal die sich aus der Wiedervereinigung ergebenden Schwierigkeiten die Problemlagen des deutschen Sozialstaats nochmals drastisch verschärften (S. 199).

Im fünften und sechsten Kapitel wendet sich Metzler ganz den aktuellen Krisendiskursen zu. Man kann diese Kapitel auch völlig eigenständig lesen. In ihnen wird die gegenwärtige Krise des deutschen Sozialstaats eingehend analysiert, die die Autorin als historisch gewachsen und nicht nur in der aktuellen Wirtschaftslage begründet sieht. Ohne strukturelle Änderungen (welche eigentlich?) sei nichts mehr zu retten, und ob diese überhaupt stattfinden können, schätzt Metzler eher skeptisch ein. Die enorme Pfadabhängigkeit des einmal beschrittenen Wegs, die Vetomacht recht vieler Akteure und insbesondere die Ausrichtung der deutschen Sozialversicherung auf eine Erwerbsgesellschaft mit „Normalarbeitsverhältnissen“ mache eine Umkehr äußerst schwierig. Sparpolitik und Reduktion sozialer Leistungen könnten allein nichts Entscheidendes bewirken. Insgesamt also düstere Aussichten, zumal ein europäischer Sozialstaat nicht zu erwarten sei und die Globalisierung mehr Risiken als Chancen biete.

Das Buch ist flott, mit viel Esprit geschrieben und zielt erkennbar auf ein breites Publikum. Doch die Machart bleibt etwas fragwürdig. Metzler verzichtet fast ganz auf Annotationen und kommt mit ganzen 45 Fußnoten aus. Das diene der „besseren Lesbarkeit“ (S. 15), als ob man jemanden zwingen könnte, Fußnoten zu lesen. Selbst wörtliche Zitate werden bisweilen nicht belegt (S. 134). Wiederholt wird ohne Nachweise auf einen kontroversen Forschungsstand hingewiesen – da wüsste man gern genauer, wer sich streitet (S. 63f., 76, 135).

Trotz aller kritischen Anmerkungen im Detail: In der Haupttendenz kann man Gabriele Metzler folgen. Insgesamt hat sie ein zu Diskussionen anregendes und überaus lesenswertes Buch geschrieben, das im „Diskurs“ über den deutschen Sozialstaat wohl eine größere Rolle spielen wird als in der Forschung über dessen Geschichte.

Anmerkungen:
1 Ritter, Gerhard A., Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998; Stolleis, Michael, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart 2003.
2 Bismarck hat den Entwurf Bosses allerdings eingehend bearbeitet. Zur Genese der Kaiserlichen Sozialbotschaft vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Florian Tennstedt und Heidi Winter, Darmstadt 2003, Nr. 1-9.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension