I. Schneider u.a. (Hgg.): Diskursgeschichte der Medien nach 1945

Cover
Titel
Medienkultur der 60er Jahre.


Herausgeber
Schneider, Irmela; Hahn, Torsten; Bartz, Christina
Reihe
Diskursgeschichte der Medien nach 1945 2
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Albrecht, Institut für Soziologie, Universität Koblenz/Landau

Seit Niklas Luhmann wissen wir, dass die Beobachtung von Beobachtern etwas irgendwie Modernes ist, das mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme zu tun hat. Welcher Gegenstand liegt also einer modernen Kommunikationswissenschaft näher, als die Beobachtung zweiter Ordnung, eine Diskursgeschichte der Medien?

Der Band, Produkt des Kölner SFB 427 „Medien und kulturelle Kommunikation“, widmet sich dieser Aufgabe mit Verve. Während Band 1 der „Diskursgeschichte der Medien nach 1945“ die 1950er-Jahre behandelte und zeigte, wie sich die Funktion der neuen elektronischen Medien herausbildete, die dann zur Eigenschaft der Medien schlechthin erklärt wurde, möchte der zweite Band anhand der 1960er-Jahre nachweisen, dass der Diskurs durch das neue Leitmedium Fernsehen auch mit einer neuen Leitunterscheidung versorgt wurde: der Gegensatz lokal/global strukturiere, so die Herausgeber in der Einleitung, ihn neu, indem die Medien gleichzeitig Globalität vermitteln und als deren wesentlichstes Element reflektiert werden. Im Wohnzimmer werde das Globale mit dem Lokalen kurzgeschlossen, indem der Tisch in die Peripherie abwandere und durch den Fernseher abgelöst werde.

Die folgenden Beiträge sind unter vier Überschriften versammelt, deren Zusammenhang sich freilich auch auf den zweiten Blick nicht erschließen lässt: Teil 1. „Fernsehen: Aktualisierungen des Globalen“ enthält drei Beiträge: Andreas Rosenfelder untersucht als zentrales Fernseh-Ereignis die Mondlandung im Juli 1969, die von Beginn an als Medienereignis geplant und inszeniert wurde, Christina Bartz die Rolle des Sports, Torsten Hahn den Vietnam-Krieg. Teil 2 „Konstruktionen des Lokalen“ behandelt nun aber nicht den Heimatfilm, sondern die Entwicklung der Publikumsforschung. Hier wechselt die Leitunterscheidung also auf Sender/Empfänger. Irmela Schneider strukturiert den Diskurs über die Fernsehzuschauer in drei Leitkonzepte: den „diätisch betreuten, den zu disziplinierenden und den aktiven Zuschauer“, wobei sich ein Entwicklungsprinzip abbildet: Der Diskurs über die Bildungsmöglichkeiten des Fernsehens verflüchtigt sich umgekehrt proportional zu der Anzahl der Sender. Seit der Einführung des ZDF geht es dann nicht mehr um Fragen der Bildung, sondern der Bindung. Nicolas Pethes zeigt schön die Aporie der sozialpsychologischen Gewaltforschung anhand der weniger bekannten Milgram-Experimente: solange Gewalt eine Form abweichenden Verhaltens ist, kann ein Experiment nicht das Mittel sein, ihre Verursachung durch Medien festzustellen.

Im 3. Teil „Techniken der Globalisierung“ schildert zunächst Jens Ruchatz die Geschichte der Eurovision, die, aus ökonomischen Gründen geboren, doch schon bald mit Hoffnungen auf eine grundlegende Verbesserung der internationalen Beziehungen belegt wurde. Die Krönung Elisabeth II. 1953 war als europäisches Fernsehereignis ein Höhepunkt, dem immer wieder nachgestrebt wurde. Das östliche Gegenstück, die Intervision, kam dagegen nie recht aus den Startblöcken. Weiter beschreibt Peter M. Spangenberg eine neue Generation von Radiogeräten, die ab Mitte der 1960er-Jahre allein durch ihre Displays die Präsenz aller Weltstädte in den Wohnzimmern verhießen, und Jana Herwig referiert die in den 1960er-Jahren erschienenen Spiegel-Artikel zum Thema Computer.

Warum der 4. Teil in einem Band, der ohnehin nur Diskursgeschichte sein möchte, ausdrücklich drei Artikel unter den Überschrift „Kommentierungen der globalen Medienkultur“ zusammenfasst, entzieht sich der Einsicht des Rezensenten. Oliver Fahle begründet hier, warum die nouvelle vague und besonders die Filme Jean-Luc Godards als Antwort auf das Fernsehen zu sehen sind, Rainer Leschke zeigt die Aporien der permanenten Grenzüberwindung, die zu den beliebtesten Metaphern der Interpreten neuer Medien wurde, aber doch immer irgendwelche Grenzen voraussetzt, und Brigitte Weingart gibt noch einmal die wichtigsten Einsichten McLuhans wieder.

Soweit eine erste Übersicht. Was ist der Ertrag des Bandes? Zunächst fällt, wie bereits angedeutet, die konzeptionelle Schwäche ins Auge. Selbst Sonderforschungsbereiche scheinen nicht mehr die Integrationskraft zu besitzen, um verschiedene Teilstudien in ein einheitliches theoretisches Koordinatensystem einzubinden. Am Ende stehen dann keine Handbücher oder gar Gemeinschaftspublikationen mit monografischem Charakter, sondern typische Sammelbände, die disparate Teilstudien unter mehr oder weniger willkürlichen Überschriften versammeln. Die hier und dort eingestreuten systemtheoretischen Argumente sind nicht in dem Grade verbindlich, dass sie die Beiträge gegeneinander strukturierten, und reichen nur vereinzelt an das Niveau heran, das Luhmanns XX. Kapitel „Die Massenmedien und ihre Selektion von Selbstbeschreibungen“ vorgibt.1

Einzig die „Methode“ Diskurstheorie liefert eine Klammer, freilich eine vage, mit den ihr eigenen Problemen. Denn der Gewinn einer Diskursanalyse besteht ja gerade in den Freiheitsgraden: sie interessiert sich nicht mehr dafür, wie die Dinge sind, sondern wie die Leute darüber reden. Und reden kann man so oder auch anders. Diskursanalyse lässt aber offen, welches Gerede denn nun richtig ist. Deshalb ihr konstruktivistischer Gestus. Den Leser läßt sie nicht selten mit dem schalen Geschmack eines Tantalos zurück. Immer wenn er wissen möchte: Ja, wie is’ es denn nun?, werden die Trauben höher gehängt.

Erst an diesem Punkt entscheidet sich nun, ob diskursanalytische Argumentation in ein Spiegelkabinett von Ansichten führt, oder ob ihr die wesentlichste Aufgabe wissenschaftlicher Argumentation gelingt: die Komplexitätsreduktion, der Abbau von Freiheitsgraden durch Erkenntnis, indem der Diskurs selbst zum Gegenstand wird und am Ende in seinem „So-und-nicht-anders-geworden-sein“ (Max Weber) erklärbar wird. Erst diese Spannbreite zwischen misslungener, weil in Ansichten über Ansichten stecken gebliebener Diskursanalyse und ihrem – meist wissenssoziologischen – Erkenntnispotential erklärt den höchst unterschiedlichen Nutzwert des Bandes. In ihm finden sich neben stilistisch-gedanklichen Monstrositäten à la „Der Programminhalt Sport markiert lange Zeit die inhaltliche Bestimmung des Fernsehens” (S. 36) auch glänzende Einsichten: wenn etwa Andreas Rosenfelder die sakrale Semantik der amerikanischen Weltraumrhetorik analysiert und am Ende aufdeckt, dass die deutschen Fernsehstudios aufgrund eines eklatanten Mangels an von der NASA bereitgestellten Bildern die Landephase im Modell nachbauten; wenn Torsten Hahn zeigt, wie der Einzug der „kritischen Berichterstattung“ die Suggestion erlaubte, als gäbe es jenseits der Berichterstattung noch die Position eines externen Beobachters; oder wenn Jens Ruchatz zeigt, dass am Ende der Mondovision die sehr reale Hegemonie der amerikanischen Studios steht.

Wie auch sonst besteht ein wesentlicher Ertrag des Buches nicht in dem, was in ihm niedergeschrieben ist, sondern was selbstverständlich vorausgesetzt wird. Etwa die – interaktionistisch gesehene – Absurdität, dass wohl von „Konstruktionen des Lokalen“ die Rede ist (obgleich die Nah-Welt doch immer da ist), während Globalität eine soziale Tatsache sui generis zu sein scheint, die keiner Konstruktion bedarf. Auch hätte man sich von einer zeithistorischen Publikation wenigstens einen quellenkritischen Hinweis erwünscht, warum der Spiegel und seine Artikel im Zentrum fast aller Analysen stehen. Sind nur hier alle wichtigen Diskurse über Medien in den 1960er-Jahren publiziert worden? Oder hatte die Projektleitung nur eine vollständige Ausgabe dieser Jahrgänge im Bücherschrank?

Wichtiger als Quellenkritik jedoch ist, dass in einem Buch über die „Medienkultur der 60er Jahre“ keine einzige Überlegung zu Buch und Zeitungen zu finden sind: Medien sind hier ganz selbstverständlich Radio, Fernsehen, Film und ein bisschen Computer. Und das in einer Zeit, in der die Bibliothek Suhrkamp zur Institution wurde, in der Bücher noch breite Debatten auslösten und sich zu Hundertaussenden verkauften! Hier ist dagegen eine klare Abstufung auszumachen: 1. das Fernsehen, auf das 2. Intellektuelle in Zeitschriften reflektieren, um nun 3. von Kommunikationswissenschaftlern untersucht zu werden. Aber Medium ist nur 1, Diskurs 2, und 3. natürlich Wissenschaft jenseits der Beliebigkeit von Diskursen. Insofern scheint der Titel des Bandes doch reichlich überspannt: Hier geht es nicht um Medien, schon gar nicht um Kultur, sondern um die Frage, wie in Büchern und Zeitschriften über das Fernsehen reflektiert wurde. Aber selbst das kann, wie angezeigt, durchaus brauchbare Einzelerkenntnisse generieren.

Anmerkung:
1 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 1096ff.

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