T. Großbölting u.a. (Hgg.): Die Errichtung der Diktatur

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Titel
Die Errichtung der Diktatur. Transformationsprozesse in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR


Herausgeber
Großbölting, Thomas; Thamer, Hans-Ulrich
Erschienen
Münster 2003: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Friedrich-Meinecke-Institut, Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Freie Universität Berlin

Welcher Stellenwert kam den sozialen Prozessen, Strukturen und Beziehungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR im Verhältnis zur diktatorischen Herrschaft des SED-Regimes zu? Wie weit reichte die „Durchherrschung“ 1 der staatssozialistischen Gesellschaft? Inwiefern vollzog sich in ihr eine „Entdifferenzierung“ 2 der sozialen Strukturen und Subsysteme? Auf diese Fragen hat sich seit 1990 die Sozialgeschichtsschreibung zur DDR konzentriert. Der von Hans-Ulrich Thamer und Thomas Großbölting herausgegebene Band bietet eine vorläufige Bilanz dieser Forschungsrichtung. Die Aufsätze untersuchen anhand der ländlichen Gesellschaft, des gewerblich-industriellen Mittelstandes und der Aufnahme der „Umsiedler“, dem offiziellen Euphemismus für die Flüchtlinge und Vertriebenen, exemplarisch die soziale Transformation, die sich in der SBZ bzw. frühen DDR von 1945 bis zu den frühen 1950er-Jahren vollzog. Dabei konzentrieren sich die Studien zum Wandel dörflich-agrarischer Milieus und zur Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen auf Mecklenburg-Vorpommern, während sich die Untersuchungen zu den mittelständischen Privatunternehmen auf Sachsen-Anhalt und Thüringen beziehen.

Zu Recht betonen Thamer und Großbölting einleitend die Nivellierung und Entdifferenzierung, die das SED-Regime in der Nachkriegsgesellschaft gezielt vorantrieb, zunächst vor allem durch die Boden- und Industriereform, die mit dem beginnenden Übergang zur Zentralplanwirtschaft schließlich in die Enteignung wirtschaftsstarker Bauern und Unternehmer mündeten. Allerdings wird schon in der Einleitung, vollends aber in den einzelnen Beiträgen deutlich, dass sich daneben eine weit reichende Redifferenzierung vollzog, die z.T. sogar von den Machthabern bewusst angestrebt wurde. Entdifferenzierung und Redifferenzierung überlagerten sich in der „Umbruchgesellschaft“ 3 der SBZ und frühen DDR. Ebenso vielschichtig war das Verhältnis von Kontinuität und Wandel, wie Thamer in seinem Beitrag überzeugend zeigt. In breiter Perspektive ordnet er das SED-Regime in die neuere deutsche Geschichte ein, indem er auf die Prägekraft autoritär-obrigkeitsstaatlicher Einstellungen verweist, welche die Durchsetzung der staatssozialistischen Diktatur in der SBZ/DDR ebenso erleichterten wie der „Antifaschismus“ als Legitimationsideologie und Inspirationskraft des Neuaufbaus.

Demgegenüber neigt Sabine Marquardt zu eindimensionalen Interpretationen, die der Komplexität der Transformation in der SBZ/DDR nicht gerecht werden. Zwar zeichnet sie anschaulich und zutreffend die rigorose Enteignung der Gutsbesitzer nach der im Herbst 1945 in Angriff genommenen Bodenreform, die Aufteilung ihres Landes und deren Folgen nach. Marquardts Polemik gegen Interpretationen, welche (tatsächlich oder vermeintlich) die politischen Ziele der Bodenreform zugunsten der ökonomischen Motive dieses Eingriffs in die Eigentumsstruktur vernachlässigen, verstellt aber die Einsicht in die spezifische Verflechtung politischer Ziele und wirtschaftlicher Faktoren. So konnte das – unstreitig wichtige – Ziel der Klientelbildung auf dem Lande letztlich nur erreicht werden, wenn die ökonomischen Interessen zumindest einzelner Gruppen – z.B. der „Umsiedler“ – berücksichtigt und aufgenommen wurden.

Die dörfliche Bevölkerung und die traditionalen Eliten sahen sich auf dem Lande einer Zwangslage ausgesetzt, in der sie um die Wahrung ihrer Handlungsspielräume bemüht waren. Die daraus resultierenden Arrangements mit den Machthabern in der kommunistischen Partei und in der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) konturiert Jochen-Christoph Kaiser anschaulich am Beispiel des Verhaltens von Vertretern der Landes- und Provinzialkirchen gegenüber der Bodenreform. Die Kirchenoffiziellen bestanden vor allem auf der Wahrung ihrer Rechtspositionen und der Unantastbarkeit des kirchlichen Eigentums, verzichteten aber weitgehend auf darüber hinausreichende öffentliche Stellungnahmen gegen die Landumverteilung. Auch Jens Murken betont in seinem Beitrag zu Recht das herrschaftspolitische Ziel der Machthaber in der SBZ, die Bauern von ihren traditionalen Selbsthilfe- und Standesorganisationen wie den Genossenschaften zu lösen und sie in die 1946 gegründete Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) zu überführen. Jedoch bot die neue Organisation den Landwirten auch wirtschaftliche Hilfe an. Die Mobilisierung der bäuerlichen Bevölkerung für die SED-Politik gelang damit zwar letztlich, verlief aber keineswegs geradlinig.

Die Aufsätze von Rüdiger Schmidt, Thomas Großbölting und Armin Owzar behandeln die Umwälzung, welche die SED-Führung und die SMAD im privatindustriellen Unternehmertum und im gewerblichen Mittelstand herbeiführte. Wie Schmidt betont, behinderten in Brandenburg Kompetenzkonflikte und unklare Zuständigkeiten das Sequesterverfahren, das den Machthabern die Kontrolle über industrielle Schlüsselbetriebe sichern sollte. Die Rolle der betroffenen Unternehmer in der nationalsozialistischen Diktatur war demgegenüber nachrangig. Die Wirkungsmacht einer strukturalistischen Faschismusdoktrin, die nicht auf individuelles Verhalten abhob, sondern auf „den Kapitalismus“, akzentuiert auch Thomas Großbölting in seinem Beitrag über die Marginalisierung privater Kleinunternehmer in Sachsen-Anhalt in den späten 1940er-Jahren. Während unabhängige Gewerbetreibende vor allem im Handel noch 1948 stark vertreten waren, beschleunigte sich nach dem Aufbau der staatlichen Deutschen Handelszentrale die Verdrängung der Großhändler. Mit der Durchsetzung der zentralen Planwirtschaft wurde auch die Verstaatlichung in der Leicht- und Konsumgüterindustrie vorangetrieben, in der Privatunternehmer 1947/48 noch über eine deutlich stärkere Position verfügten als in der Grundstoff- und Schwerindustrie. Dennoch konnten Unternehmer, die nicht von der Sequestrierungs- und Enteignungspolitik erfasst worden waren, bis zu den frühen 1950er-Jahren hoffen, die Kontrolle über ihre Betriebe bewahren zu können. Wie Owzar zeigt, verlieh diese optimistische Erwartungshaltung Arrangements der Gewerbetreibenden mit den Machthabern kräftig Auftrieb. Diese Konstellation ist jedoch nur als „interaktives Verhältnis“ (S. 178) zu interpretieren, wenn die beträchtliche Asymmetrie der Beziehungen gebührend in Rechnung gestellt wird.

Ein „Nebeneinander von Integration und Repression“ (S. 187) kennzeichnete auch die Politik der SED-Führung gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen, deren Aufnahme und Verhalten in der Nachkriegsgesellschaft in den Beiträgen von Michael Grottendieck, Michael Schwartz und Heike van Hoorn dargelegt werden. Auf ihre Atomisierung und ihre gesellschaftliche Isolierung gegenüber den Alteingesessenen reagierten die „Umsiedler“ mit der Gründung gesonderter Organisationen, deren Aktionsraum Grottendieck exemplarisch konturiert. Allerdings blieb die Bildung dieser Verbände, die z.T. auch von SED-Mitgliedern unterstützt wurden, ebenso wie die Konstituierung der „Umsiedlerausschüsse“ einer „Politik der kontrollierten Partizipation“ (S. 201) verhaftet, die 1948 in die rigorose Unterdrückung der Vertriebenenverbände mündete. Mit ihrer Politik der Entdifferenzierung und Nivellierung durch Repression und Privilegierung jeweils unterschiedlicher Vertriebenengruppen verursachte die SED-Führung neue gesellschaftliche Gegensätze und Auseinandersetzungen. So schürten die Vorzüge, die „Antifa-Umsiedlern“ aus der Tschechoslowakei gewährt wurden, den Neid alteingesessener Bewohner und anderer Flüchtlingsgruppen. Zugleich verbreitete sich unter den „Antifa-Umsiedlern“, deren Ansiedlung Heike van Hoorn exemplarisch für die brandenburgische Gemeinde Zinna nachzeichnet, angesichts der katastrophalen Lebensbedingungen schnell eine weit reichende Desillusionierung. Mit ihren Bestimmungen zum Umgang mit Vertriebenensparguthaben steigerten die Finanzverwaltung der SMAD und die zuständigen deutschen Verwaltungen nicht nur das Misstrauen zwischen den Flüchtlingen und der alteingesessenen Bevölkerung, sondern sie vertieften auch die Ressentiments innerhalb der Gruppe der „Umsiedler“. Wie Michael Schwartz verdeutlicht, fehlten in den SBZ letztlich Instanzen, welche die Beschwerden der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen aufnehmen und damit die Folgeprobleme der fehlgeleiteten SED-Politik politisch-gesellschaftlicher Inklusion bzw. Exklusion beseitigen konnten.

Insgesamt zeigen die durchweg umfassend und solide recherchierten Beiträge des Bandes die Ambivalenz von Entdifferenzierung und Redifferenzierung, Umbruch und Kontinuität sowie Integrationsangeboten und Zwang. Dabei tritt die Variationsbreite des Verhaltens der jeweils untersuchten gesellschaftlichen Gruppen gegenüber der Politik der sowjetischen und deutschen Machthaber in den einzelnen Beiträgen deutlich hervor, in den einzelnen Aufsätzen allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Wie dargelegt, gelingt es den AutorInnen auch nicht gleichermaßen überzeugend, die Herrschaftspolitik analytisch auf die Interessen, Hoffnungen und Erwartungen der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen zu beziehen. Daraus ergaben sich vielfältige Arrangements, die bereits aus der gesellschaftlichen Transformation von 1945 bis 1952 hervorgingen. Die konkreten Fallstudien, die der Band vereint, bilden damit wichtige Bausteine weiterer politik- und sozialhistorischer Studien, die den insgesamt noch engen zeitlichen und räumlichen Untersuchungsrahmen der bisherigen geschichtswissenschaftlichen Forschung zur DDR erweitern werden.

Anmerkungen:
1 Kocka, Jürgen, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut (Hgg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553; Lüdtke, Alf, „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur missmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: ebd., S. 188-213, hier S. 188.
2 Meuschel, Sigrid, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt am Main 1992, S. 10-12 (hier aber auch Hinweis auf „Redifferenzierung“). Vgl. auch Lepsius, M. Rainer, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: Kaelble, Kocka, Zwahr (Hgg.), Sozialgeschichte (wie Anm. 1), S. 17-30, hier S. 18-20.
3 Kleßmann, Christoph, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1986, S. 37.

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