A. Wilczek: Das DDR-Kombinat und die Lebenslage seiner Beschäftigten

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Titel
Einkommen, Karriere, Versorgung. Das DDR-Kombinat und die Lebenslage seiner Beschäftigten


Autor(en)
Wilczek, Annette
Erschienen
Berlin 2004: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das Buch, die leicht bearbeitete Version einer im Jahr 2002 von der Fakultät für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim angenommenen Dissertation, gewährt Einblicke in ein wichtiges Segment der kleinen DDR-Arbeitswelt. Nach eigenem Bekunden verfolgt Annette Wilczek damit das Ziel, „Veränderungen der Lebenssituation der Bevölkerung in der DDR seit den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein darzustellen und dabei der Frage nachzugehen, welchen Bestimmungsfaktoren diese Entwicklung unterlag“ (S. 9). Der methodische Ansatz, den sie hierfür wählt, ist ebenso einfach wie plausibel: Zwei exemplarisch ausgewählte Kombinate, das kleine Kombinat Elektrogerätewerk Suhl (EGS) und das große, zu den „Flaggschiffen“ der DDR-Industrie zählende Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert“ mit Hauptsitz in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) werden im Hinblick auf die monetären Einkommen ihrer Beschäftigten, deren Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen sowie auf Qualifikation und Aufstiegsmobilität untersucht. Der Untersuchungszeitraum entspricht im Wesentlichen der Existenzdauer der Kombinate.

In der Einleitung, die Gliederung zählt sie als erstes Kapitel, begründet Wilczek ihren Forschungsansatz, resümiert den Forschungsstand und gibt Auskunft zur Quellenüberlieferung für die beiden Kombinate. Insgesamt gesehen, ist die Materialgrundlage für diese Untersuchung nicht üppig, aber doch ausreichend. Im zweiten Kapitel werden die Leitungs- und Organisationsstruktur der Industriewirtschaft und die Kombinatsbetriebe vorgestellt. Nicht unwichtig ist übrigens, dass die Stammbetriebe auf Gründungen von 1874 und 1885 zurückgingen. Man hat es also mit Standorten zu tun, um die herum sich im Laufe der Jahrzehnte ein industrielles Traditionsmilieu etabliert hat. Ein Vergleich mit Kombinaten, die wie das Eisenhüttenkombinat Ost, das Gaskombinat Schwarze Pumpe oder auch das Petrochemische Kombinat Schwedt aus Neubauten in industriearmen Regionen hervorgegangen sind, zeigt aber Unterschiede, die für alle Untersuchungsfelder durchaus relevant waren. Es scheint, als habe Annette Wilczek diesem Umstand zu wenig Bedeutung beigemessen.

Das dritte Kapitel über die Einstellungsbedingungen für Leitungspersonal auf den verschiedenen Hierarchiestufen und für Arbeiter bestätigt im Wesentlichen die schon bekannten Befunde. So zeigen sich auch im Falle der beiden Beispiele erhebliche Diskrepanzen zwischen den Qualifikationsanforderungen laut Arbeitskräfteplan und dem oft niedrigeren Qualifikationsniveau der Neueingestellten. Interessant sind die Einblicke in die Anwerbepraktiken der Betriebe, bei denen eine eigenartige Melange aus Ideologie und Pragmatismus sichtbar wird.

Im vierten Kapitel geht es um die im Betrieb zu erzielenden monetären Einkommen der Beschäftigten, um Löhne und Gehälter, Prämien und Auszeichnungen und auch um die Einflüsse der Arbeitszeiten auf diese Einkommensformen. Wilczek hat sicher recht, wenn sie schreibt: „Das monetäre Einkommen kann als Hauptindikator für die Beurteilung der Lebenssituation von Beschäftigten herangezogen werden, wenn auch im Fall eines sozialistischen Wirtschaftssystems unter eingeschränkten Bedingungen.“ (S. 55) Es hätte sich in dem Zusammenhang gelohnt, etwas ausführlicher auf das seit den 1960er-Jahren immer wieder diskutierte Konzept der „Gesellschaftlichen Fonds“ bzw. der „zweiten Lohntüte“ und damit auf das bereits seit Mitte der 1950er-Jahre aufgekommene Problem des Kaufkraftüberhangs einzugehen.

Die im folgenden Kapitel behandelte Versorgung der Beschäftigten mit Gütern und Dienstleistungen durch den Betrieb wird an den Beispielen von „Gütern des täglichen Bedarfs“, höherwertigen Konsumgütern, Wohnraum und Ferienplätzen beschrieben. Hier entsteht das plastische Bild einer Mangelwirtschaft, deren mitunter bizarre Logik auch in den vorgestellten Betrieben seltsame Blüten trieb. Im Hinblick auf die Versorgung mit Wohnungen werden u.a. auch höchst prekäre Situationen geschildert, die es verständlich machen, weshalb die Wohnungsfrage beim Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker so wirksam instrumentalisiert werden konnte. Die drei Schwerpunkte Konsum, Wohnen, Erholung, so unbestreitbar wichtig sie waren, hätten vielleicht durch das Thema der betrieblichen Kinderbetreuung ergänzt werden sollen. Immerhin handelte es sich hier um eine wesentliche Voraussetzung für die hohe Frauenerwerbsquote der DDR.

Im sechsten Kapitel geht Wilczek auf die Aufstiegschancen und Karriereanreize für höherqualifizierte und leitende Mitarbeiter ein. Auch hier finden sich die in der Sekundärliteratur ausgebreiteten Befunde bestätigt. Skizziert werden die betriebliche Leitungsstruktur und typische Karriereverläufe. Bemerkenswert erscheint die hohe Gewichtung sozialer Kompetenz auch im DDR-Betrieb. Wilczek zeigt zudem, wie die Mitgliedschaft in der SED im Laufe der Zeit immer wichtiger für den beruflichen Aufstieg wurde. Allerdings lag hier auch ein Grund für Karriereverzicht. Monetäre Anreize verloren auf der Leitungsebene an Bedeutung. Die trotz mancher leistungsorientierten Differenzierungsversuche immer wieder zur Nivellierung tendierende Einkommenspolitik zeigte hier ihre Wirkung.

Das letzte Kapitel bietet den Versuch einer „Zusammenschau der beiden Betriebe“. Unter komparatistischem Gesichtspunkt überzeugt sie nicht völlig. Sie bleibt über Strecken bei einem recht empirischen Resümee. Gleichwohl wird eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse geboten.

Mit dem Vergleich zweier nach Größe und Struktur sehr unterschiedlicher Kombinate setzt Annette Wilczek auf Differenzierung. In jedem Kapitel ist für beide Kombinate zum jeweiligen Themenschwerpunkt jeweils ein eigener Unterabschnitt reserviert. Das macht die Darstellung übersichtlich, jedoch entsteht durch die streng eingehaltene Reihenfolge Heckert-Kombinat – Elektrogerätewerk ein vielleicht unbeabsichtigter Nebeneffekt: Die Parallelität wird durch ein Vergleichsmuster aufgebrochen, bei dem das kleinere Beispiel in der Regel auf das größere projiziert wird. Das ergibt durchaus interessante Vergleiche. Gleichwohl fragt man sich, ob damit die Möglichkeit verschenkt wurde, mit Durchschnittsdaten für die DDR oder auch nur für den Industriezweig ein Tertium comparationis einzuführen.

Annette Wilczek wendet sich an einigen Stellen der Frage zu, wie sich die Kombinatsstruktur mit Stammbetrieb, semiperipheren und peripheren Betrieben auf die Lage der Beschäftigten auswirkte. Zumindest im Hinblick auf die betriebliche Sozialpolitik kann man allgemein von einer privilegierten Position der Stammbetriebe ausgehen. Im Buch wird das jedoch mehrfach relativiert, z.B. im Fall der Ferienplätze. An solchen Stellen hätte man sich eine vertiefende Problematisierung der Ergebnisse gewünscht. Ein kritischer Einwand zielt auf einen konzeptionellen Aspekt dieses Buches: Unbestreitbar haben Einkommen, Berufskarrieren und Versorgung bzw. Konsumtion viel miteinander zu tun, doch füllt diese Perspektive den Konnex von Kombinat und Lebenslage nicht aus. Man vermisst als wesentliche Vermittlung dieser Begriffskombinationen eines – die Arbeit. Wer die Literatur zur Geschichte der Erwerbsarbeit in der DDR einigermaßen überblickt, wird feststellen, dass relativ wenig darüber zu erfahren ist, was Millionen Arbeiter und Angestellte Jahr für Jahr und Werktag für Werktag an ihrem Arbeitsplatz getan haben. Gewiss war das nicht der „eigentliche“ Gegenstand und man wird Annette Wilczek nicht kritisieren, weil sie ihren Themenkreis enger gezogen hat. Dass aber die Lebenslage sehr stark und nicht nur in materiellem Sinne von Arbeit abhängt, zeigt sich spätestens dann, wenn sie verloren geht.

Diese wenigen Anmerkungen schmälern den von Wilczek präsentierten wissenschaftlichen Ertrag in keiner Weise. Das Buch ist anregend, gut lesbar und überrascht mit vielen gut recherchierten Details. Es enthält eine Reihe von Tabellen, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Abkürzungsverzeichnis.

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