C. Wilke: "Den Talmud und den Kant"

Cover
Titel
"Den Talmud und den Kant". Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne


Autor(en)
Wilke, Carsten
Reihe
Netiva 4
Anzahl Seiten
726 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Litt, Institut für Jüdiche Studien, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Frage nach den Entwicklungen, Inhalten und Wegen rabbinischer Bildung ist in der geistesgeschichtlichen Forschung bislang nicht umfassend beantwortet worden. Es existieren lediglich einige kleinere Untersuchungen, die jedoch auf einer nicht eben überzeugenden Materialmenge aufbauten und so kaum zur Darstellung der allgemeinen Entwicklung taugten. Mit der vorliegenden voluminösen Arbeit von Carsten Wilke hat sich diese Situation grundlegend geändert, und aufgrund der hohen Qualität der wissenschaftlichen Analyse kann man das Buch mit einigem Recht als das zukünftige Standardwerk für diese Thematik bezeichnen. Dabei werden mit der Betrachtung der Situation in der Rabbinerausbildung in Mitteleuropa vor, während und nach der jüdischen Aufklärung große Zeiträume berücksichtigt, in denen sich ganz wesentliche Veränderungen bei der Ausbildung der jüdischen Religionsgelehrten vollzogen.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptabschnitte: I. Jeschiwot im Schatten der Aufklärung, II. Der „studierte Rabbiner“ im Sinne der Staatsreformer, und III. Rabbinerqualifikation im Zeitalter des Historismus. Jeder Abschnitt nimmt etwa je ein Drittel des Bandes ein, wodurch jedem Teilgebiet genügend Raum für eine umfassende Abhandlung bleibt. Im Abschnitt I überzeugt besonders der Teil über die westaschkenasischen Talmudhochschulen, der schon für sich gesehen dazu geeignet wäre eine schmerzliche Lücke in der Forschungsliteratur zu schließen. Alle Institutionen werden hier vollständig aufgelistet und mit ihren Eckdaten und in ihren Tiefenwirkungen beschrieben, nicht ohne auch auf ihren Niedergang im späten 18. Jahrhundert einzugehen. Dabei fasziniert der gelungene Versuch, den Lehrbetrieb und auch einige innere Strukturen der Talmudhochschulen mit den Gegebenheiten an christlichen Universitäten zu vergleichen. Allerdings werden diese frappierenden Ähnlichkeiten nicht noch einmal explizit diskutiert.

Ebenso ist die Darstellung des jüdischen Studentenalltags sozialgeschichtlich hochinteressant. Besonders die immer wieder schwierige Lösung der Frage nach dem Unterhalt der je nach Ort recht zahlreichen Studenten veranschaulicht noch einmal die Existenz, aber auch die Grenzen innerjüdischer Solidarität. War das Phänomen der teilweise sehr mangelhaften Kenntnisse in den „Profanwissenschaften“ bei den rabbinischen Gelehrten schon einigermaßen bekannt, so überrascht doch die von Wilke geschilderte Brache bei den meisten der Protagonisten, die er treffend als „unstrukturierten Wust harmloser Detailkenntnisse“ bezeichnet (S. 224).

Die Reform der Rabbinerausbildung hin zum akademischen Modell entstand anfänglich nicht durch den behördlichen Druck, sondern ging vielmehr auf innerjüdische Erneuerungsbedürfnisse zurück. Diese interessante These wurde von Wilke zuwenig ausgearbeitet, ja von ihm einige Kapitel später sogar wieder verworfen, wenn er den starken Druck der staatlichen Behörden betont.

Ausführlich schildert der Autor die verschiedenen neuen Modelle der Rabbinerausbildung seit ihrer Formierung in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Hier sieht er drei Zentren, die unterschiedliche Modelle entwickelten: Nordwestdeutschland, Berlin und Würzburg. Im Folgenden werden weitere lokale Sonderentwicklungen an den Rabbinerschulen im Rahmen der staatlichen Reformpolitik vorgestellt. Insgesamt fällt hier, wie auch in den anderen Teilen des Werkes, Wilkes breite Kenntnis von Literatur und Primärquellen auf, deren Bewältigung bereits für sich Respekt abverlangt. Durch die hervorragende Quellenbasis gewinnt die Arbeit an Überzeugungskraft. Aus den Quellen geht das eigentlich schwerwiegende Problem bei der Reform der Rabbinerausbildung hervor: Die Bewältigung ungeheurer Stoffmengen, die im Curriculum gefordert wurden, ging es doch nicht mehr allein um die außerordentlich umfangreichen Inhalte, die schon das traditionelle jüdische Gelehrtenwissen ausmachten, sondern, und das war das Neue, zunehmend auch um die Vermittlung profaner Inhalte, wie Philosophie, Sprachen, Geschichte etc. Diese konnten überzeugend nur auf einer Universität erworben werden, was aber den vorherigen Besuch eines Gymnasiums bedingte. Dies führte letztlich zu einer Bevorteilung der profanen Studien und so zu einem tiefgreifenden Bruch in der jüdischen Tradition.

Kritisch anzumerken ist die etwas unklare Transkription von hebräischen Begriffen, deren Prinzipien in einem anderen Buch von Wilke dargestellt wurden.1 Die Transkription scheint überaus kompliziert und auch nicht durchgängig konsequent: So wird die Elementarschule mit „hädär“ bezeichnet, während für das weiterführende Lehrhaus das komplikationslose „Bet Midrasch“ benutzt wird. Bei der Menge des verwendeten Materials verwundert es nicht weiter, dass sich hier und da Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, wie etwa die auf Seite 57, wo der brandenburgische Kurstaat als „Staat des Großen Kurfürsten“ bezeichnet wird, obwohl dieser in jenem Jahr bereits seit einer Dekade nicht mehr lebte. Der Schreibstil Wilkes mutet zeitweise etwas altväterlich an, was vielleicht auch durch den intensiven Umgang mit Texten aus einer anderen Sprachepoche des Deutschen liegen kann. Bedauerlich ist, dass im Anhang nur ein geografischer Index zu finden ist, obwohl ein Personenindex hier sicher viel sinnvoller gewesen wäre. Insgesamt können diese Mängel jedoch den sehr guten Gesamteindruck nicht schmälern.

Anmerkung:
1 Brocke, Michael; Carlebach, Julius sel. A. (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil I: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern. 1781-1870, bearb. v. Carsten Wilke, Bd. 1: Aach-Juspa, Bd. 2: Kaempf-Zuckermann, München 2004.

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