Georg Chr. Berger Waldenegg: Antisemitismus: "Eine gefährliche Vokabel"?

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Titel
Antisemitismus: "Eine gefährliche Vokabel"?. Diagnose eines Wortes


Autor(en)
Berger Waldenegg, Georg Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Arbeitsstelle Beauftragter für Gedenkstätten, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam

Vielleicht ist es einfach nicht möglich, den Begriff des „Antisemitismus“ als einen wissenschaftlich heuristischen Begriff zu definieren. Ist doch dieser Begriff vielleicht das, was der Begriff „Faschismus“ immer war: ein politischer Kampfbegriff. Zuerst ist er im Jahre 1860 nachgewiesen, verwendet von Moritz Steinschneider, der den Orientalisten Ernest Renan „antisemitischer Vorurteile“ bezichtigte. Nun dauerte es einige Zeit, bis der zeitweise judenfeindlich eingestellte Publizist Wilhelm Marr ihn benutzte, um sein rassisches Denken gegenüber Juden zu bezeichnen. Marr rückte einige Jahre später wieder von seinem antisemitischen Standpunkt ab.

In dem Nachwort, das bereits im Sommer 2002 verfasst wurde, setzt sich Waldenegg mit den damals aktuellen Streitereien um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ und Jürgen Möllemanns Ausfälle gegen Ariel Sharon und Michel Friedman auseinander. Gerade diese Passage zeigt, wie kurz die Halbwertszeit solcher Debatten ist, die je älter desto uninteressanter werden. Im Hinblick auf die „gefährliche Vokabel“ (Marcel Reich-Ranicki) lernen wir daraus, dass sie wegen begrifflicher Unschärfe universell einsetzbar ist und bekommen erneut bestätigt, dass nach dem Versuch eines Völkermordes im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage in Europa“ heute in Deutschland lebende Juden mit Recht dünnhäutig auf Anfeindungen aller Art reagieren.

Dennoch dient die Vokabel als Analysebegriff in unzähligen wissenschaftlichen Arbeiten, ohne dass es auch nur einen einigermaßen akzeptierten Konsens über ihre Bedeutung gebe, wie Waldenegg anhand einer Fülle von Beispielen darstellt. In der Forschung wird nur von einer Minderheit behauptet, der Begriff sei untrennbar mit dem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert sich entwickelnden Rassismus verbunden, die Mehrheit benutzt ihn munter für alle möglichen judenfeindlichen Phänomene in Altertum, Mittelalter und Neuzeit.

Waldenegg diskutiert einige prominente Definitionen, um sie dann alle zu problematisieren und zu verwerfen. Angefangen von August Bebels Diktum, Antisemitismus sei der „Sozialismus des dummen Kerls“, als Ausdruck eines tief sitzenden Minderwertigkeitskomplexes und von Halbbildung, über Theodor Fritschs Defintion als „Bekämpfung des Semitenthums“ mit seiner Selbstetikettierung als „Judengegner“ und „Judenfeind“ bis zu der Behauptung, Antisemitismus habe die ganze jüdische Geschichte begleitet. Einen breiten Raum nehmen Ansätze ein, die Antisemitismus als Wille zur Ausrottung oder „Extermination“ der Juden verstehen. Hier zeigt sich besonders das Problem der ex post Auschwitz-Perspektive, aus deren extremem Endpunkt Antisemitismus schwer definiert werden kann, ohne den jedoch eine Definition auch nicht möglich ist.

Der Ansatz von Gavin A. Langmuir wird von Waldenegg intensiv untersucht, nicht zuletzt auch weil er vielfach positive Resonanz gefunden hat (ab S. 65). Als „einzigartig böse Qualität“ bezeichnet, unterscheidet Langmuir auf drei Ebenen zunächst realistische Behauptungen über Juden, zweitens fremdenfeindliche und zuletzt chimärische Behauptungen, die den Juden Eigenschaften zuschreiben, die empirisch niemals beobachtet wurden. Letztere ensprechen Theodor Adornos Bezeichnung des Antisemitismus als eines „Gerücht über die Juden“. Entgegen der prima vista einleuchtenden Definition macht Waldenegg plausibel, dass Langmuirs Ansatz sich nicht durch empirische Belege bestätigen lässt und deswegen auch als unzweckmäßig verworfen wird.

Selbst die Definition, die Reinhard Rürup im Anschluss an Alphons Silbermann formulierte, erscheint Waldenegg nicht angemessen: „Antisemit ist, wer den Juden die Fähigkeit zur nationalen und kulturellen Strukturzugehörigkeit abspricht, ihre kulturelle, soziale, religiöse und moralische Minderwertigkeit behauptet und dabei im Wirken des Judentums eine Schädigung nationaler und ethnischer Strukturen erblickt, woraus sich die Bekämpfung des Judentums ableitet.“1 Auch diese Definition ist Waldenegg „zu eng beziehungsweise nicht weit genug gefasst“, auch weil sie graduelle Unterschiede in der Intensität der Abneigung oder Ablehnung von Juden nicht erfasse. Hier ist Waldenegg zu widersprechen, da diese Definition eine klare Intention des Antisemitismus festhält und demgegenüber einen Teil von möglichen sozialen Vorurteilen oder emotionalen Reaktionen noch nicht als antisemitisch begreift.

Es wird auch deutlich, dass der Versuch, die Vielfalt von Judenfeindschaft unter einer Definition zu vereinen, in die Irre führt, oder anders, zu der Frage, ob „etwas, wovon die Menschen keinen Begriff haben, dennoch existiere“ (Wolfgang Schmale).

Waldenegg versucht, einen Ersatzbegriff zu finden und diskutiert zunächst „Antijudaismus“, den er alsbald als stark religiös konnotiert verwirft. Ähnlich geht es dem Begriff „Judenhass“, der einen starken Affekt zum Zentrum hat und damit für die Erfassung des historischen oder aktuellen Phänomens nicht geeignet ist. Selbst bei einem unzweifelhaft antisemitischen Charakter wie Adolf Hitler liegt man mit der Annahme eines zentralen Affektes nicht richtig, da er antisemitische Politik als rationale Aktion postulierte und entwarf.

Auch „Judäophobie“ und „Judenfeindschaft“ sind ungeeignet, wobei im Zusammenhang mit letzterem Begriff der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz zitiert wird, den Waldenegg hier wie an mehreren Stellen seiner Arbeit heftig kritisiert. Jedoch lässt er „Judengegnerschaft“ noch mit Einschränkungen am ehesten gelten. Mit Gerhard Lindemann möchte er zwischen christlichem Antijudaismus, ökonomisch, sozial, politisch oder kulturell bedingter Judengegnerschaft und rassischem Antisemitismus unterscheiden. Dagegen ist wenig einzuwenden, nur hinzuzufügen, dass „Judengegnerschaft“ als Oberbegriff geeignet scheint. Doch eine Definition für „Antisemitismus“ ist damit noch nicht gefunden.

Vielleicht lässt sich die Aporie, in die sich Waldenegg begeben hat, teilweise aus seiner Methode erklären. Er geht von Analysen bzw. Zuschreibungen des Antisemitismus aus, um diese zu vergleichen und an einigen empirischen Daten zu messen. Wenn nun die untersuchten Definitionen alle auf einer breiten empirischen Basis stünden, könnte das Verfahren vielleicht zum Erfolg führen. Da aber - siehe oben - der Begriff vielfach ein Instrument der Auseinandersetzung selbst ist, ist er häufig aus dem Moment heraus entwickelt oder so weit abstrahiert, dass der Bezug zur erfahrbaren Wirklichkeit zu schwach ist.

Vielleicht hilft die Vermutung weiter, dass es entscheidend auf die Inhalte ankommt, die Antisemiten in ihren antisemitischen Einstellungen vertreten. Wie unterschiedlich Antisemitismus wahrgenommen werden kann, lässt sich z.B. an der Reaktion von Zeitgenossen auf den nationalsozialistischen Antisemitismus aufzeigen. Ein Konrad Heiden vermochte viel mehr und anderes zu erkennen als ein Theodor Heuß oder ein Ernst Niekisch. Würde man nun von einer breiten Analyse von Quellen ausgehen, die als antisemitisch weithin akzeptiert sind, und zweitens als Grundannahme Antisemitismus als rassistisch geprägt von anderen Formen der Judengegnerschaft unterscheiden, ließe sich vielleicht ein anderes Ergebnis erzielen. Hier könnte herauskommen, dass Antisemitismus eine Form der „Welterklärung“ (wie Dan Diner etwas beiläufig zitiert wird) ist, die auf dem Gegensatz einer Konkurrenz um soziale und politische Macht aufbaut.

Ich bin der Auffassung, dass es möglich ist, Antisemitismus neben anderen Formen der Judengegnerschaft auf Basis von unzweifelhaft antisemitischen Quellen zu definieren, was im Anschluss an die Definition von Reinhard Rürup und Alphons Silbermann zu folgendem Ergebnis führt:

Antisemitismus ist eine gesteigerte Form der Judengegnerschaft mit einem paranoiden Denken, das mit rassistischen Grundannahmen und einer Mischung aus irrealen und realen Zuschreibungen Juden bezeichnet, abwertet und ihnen mindere Existenzrechte zubilligt und daraus eine Bekämpfung des Judentums im Rahmen einer Konkurrenz um soziale, ökonomische und politische Macht ableitet. Damit wäre auch gesagt, dass nicht jede Judengegnerschaft gleich Antisemitismus sein muss.

Anmerkung:
1 Rürup, Reinhard, Emanzipation und Antisemitismus, Frankfurt am Main 1987, S. 116.

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