M. Jakubowski-Tiessen u.a. (Hgg.): Um Himmels Willen

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Titel
Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten


Autor(en)
Jakubowski-Tiessen, Manfred; Lehmann, Hartmut
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Mauelshagen, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld

Religion als Weltdeutung bietet ein Erklärungsangebot für das Außergewöhnliche. Als Frömmigkeitspraxis eröffnet sie ein meist konfessionell differenziertes Arsenal an Bewältigungsformen. Im Spektrum der Wirkungszusammenhänge zwischen Religion und Desaster sind die Beiträge eines von Hartmut Lehmann und Manfred Jakubowski-Tiessen herausgegebenen Sammelbandes angesiedelt. Ein klarer regionaler Schwerpunkt der Beiträge liegt im deutschsprachigen Raum. Die meisten Autoren arbeiten vorwiegend mit Quellen aus dem Bereich der frühneuzeitlichen Publizistik.

Straftheologie ist das bedeutendste Paradigma religiösen Denkens im hier behandelten Zeitraum: Sünden rufen den Zorn Gottes hervor, der mit Warnsignalen (Prodigien) zur Buße mahnt und Strafen exekutiert. Das straftheologische Denken bietet einen roten Faden durch alle Beiträge. Konfessionsübergreifend bildete es das Einheit stiftende Paradigma in einer Zeit, die weder „Katastrophen“ noch „Naturgefahren“ im modernen Sinne kannte.

Zur Auswahl der Fallstudien erläutern die Herausgeber, es sei ihnen darauf angekommen, „singuläre und unvorhersehbare Ausnahmesituationen zu finden“ (S. 11). Lediglich der erste Beitrag von Heinrich Dormeier über „Pestepidemien und Frömmigkeitsformen in Italien und Deutschland“ nimmt nicht einen Einzelfall, sondern die fömmigkeitsgeschichtlichen Folgen einer Serie aufeinander folgender Pestkatastrophen in den Blick. Ein an der Ikonographie (Schutzmantelmadonna, Pestheilige, insbes. Rochus oder Borromäus) und neuen künstlerischen Umsetzungen wie den Pestamuletten, Gedenkmünzen oder Pestsäulen ablesbarer Wandel lässt sich nicht allein und unmittelbar dem „Schwarzen Tod“ von 1348 zuschreiben, sondern kann nur als längerfristige Auswirkung wiederholter und im Licht neuer Paradigmen (z.B. der Reformation) gemachter Erfahrungen verstanden werden (vgl. S. 48). Der nie kanonisierte Heilige Rochus bietet das Paradebeispiel für das Durchsetzungsvermögen katholischer Laienfrömmigkeit. Am Rochuskult wie an der Auswahl und Kombination von Heiligen in bildlichen Darstellungen weist Dormeier Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa auf. Die Reformation stellte einen frömmigkeitsgeschichtlichen Einschnitt dar, der den Nord-Süd-Unterschied verschärfte. Hier akzentuiert Dormeier allerdings die Fragilität des „neuen Glauben“ (S. 42) und weist anhand „magisch-apotropäische[r] Beschwörungsformeln“ in Pestblättern auf fließende Übergänge anerkannter Frömmigkeitsformen zum „Aberglauben“ hin (S. 43). Der Beitrag plaziert sich im Rahmen eines Forschungsstandes, den Dormeier selbst über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren mitgeprägt hat. Spürbar ist dies an einer aus dem Bewusstsein um die Vielfalt und das notwendige Differenzierungsbedürfnis heraus behutsamen Thesenbildung (vgl. S. 48ff.).

Martin Sallmann bietet eine Fallstudie zur Einführung des Fast- und Bettages in Basel 1620. Hintergrund waren Kriegshandlungen in Böhmen, der Pfalz und – gefährlich nahe – im Veltlin und den Drei Bünden. Im straftheologischen Verständnis gehörte auch der Krieg zur Trias göttlicher Strafen (mit Hunger und Pest). Zwar war Basel 1620 und auch später nicht involviert, aber aus Gegenwartsperspektive galt es, die sich abzeichnende Kriegsgefahr frühzeitig durch eine Konzentration religiöser Kräfte abzuwenden. Der Fast- und Bettag war also eine Art Abwendungsritual. Mit Predigten über den ganzen Tag hinweg wurde er am 20. September 1620 eingesetzt und fortan als monatlich einmal (an einem Dienstag) begangener zweistündiger Bettag institutionalisiert (S. 174). Sallmann analysiert die Festpredigten und erörtert die konfessionsgeschichtlich zentrale Frage nach der Rehabilitierung des Fastens in einer reformierten Stadt (S. 176f.). Gerechtfertigt wurde es als äußeres Zeichen einer inneren Haltung, auf dessen öffentliche Wirkung es ankam. Man könnte sagen: Um die Gemeinde als Heilsgemeinschaft zu inszenieren, bedurfte es der Ritualisierung in sichtbaren Handlungen. Es ist bemerkenswert, dass rund hundert Jahre nach der Reformation dafür auch Abstriche an protestantischen Grundeinstellungen in Kauf genommen wurden.

Manfred Jakubowski-Tiessen, zweifellos der Experte für vormoderne Sturmfluten in Deutschland, wendet sich der zeitgenössischen Wahrnehmung und Deutung der „Burchardiflut“ von 1634 zu. Das als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ umschriebene Nebeneinander von straftheologischer und naturkundlicher Erklärung außergewöhnlicher Naturereignisse konnte von Zeitgenossen mit der Staffelung von Erst- und Zweitursachen in ein Erklärungsmodell integriert werden (S. 189). Auf Straftheologie als Erklärung konnte 1634 offenbar niemand verzichten. In einem Augenzeugenbericht des Deichbauingenieurs Jan Adrian Leeghwater fehlt zwar jeder Hinweis darauf. Aber (gegen eine These von Raingard Eßer) bietet Jakubowski-Tiessen nun eine weitere Schrift Leeghwaters auf, die belegt, „dass es ein Irrtum ist, Leeghwater eine naturgesetzliche Sicht dieser Naturkatastrophe zu unterstellen.“ (S. 193) Leeghwater war hier offensichtlich bemüht, Vorwürfen gegen seine Deichbaukunst mit der unbezwingbaren Übermacht des göttlichen Strafgerichts zu begegnen.

Marie Luisa Allemeyer untersucht die norddeutsche Publizistik des 17. Jahrhunderts zum Thema Stadtbrände. Erneut sind Sündenkataloge als Hinweise auf die moralische Ursache für Strafe (S. 206) und die religiöse Praxis der Ausgangspunkt. Allemeyer bezieht, wie Jakubowski-Tiessen (S. 195f.), in dieses Modell auch Prodigien ein, die ex post gesucht und zur Vorgeschichte von Bränden gerechnet wurden, um die „Gültigkeit des metaphysischen Deutungsmusters“ (S. 210) zu befestigen. Der Hinweis auf die Vorankündigung einer Strafe vertrieb jeden Gedanken an Zufall. Erneut finden sich Belege für apologetische Argumentationen mit der Gottesstrafe (S. 211f.). Vor allem Stadtobrigkeiten sprachen sich vom Verschulden gescheiterter Löschaktionen auf diese Weise frei. Allemeyer versteht es, sehr handfeste praktische Probleme auf den religiösen Basisdiskurs zu beziehen. So wird die Straftheologie mit Blick auf Hilfegesuche an befreundete Städte und Gemeinden nach einer Brandkatastrophe (S. 213f.) sowie auf technische Innovationen zum Zweck der Prävention (S. 219ff.) hin problematisiert. War eine vom Feuer heimgesuchte Stadtbevölkerung nicht stigmatisiert? Wie konnte sie unter solchen Bedingungen auf fremde caritas rechnen? Besonders brisant erscheint die Legitimation des Selbstschutzes und der Einführung von Feuerversicherungen (S. 230f.) im Angesicht des göttlichen Strafgerichts. Aber hier ist Allemeyer zu vorsichtig, wenn sie sich selbst den Einwand macht, solche Problemlagen seien möglicherweise Projektionen ex post (vgl. S. 214, 233). Denn schon lange vor dem 17. Jahrhundert werden sie in Pesttraktaten erörtert: Treffen die „Pfeile Gottes“ nur Sünder? Welchen heilsgeschichtlichen Sinn macht es, wenn auch „Gerechte“ den Pesttod finden? Kann man sich dem göttlichen Strafgericht durch Flucht entziehen? Ist Quarantäne moralisch vertretbar? Welche Wirkung kann überhaupt Medizin gegen den göttlichen Willen entfalten? Ähnlich wird die technische Innovation des Blitzableiters im 18. Jahrhundert diskutiert: Kann man sich gegen die Übermacht des göttlichen Willens durch ein Stück Draht verteidigen? Positionen, die nicht extrem einseitig und ausschließend argumentieren, finden hier Kompromisslösungen – bei der Pest etwa die, dass der Tod der „Gerechten“ eine Probe für die Überlebenden darstelle (meist unter Verweis auf das Buch Hiob als biblisches Vorbild für dieses Sinnmuster) oder dass der Selbstschutz zwar nicht ohne Gottes Gnade erfolgreich sein kann, aber eine Voraussetzung für Gnadenwürdigkeit darstellt.

Es schließen sich zwei Beiträge zum Thema Erdbeben an. Rienk Vermij versucht eine Art Überblick über „Erdbebenkatastrophen in der Frühen Neuzeit“, den er mit einer auf zwei Augenzeugenberichte fokussierten Fallstudie zum Erdbeben von Palermo am 1. September 1726 abschließt (S. 247ff.). „Rationalisierung“ (bes. S. 240f.) erscheint zunächst – dem traditionell wissenschaftsgeschichtlichen Verständnis entsprechend – als Gegenbegriff zu Religion. Das wird aber überraschend mit der Bemerkung relativiert, dass es sich bei der Übernahme des straftheologischen Modells in großen Teilen der Bevölkerung „um eine Art Rationalisierung“ gehandelt habe, sofern die unterschwelligen Ängste in einer „Art Gnadenökonomie“ Platz gefunden hätten (S. 245). Die These bleibt unausgeführt und vage. Dem „Modell“ einer „Übernahme“ – gleichsam von oben nach unten in der Gesellschaftspyramide – stehen Beispiele für einen straftheologischen Sinnstiftungsbedarf „von unten“ entgegen, wie Dormeier und Gestrich in ihren Beiträgen im selben Band belegen. Dormeier äußert überdies sehr deutlich seine Skepsis gegenüber „den beliebten Langzeitstudien über Tod und Angst im Abendland“ (S. 49). Gerade „Angst und Zittern“ aber macht Vermij zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen (S. 235). Seine Rationalisierungsthese unterstellt, dass Angst per se irrational sei und dass straftheologische Deutungen nicht ihrerseits zur Angst beigetragen haben könnten. Beides wäre diskussionsbedürftig.

Ulrich Löffler widmet seinen Beitrag protestantischen Deutungen des Erdbebens von Lissabon (1755) – ein Gebiet, auf dem er durch eine umfangreiche theologie- und kirchengeschichtliche Dissertation ausgewiesen ist. Tatsächlich ist „Lissabon 1755“ häufig „zum verbalen Emblem eines geistesgeschichtlich beschreibbaren Zusammenbruchs gemacht“ (S. 254) und als Erschütterung des aufgeklärten physikotheologischen Optimismus gedeutet worden. Erweitert man die Quellenbasis, entdeckt man – kaum überraschend –, dass diese Einschätzung der Vielfalt der Positionen nicht gerecht wird. Als Fokus der Publizistik trat das Erdbeben schnell hinter den Siebenjährigen Krieg zurück, der es auch in der Zahl der ihm gewidmeten Schriften bald überragte (S. 271).

Andreas Gestrich untersucht religiöse Reaktionen auf die Hungerkrise von 1816/17 am Beispiel Württembergs. Mit Rudolf Schlögl betont er die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichte „Domestikation des Zorngottes“ und seine Ersetzung durch einen barmherzigen und liebenden Schöpfer (S. 279). Die „Verschiebung der Gotteskonzeption“ bedingt einen signifikanten Wandel im „offiziellen kirchlichen Umgang mit Naturkatastrophen“ und ihren Folgen (S. 280). In der Publizistik treten theologische Deutungen insgesamt hinter naturwissenschaftliche Erklärungen zurück (S. 283, vgl. S. 277). Für die Laienreligiosität ergibt sich ein anderes Bild. Straftheologische Muster sind hier nach wie vor lebendig. Im Pietismus lebendige Endzeiterwartungen lassen sich jedoch nicht eindeutig der Katastrophenerfahrung von 1816/17 zuschreiben. Die Basis dafür liegt in älteren Prophezeiungen über die Wiederkunft Christi (S. 285f.). Allerdings provozierte die Hungerkrise von 1816/17 vor diesem Hintergrund gewisse Reaktionen. Extreme Konsequenzen zog eine Gruppe, die die „Trennung der Bekehrten von der Welt der Sünder“ verwirklichte, indem sie 1817 nach Russland auswanderte (S. 289). In der Regel aber blieb es bei einer verstärkten Frömmigkeitspraxis im privaten Rahmen. In katholischen Gebieten scheint das Bedürfnis der Laien nach älteren rituellen Bewältigungsformen nach dem Muster der Straftheologie schnell Wirkungen auf die Haltung der Kirche gezeitigt zu haben (S. 291). In Bayern erlebte das Wallfahrtswesen 1816/17 eine „Renaissance“ (S. 292). Dieser Befund zur „Volksfrömmigkeit“ weicht von Schlögls Ergebnissen für katholische Städte Westdeutschlands ab. Gestrich vermutet, die Diskrepanz könne eher auf Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung als auf ein Nord-Süd-Gefälle im Aufklärungsgrad zurückzuführen sein (S. 293).

Mehr als ein Drittel des Bandes wird von Wolfgang Behringer bestritten. Nicht nur vom Umfang her, auch in thematischer Hinsicht sprengen seine beiden Beiträge den Rahmen dieses Sammelbandes.

Seine 120 Seiten umfassende Studie zur „Krise von 1570“ beschränkt sich keineswegs auf den Aspekt Religion. Vielmehr versucht sie eine Art histoire totale der Krise: eine Verbindung klima-, wirtschafts-, sozial- und mentalitätshistorischer Aspekte. Der Untersuchungsraum wird vage mit „Europa“ angegeben. Werden im ersten Abschnitt, einer chronologischen Beschreibung des Krisenverlaufs unter Einbeziehung aktueller klimahistorischer Forschungen, Hungerkrise und Epidemiengeschichte der frühen 70er-Jahre des 16. Jahrhunderts noch parallelisiert, fällt letztere in den beiden folgenden Abschnitten zum Umgang mit der Krise (II) und zu Lösungsversuchen (III) praktisch weg. Zunehmend geht auch die Basis für den Anspruch auf einen europäischen Bezugsrahmen verloren. Die Beschreibung der Maßnahmenpolitik im dritten Abschnitt kann allenfalls als regionale Untersuchung zu Südwestdeutschland Geltung beanspruchen. Im Wesentlichen beschränkt sie sich auf Augsburg, und gerade da, in der Detailschärfe, zeigt sich, dass der bescheidenere Rahmen einer Lokalstudie mehr versprochen hätte.

Die „Zehn Gebote der Krisenforschung“, mit denen Behringer schließt (S. 152-156), bieten kaum mehr als allgemeine Grundsätze geschichtswissenschaftlichen Arbeitens. Die neuere internationale Erforschung von Katastrophen, in die sich Historiker erst seit kurzem verstärkt einschalten, wird komplett ignoriert. Kann man ernsthaft ein Forschungsprogramm entwerfen, ohne Leitkonzepte wie „Risiko“ und „Vulnerabilität“, die seit einigen Jahren transdisziplinär diskutiert werden, auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen? Das ist ebenso enttäuschend wie Behringers Umgang mit dem Konzept der Sozialdisziplinierung, der sich nicht auf der Höhe der neueren Forschung befindet. Harmonisch erscheint bei ihm das Verhältnis von Obrigkeit und Klerus (vgl. S. 109), was das Beispiel des Münchner Geistlichen Caspar Macers belegen soll, dessen Predigten, „propagandistische Begleitmusik zu den gesetzgeberischen Maßnahmen“ waren (S. 141) – Theologie gleichsam als Ancilla der Politik. Ob die Einschätzung in diesem Fall zutrifft oder nicht, ändert nichts daran, dass ein Bild vom einsinnigen Zusammenwirken beider Führungsgruppen gemessen am heute erreichten Differenzierungsmaßstab zur Karikatur wird. Predigten wie die Ludwig Lavaters in Zürich, von Behringer wie schon von Wilhelm Abel mehrfach zitiert, waren nicht zuletzt Druckmittel in den Händen der Kirchenleitung, um ihrem Ruf nach Sittenmandaten und deren konsequenter Exekution den nötigen Nachdruck zu verleihen. In der Oberflächenanalyse gedruckter Traktate mag eine solche Konfliktlinie nur schwer erkennbar sein. Man kann sie aber in handschriftlichen Quellen entdecken, wie insbesondere Studien von Hans Ulrich Bächtold zu Zürich gezeigt haben.1 Die Konfrontation zwischen Klerus und Rat basiert nicht zuletzt darauf, dass Gottesstrafen ein argumentativ zweischneidiges Schwert waren, das nicht nur soziale Reglementierung nach sich wiederholenden Sündenkatalogen legitimieren, sondern auch direkt gegen die politische und geistliche Führung selbst gewendet werden konnte. Strafen wurden nicht einfach nur individuellen und kollektiven Verfehlungen kommunal organisierter Heilsgemeinschaften, sondern auch der politischen Verantwortung ihrer Obrigkeiten zugerechnet – und dies keineswegs nur nach reformiertem oder protestantischem Verständnis, wie zuletzt wieder die Arbeit von Hillard von Thiessen belegt hat.2

In seinem zweiten größeren Beitrag bietet Behringer eine kommentierte Edition zweier Gedichte zur „Krise von 1570“. Zweifellos verdient das beinahe 1600 Verse umfassende Gedicht des Augsburger Malers Barnabas Holzmann (1530-1575) das Prädikat „wertvoll“. Ob man darin jedoch „die detaillierteste bisher bekannte zeitgenössische Analyse einer vorindustriellen Hungerkrise“ (S. 76) erkennen kann, oder ob es zutrifft, dass „[k]eine andere zeitgenössische Quelle [...] einen genaueren Einblick“ in die „intime Gefühlswelt“ eines Betroffenen gebe (S. 295), sei dahingestellt. (Wie passen diese beiden Einschätzungen überhaupt zusammen?) Das Gedicht von Holzmann liest sich über weite Strecken als eine auf Augsburgs kaufmännische und konfessionell gespaltene Gesellschaft zugeschnittene Sozialkritik nach vertrauten Mustern biblischer Sündentopoi. Ihre „empirische“ Basis sind zunächst subjektive Einzelbeobachtungen, mögen sie auch häufig von anderen Quellen bestätiget werden. Die Transkription beansprucht buchstabengetreue Wiedergabe für sich (vgl. S. 301, Anm. 24), an deren konsequenter Durchführung sich allerdings Zweifel auftun, wenn man den Anfang der Transkription mit dem im Band abgebildeten Titelblatt des Krisengedichts nach Paul Hektor Mairs „Memorbuch“ vergleicht (S. 300; allein in der Titulatur erkennt der Rezensent sieben Abweichungen). Die Kommentierung ist im Großen und Ganzen nützlich, jedoch unregelmäßig: Verständliches wird gelegentlich erklärt (z.B. „gesind“, 309, Vers 174, dazu Anm. 52), während man mit ungewohnter Terminologie allein gelassen wird (z.B. „Goller“, S. 311, Vers 248).

Ein Fazit: Der Band beleuchtet eine Reihe neuer oder bisher wenig beachteter Aspekte zum Thema „Religion in Katastrophenzeiten“. Die Beiträge von Behringer überfordern den Sammelband jedoch sowohl thematisch als auch von ihrem Umfang her.

Anmerkungen:
1 Bächtold, Hans Ulrich, Heinrich Bullinger vor dem Rat. Zur Gestaltung und Verwaltung des Zürcher Staatswesens in den Jahren 1531 bis 1575, Bern 1982, S. 255-274; und bes. Ders., Gegen den Hunger beten. Heinrich Bullinger, Zürich und die Einführung des Gemeinen Gebetes im Jahre 1571, in: Bächtold, Hans Ulrich u.a. (Hgg.), Vom Beten, vom Verketzern, vom Predigen. Beiträge zum Zeitalter Heinrich Bullingers und Rudolf Gwalthers. Alfred Schindler zum 65. Geburtstag, Zürich 1999, S. 9-43.
2 von Thiessen, Hillard, Die Kapuziner zwischen Konfessionalisierung und Alltagskultur. Vergleichende Fallstudie am Beispiel Freiburgs und Hildesheims 1599-1750, Freiburg im Breisgau 2002.

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