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Titel
Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III)


Autor(en)
Agamben, Giorgio
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
159 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Konitzer, Hamburger Institut für Sozialforschung

„Was von Auschwitz bleibt“ ist eines von mehreren Büchern des italienischen Philosophen Agamben, die sich mit der Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen.1 Sie alle sind in der Absicht geschrieben, die Gegenwartsbedeutung von Auschwitz zu erfassen. „Homo sacer“ und „Ausnahmezustand“ reflektieren dabei eher rechts- und staatsphilosophische Aspekte des Nationalsozialismus; in „Was von Auschwitz bleibt“ geht es um die „ethischen“ Aspekte. Während in den ersten beiden Teilen der Fokus darauf gerichtet ist, die Strukturveränderungen politischer und gesellschaftlicher Macht zu beschreiben, für die Auschwitz symptomatisch gewesen sein soll, richtet Agamben seine Aufmerksamkeit im dritten Teil des Gesamtprojekts auf die Erfahrungen derjenigen, die diesen Strukturen als Opfer ausgesetzt waren. Daraus soll sich dann so etwas wie eine „Ethik nach Auschwitz“ ergeben.

Agambens Ausgangspunkt ist das „unergründliche Rätsel“, das sich demjenigen stellt, der sich mit Auschwitz auseinandersetzt und nach „Sinn und Motive[n] des Verhaltens von Henkern und Opfern“ fragt (S. 7). Es zeige sich vor allem in der Spanne zwischen faktischer Erfahrung und Verstehen, die die Berichte Überlebender durchziehe. Die Frage nach der „ganze[n] Wahrheit“ von Auschwitz, auf die das Buch eine Antwort zu geben versucht, soll weder von dem Verlangen nach einem „zu schnellen“ Verstehen geleitet sein noch an die Stelle eines angemessenen Verstehens eine „wohlfeile Sakralisierung“ setzen, sondern in der „Kluft“ zwischen beiden reflektierend verweilen (S. 8).

Im ersten Kapitel unterscheidet Agamben zwei Arten von Zeugen. „Testis“ nennt er denjenigen, der vor Gericht „im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit“ Zeugnis ablegt hat (S. 30). Ihm stellt er den „Superstes“ gegenüber, den Überlebenden, „der ein Ereignis bis zuletzt durchgemacht hat und deswegen Zeugnis davon ablegen kann“ (S. 14f.). Diese Unterscheidung wird zu einer Entgegensetzung zweier Arten von Ethik erweitert: einer Ethik des Urteils, die von politischen und juristischen Kategorien überformt ist, die ihr eigentlich fremd sind, und einer „reinen“, geschichtsphilosophisch und theologisch fundierten Ethik, für die die Kategorie des Glücks maßgeblich ist. Agamben wendet sich vor allem deshalb gegen das Eindringen juristischer Kategorien in die Ethik, weil er Auschwitz selbst als Folge dieser Überformung ansieht. Daher verwirft er für die Auseinandersetzung mit Auschwitz alle vermeintlich juristischen Kategorien wie Schuld, Verantwortung, Würde, Achtung und Selbstachtung. Agamben verbindet seine Perspektive auf die Zeugenschaft mit einer radikal-anarchistischen rechtsphilosophischen Betrachtung: Bereits in „Homo sacer“ hatte er diese, weitgehend unter Bezugnahme auf Carl Schmitts Theorie der Souveränität, zu einer umfassenden Deutung der Moderne erweitert. Sie basiert auf der Annahme, dass das Wesen des Rechts von seiner Suspension, nämlich vom Ausnahmezustand her zu verstehen sei. Das Lager bedeute aus diesem Blickwinkel nicht die Auflösung der Herrschaft des Rechts, sondern sei geradezu ihr Paradigma.

Speziell für die Zeugnisse der Überlebenden von Auschwitz sei nun kennzeichnend, dass die Gültigkeit ihres Zeugnisses wesentlich auf dem beruhe, was fehle (S. 30): „Die ‚wirklichen’ Zeugen […] sind diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können.“ Sie sieht Agamben in den vollständig apathischen Gefangenen verkörpert, die in der Lagersprache als „Muselmänner“ bezeichnet wurden. Erst wer den Blick auf sie richte, könne jene „Zone der Nicht-Verantwortlichkeit“ wahrnehmen, die „diesseits“ von gut und böse liege (S. 18). An ihnen zeige sich nun auch das Versagen der Begriffe der gebräuchlichen Ethiken. Weil diese sich auf das Menschliche, auf die Sprache oder auf die Würde bezögen, müssten sie das „nackte Leben“, das der Muselmann verkörpere, erneut ausschließen.

Die Erfahrung, von der eine Ethik „more demonstrata Auschwitz“ (S. 9) auszugehen habe, sei diese vollständige Desubjektivierung, das Nicht-Menschliche. Nach Agambens Auffassung korrespondiert sie mit der fundamentalen Gestalt des Politischen in der Moderne, in der sich alte Formen von Souveränität – die Macht, sterben zu lassen – und neue – die Macht, leben zu machen – miteinander verbunden hätten. Foucaults Interpretation des Rassismus eröffne zudem die Möglichkeit, den Zusammenhang beider zu verstehen. Der Rassismus stelle „eine Art und Weise dar, das biologische Feld, das die Macht besetzt, zu fragmentieren“ (Michel Foucault, zitiert auf S. 74). Dadurch werde dem Volk als einem „im wesentlichen politischen Körper“ (S. 74) die Bevölkerung als Objekt der Biopolitik entgegengestellt, und der Muselmann sei das zwangsläufige Resultat dieser Konfiguration politischer Macht.

Insofern sei die Scham, von der viele Überlebende berichten, diejenige ethische Erfahrung, von der jede Ethik nach Auschwitz ausgehen müsse. Ihr Grund sei nicht das irrationale Gefühl, ungerechtfertigt überlebt zu haben; vielmehr artikuliere sich in ihr die weitaus dramatischere Erfahrung, Subjekt sein zu können nur um den Preis der immer zugleich erfahrenen Möglichkeit vollständiger Desubjektivierung. Die Struktur der Scham wiederum sei, wie eine Analyse von Personalpronomen zeige, konstitutiv mit dem Zeichengebrauch verknüpft. Wer „ich“ sagt, nehme vorgreifend auf eine Substanz Bezug, die nie selbst gegeben sein kann; immer werde so die intendierte Ich-Substanz durch die Bezugnahme auf den notwendig flüchtig bleibenden Aussageakt substituiert. Somit müsse der „Übergang von der Sprache zur Rede [...] als ein paradoxer, Subjektivierung und Entsubjektivierung zugleich einschließender Akt“ verstanden werden (S. 101). An die Stelle einer Ethik der Verantwortung, in deren Mittelpunkt das sprechende und handelnde Subjekt stehe, trete daher das Ideal der Zeugenschaft. Gegen eine Wirklichkeit, in der Goebbels’ Definition des Politischen als einer Kunst, „das unmöglich Scheinende möglich zu machen“ (S. 67), allgemeine Wahrheit geworden ist, hält Agamben eine Ethik, die sich an der Unmöglichkeit sogar des Sprechens orientiert.

Agambens Deutung erscheint mir sowohl methodisch als auch inhaltlich problematisch. In methodischer Hinsicht erschwert die dekonstruktivistische Darstellungsform jede Nachprüfung der Schlüsse, weil sie Lektüre und Stellungnahme, Darstellung und Kritik so weit verwischt, dass Behauptungen und Voraussetzungen kaum noch kenntlich sind. Solche liegen bereits in der Entscheidung, die Überlegungen zur Ethik nach Auschwitz primär an eine Lektüre der Überlebensberichte zu binden, die Überlegungen zur Politik dagegen an Carl Schmitts Theoreme zum Verhältnis von Ausnahme, Souveränität und Recht. Nun liegt das erste durchaus nahe. In der Ethik geht es, wenn man die Frage so allgemein fassen will, darum, wie wir leben wollen oder sollen; und hier kann man gewiss viel von den Überlebenden lernen und vermutlich nichts von den Nationalsozialisten. Dagegen befremdet der andere Teil der Entscheidung. Er steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Postulat, aus der Ethik müssten jene Kategorien ausgeschlossen werden, die auf das Recht zurückverweisen. Hierfür gibt Agamben allenfalls den Schein einer Begründung: nämlich seine Darlegung, dass Auschwitz auf der Entfaltung des Paradoxes der Souveränität beruhe, die für das Recht als solches konstitutiv sei. Diese Behauptung ist nur vor dem Hintergrund des Antinormativismus der Rechtsauffassungen Carl Schmitts verständlich. Dessen spezifische Auffassung von Recht, deren wesentlicher Antrieb es war, das Recht vom liberalen und „jüdischen“ Normativismus zu befreien2, wird in Agambens Darstellung zur uneingeschränkt gültigen Erklärung dessen, was Recht ist. So wird schließlich nicht den Rechtsauffassungen eines Nationalsozialisten, sondern dem Recht als solchem Auschwitz zum Vorwurf gemacht. Soll die Vernichtung der europäischen Juden etwa den Grund dafür abgeben, das Gesetzesdenken nicht nur aus dem Recht, sondern auch aus der Ethik zu vertreiben?

Anmerkungen:
1 Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002; Ders., Ausnahmezustand. Homo Sacer II.1, Frankfurt am Main 2004.
2 Vgl. Gross, Raphael, Carl Schmitt und die Juden, Frankfurt am Main 2000, S. 78ff.

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