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Titel
Rundfunkverbrechen. Das Hören von "Feindsendern" im Nationalsozialismus


Autor(en)
Hensle, Michael P.
Reihe
Dokumente, Texte, Materialien 49
Erschienen
Berlin 2003: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Stahl, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Rundfunkprogramme enden nicht an territorialen Grenzen. Sie bewegen sich durch den offenen Äther, werden am Empfänger, durch den Lautsprecher hörbar. Die Sendungen ausländischer Stationen können das Meinungsmonopol der staatlichen Anbieter angreifen, sie setzen divergierende Informationen und Deutungen auf die Agenda der Alltagskommunikation und sind dadurch in der Lage, die Durchdringungsabsichten staatlicher Akteure zu unterminieren. Eben diesem Umstand versuchte das NS-Regime Rechnung zu tragen, indem es das Abhören ausländischer „Feindsender“ unter Strafe stellte.

Das „Rundfunkverbrechen“ als Delikt und die Praxen seiner Verfolgung sind Gegenstand von Michael Hensles Arbeit. Der Autor beschreibt zunächst die komplizierte Entstehungsgeschichte der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1. September 1939 (S. 26-37). Hier wird die polykratische Struktur des NS-Institutionengefüges mit seiner von Konkurrenzen und Konflikten geprägten Praxis sehr plastisch: Die Positionen des Reichspropagandaministeriums, der Reichskanzlei (Hans Heinrich Lammers), des Reichsinnenministeriums (Frick) und des Führerstellvertreters Heß unterschieden sich während der Genese der Verordnung und bei den anschließenden Verhandlungen von Ausnahmeregelungen für die Ministerien und NS-Funktionseliten z.T. erheblich. Bei den Auseinandersetzungen um Zuständigkeiten für das Abhören ausländischer Sender und die Neuregelung der Abhörpraxis treten Konfliktlinien zwischen Goebbels und von Ribbentrop zu Tage, die bereits lange schwelten (S. 44). Der Konflikt entzündet sich dabei am Seehaus-Abhördienst des Auswärtigen Amtes (S. 48f.).

Da die Verordnung vom September 1939 keinerlei Festlegungen traf, was unter ausländischen Sendern zu verstehen sei, justierte das Propagandaministerium mit einem Rechtskommentar im Amtsblatt „Deutsche Justiz“ 1940 nach. Ein Sender darf dann abgehört werden, wenn er im Hoheitsgebiet des Deutschen Reiches liegt“ (S. 57). Das Propagandaministerium erstellte ab 1940 Listen von erlaubten Sendern, die auch Stationen des besetzten oder kontrollierten Auslands enthielten. Diese gingen dann an die ausführenden Vollzugsorgane der Gestapo und der Staatsanwaltschaft.

Im zweiten Teil der Arbeit analysiert Hensle die Umsetzung- und Verfolgungspraxis des Tatbestandes „Rundfunkverbrechen“ bei den Sondergerichten Berlin und Freiburg anhand von Fallstudien. Er beschreibt die Zuständigkeiten bei der Ermittlung (Gestapo), die Tätigkeiten der Staatsanwaltschaft (S. 211ff.) und die staatspolizeilichen Maßnahmen nach der Strafverbüßung und zeichnet dadurch ein scharf konturiertes Bild totalitärer Überwachungs- und Verfolgungsmechanismen, wie sie sich trotz und wegen der bestehenden institutionellen Bruchstellen zwischen den Akteuren entwickelten.

Das höchste Strafmaß lag in Berlin bei vier Jahren, in Freiburg bei dreieinhalb Jahren Zuchthaus (S. 258). Kombiniert mit anderen Tatbeständen wie „Heimtücke-Äußerungen“ oder „Wehrkraftzersetzung“, konnte sich das Strafmaß weiter erhöhen. Divergierende Verfolgungspraxen ergaben sich aus den jeweiligen ideologischen Zielorientierungen. Dies verdeutlicht Hensle an den Verfahren gegen ausländische (S. 293-302) und jüdische Beschuldigte (S. 307-312).

In der Schlusssequenz des Buches versucht Hensle, die Hörerpräferenzen im Bereich ausländischer Stationen in den beiden Regionen (Stadt/Land) anhand der Urteile zu rekonstruieren (S. 319-341). In Ermangelung anderer Quellen ist dies ein zulässiges und interessantes Verfahren, bei dem man sich allerdings auf die Erklärungstiefe wiederum nicht unbedingt verlassen sollte. Für Berlin ergibt sich ein Übergewicht der BBC und für Freiburg eine Präferenz des Schweizer Landessenders Beromünster (S. 321), wobei mehr als ein Drittel der Beschuldigten mehrere Sender nutzten.

Dem „Rundfunkverbrechen“ als alleinigem Tatbestand folgte, anders als bis heute oft angenommen, nicht die Todesstrafe – diese Legende rückt Hensle zurecht. Doch zugleich hält er fest: „Zumeist standen die im Zusammenhang mit dem Abhören von „Feindsendern“ ergangenen Urteile jedoch in Tateinheit mit anderen Delikten, und die Todesurteile wurden vorrangig wegen dieser Straftaten verhängt.“(S. 139)

Jenseits solcher Dekonstruktionen zählebiger Mythen liegt der Erkenntnisgewinn dieser Forschungsarbeit hauptsächlich in der detaillierten Darstellung der Entstehungsgeschichte einer Reichsverordnung im Spannungsfeld der NS-Institutionen einerseits und der Analyse der divergierenden Praxen ihrer Umsetzung in zwei unterschiedlichen Regionen. Das ist eindrucksvoll.

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