L. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme

Cover
Titel
Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Raphael, Lutz
Reihe
Beck´sche Reihe 1543
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
293.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Kritik gehört zum Geschäft. Selbsthistorisierung ist deshalb auch eine alte Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Die reflexive Wendung auf die eigene Geschichte begleitet die Formierung der säkularen, professionalisierten Geschichtswissenschaft. Mit der Historisierung der philosophischen Vernunft im 19. Jahrhundert 1 finden sich dazu schon bei Wilhelm Dilthey Ansätze. Dilthey betrachtete die Philosophische Fakultät allerdings noch als Einheit und sah die verschiedenen, auseinanderstrebenden Historischen Schulen als eine einzige „Geisteswissenschaft“ an. Erich Rothacker schrieb anschließend noch die Geschichte der Historischen Schulen als „Einleitung in die Geisteswissenschaften“.2 Gleichzeitig wurde Friedrich Meinecke, der Erbe des Historismus und Historiker seiner Entstehung, auch zu einem frühen Historiker der Geschichtswissenschaft in Deutschland3, der die Geschichte in der Absicht auf Traditionsbildung personalisierte. Ältere Auseinandersetzungen um politische Geschichte und Kulturgeschichte schienen ausgestanden, so dass die Traditionskonstruktion des Historismus als Siegerhistorie auftrat. Walter Benjamin sprach dies in seinen geschichtsphilosophischen Thesen deutlich aus. Spätestens seit dieser Traditionskonstruktion ist die Geschichte der Geschichtswissenschaft auch ein Kampfplatz der Durchsetzung eigener Anliegen und Ansätze. So neigt die Methodendiskussion heute zu dichotomischen Begriffsbildungen und überspitzten Gegensätzen: Struktur- oder Ereignisgeschichte? Objektivität oder Parteilichkeit? Ideengeschichte oder Historische Sozialwissenschaft? Marx oder Weber? Sozialgeschichte oder Kulturgeschichte? Viele weitere solcher Topoi und Kampfbegriffe ließen sich finden. Es gibt auch Heroengeschichten dieser Kämpfe: so die „Fischer-Kontroverse“ und den „Historikerstreit“, in dem die Historiker der alten Bundesrepublik ihre staatstragenden Kostüme anlegten. Herr des Diskurses ist, wer das Vokabular bestimmt.

Lutz Raphael weist solches Kampfgetümmel einleitend schon freundlich zurück, indem er das „Paradigmenmodell“ Jörn Rüsens, chronologisch betrachtet ein letzter Stand der Diskussion, beiseite schiebt und eine „Vielstimmigkeit“ und Pluralität der Methoden und Ansätze konstatiert, die „unterhalb der Schwelle paradigmatischer Verbindlichkeit“ (S. 16) bleibt. Kennzeichnend sei ein „Nebeneinander von Denkstilen“. Den Anspruch imperialer Supertheorien, verbindliche Paradigmen zu formulieren, lehnt Raphael ab und betrachtet die Geschichte der Kontroversen wissenschaftspolitisch und -soziologisch nüchtern als einen Kampf um die „Aneignung von Ressourcen“ (S. 16). Leider verfolgt er diesen Ansatz nicht in aller Konsequenz und schreibt auch keine Sozial- oder Institutionengeschichte, aber doch eine neue Geschichte der Geschichtswissenschaft, die den „Akzent auf die Internationalisierung“ und die „Geschichte der Ausbreitung und Adaptation des westlichen Modells“ (S. 266) legt. Sein Faden ist nicht topisch: Raphael geht nicht die Kontinente und Länder der Reihe nach durch, sondern eher chronologisch vor. Nachdem er in drei einleitenden Kapiteln das „Berufsfeld des Historikers im 20. Jahrhundert“ mit seinen hohen ökonomischen und institutionellen Voraussetzungen (Bibliotheks- und Verlagswesen etc.) und typischen Aufgaben vorgestellt hat, nimmt er die „Jahrzehnte um 1900 als Ausgangspunkt“ (S. 13) der Professionalisierung einer „modernen“ Geschichtswissenschaft, was eine Spitze gegen die ältere historistische Traditionskonstruktion mit Hausvater Ranke setzt. Nach diesen drei Kapiteln geht Raphael dann die typischen Probleme, Methoden und Tendenzen in 12 Kapiteln durch. Die typologisierende Darstellung bestimmter Ansätze ergänzt er dabei am Ende glücklich durch je zwei Exemplifizierungen an charakteristischen „Klassikern“.

Die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft um 1900 richtete sich als politische Ereignisgeschichte an der „Nation“ aus und fand in der Zwischenkriegszeit neue politische Konstellationen und Aufgaben vor. Die „Volksgeschichte“ (S. 85ff.) blühte nicht nur in Deutschland und relativierte den Primat der Staatengeschichte. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte brachte damals ebenfalls wichtige Innovationen. Raphael verbindet die „moderne“ Geschichtswissenschaft aber dann besonders mit der „Annales-Tradition“ nach Marc Bloch und Lucien Febvre, die er als „Denkstil und Netzwerk einer neuen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte“ (S. 96ff.) vorstellt. Sie thematisierte nicht nur die „lange Dauer“ historischer Strukturen, sondern dauert nun ihrerseits bereits „vier Historikergenerationen“ (S. 107). Die marxistische Geschichtswissenschaft, die Raphael danach vorstellt, ist zwar international ebenfalls weit verbreitet, ging aber zahlreiche „Umwege und Sackgassen“ und wurde in ihrem theoretischen Anregungspotential auch früh schon rezipiert und verarbeitet. Die „Geschichte der internationalen Beziehungen“ erlebte nach 1945 einen neuen Aufschwung; sie kehrte mit verbesserten Arbeitsbedingungen auch im Bereich der Militärhistorie dabei erneut zur transnationalen Perspektive auf Konstellationen und Mächtesysteme zurück, die schon Ranke hatte. Ein Thema ist heute der Imperialismus. Nicht zuletzt für die außereuropäische Geschichtswissenschaft ist die Geschichte der Kolonialisierung und Dekolonialisierung sehr wichtig. Die Ausweitung des politischen Horizonts bestärkte einen „kulturrelativistischen“ Pluralismus, der sich in der neueren kultur- und ideengeschichtlichen Forschung auch in einer Abkehr von großen Meisterdenkern und -erzählungen und Wendung zur Mentalitätsgeschichte und historischen Semantik niederschlug.

Raphael schildert dann den „Aufstieg und [die] Fragmentierung der Sozialgeschichte (1960-1990)“. Nur diesen Ansatz datiert er, weil die „fortschreitende Spezialisierung“ (S. 192), entgegen vehement erhobener Universalitätsansprüche, trotz unstrittiger Verdienste etwa bei der Durchsetzung der Oral History durch „keine integrierende Theorie“ zusammengehalten werde: „So veralteten die großen Entwürfe der Sozialgeschichte, also jene Seite dieser breiten Forschungspraxis, welche am ehesten paradigmatischen Charakter angenommen hatte, überraschend schnell.“ (S. 192) Wissenschaftspolitisch positioniert sich Raphael damit jenseits Bielefeld näher an der Annales-Tradition.

Die neue Kulturgeschichte ermöglichte eine neue Globalgeschichte, die sich von der alten, geschichtsphilosophisch konnotierten Universalgeschichte deutlich unterscheidet (S. 196ff.). Entgegen den früheren Erwartungen bewirkte der Wandel im Intellektuellenmilieu nach 1968 einen gesteigerten „Pluralismus“ (S. 221), der durch Wandlungen im Mediensystem noch verstärkt wurde. Heute dominieren „Historische Anthropologie und neue Kulturgeschichte“, die oft mit postmodernistischen Theorien herrschaftskritisch und fortschrittsskeptisch argumentieren. Nationalgeschichte „von unten“ zeichnet sich ab. Die enormen Wandlungen der politischen Landkarte und des Mediensystems aber verändern weltweit die Stellung professioneller Geschichtsschreibung. Im Schlussabschnitt kennzeichnet Raphael die Lage durch „Internationalisierung im Zeichen prekärer Autonomie“ (S. 268ff.).

Der ständige Hinweis auf den internationalen Stand der Forschung ist im Detail schwer zu beurteilen. Wer hat schon einen Überblick über Nigeria, Indien oder Japan? Man erinnere nur, wie viele bundesdeutsche Historiker sich vor 1989 über die DDR-Geschichtswissenschaft vergeigten. Aber darum geht es nicht. Es ist ein wichtiger Impuls, die „moderne“ Geschichtswissenschaft als internationales Projekt zu beschreiben, das zwar ein „westliches Modell“ globalisiert, heute aber mit neuen politischen und kulturellen Erfahrungen auf uns zurückkommt. Die „neue Kulturgeschichte“, die heute betrieben wird, ist in ihren leitenden Forschungsmotiven, -fragestellungen und -methoden internationalisiert, ob sie davon weiß oder nicht. Zwar gibt es keine imperiale Supertheorie mehr, deren Annahme schon das akademische Erfolgskalkül gebietet. Dennoch antwortet die Diskursgeschichte des Faches auf kollektive und globale Erfahrungen. Raphael schreibt zwar keine Paradigmengeschichte historiografischer Supertheorien, lässt aber eine kleine Mentalitätsgeschichte des Faches anklingen, die Internationalisierung im Rücken der Akteure entdeckt.

Anmerkungen:
1 Schneider, Ulrich Johannes, Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 1999.
2 Rothacker, Erich, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 2. Aufl. 1931.
3 Die Werkausgabe Meineckes enthält neben Meineckes Spätwerk „Die Entstehung des Historismus“ noch einen Band „Zur Theorie und Philosophie der Geschichte“ und einen „Zur Geschichte der Geschichtsschreibung“, der 1968 erstmals erschien und viele Rückblicke auf die „Klassiker“ Ranke, Burckhardt, Droysen, Sybel, Treitschke sowie Meineckes zeitgenössische Kollegen enthält.

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