Otto, Wilfriede (Hrsg.): Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente. Berlin 2003 : Karl Dietz Verlag Berlin, ISBN 3-320-02045-5 304 S. € 14,90

Ostermann, Christian F. (Hrsg.): Uprising in East Germany 1953. The Cold War, the German Question, and the First Major Upheaval Behind the Iron Curtain. Budapest 2001 : Central European University Press, ISBN 963-9241-17-2 451 S. $63.95

: 17. Juni 1953. Der Anfang vom langen Ende der DDR. München 2003 : OLZOG Verlag, ISBN 3-7892-8113-1 206 S. € 14,90

: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952-1968. Köln 2003 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-02003-6 503 S. € 49,90

Rupieper, Hermann-Josef; in Verbindung mit Daniel Bohse und Inga Grebe (Hrsg.): "... und das Wichtigste ist doch die Einheit.". Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg. Münster 2003 : LIT Verlag, ISBN 3-8258-6775-7 448 S. € 29,90

Mählert, Ulrich (Hrsg.): Der 17. Juni 1953. Ein Aufstand für Einheit, Recht und Freiheit. Bonn 2003 : Verlag J.H.W. Dietz Nachf., ISBN 3-8012-4133-5 280 S. € 19,90

: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand. Berlin 2003 : Propyläen Verlag, ISBN 3-549-07182-5 485 S. € 25,00

: Der "Tag X" und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat. Bremen 2003 : Edition Temmen, ISBN 3-86108-386-8 346 S. € 17,90

: 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen - Abläufe - Folgen. Bremen 2003 : Edition Temmen, ISBN 3-86108-385-X 312 S.; Audio-CD € 19,90

: Was geschah am 17. Juni?. Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe. Berlin 2003 : edition ost, ISBN 3-360-01042-6 213 S. € 12,90

Wolff, Jochen; Hofmann, Hannes; Praschl, Gerald (Hrsg.): Der Aufstand. Juni '53 - Augenzeugen berichten. Berlin 2003 : Das Neue Berlin, ISBN 3-360-01229-1 192 S. € 9,90

: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit. Berlin 2003 : Siedler Verlag, ISBN 3-88680-748-7 427 S. € 24,90

Ciesla, Burghard (Hrsg.): Freiheit wollen wir!. Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. Berlin 2003 : Christoph Links Verlag, ISBN 3-86153-288-3 255 S. € 19,90

: Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953. Berlin 2003 : be.bra Verlag, ISBN 3-89809-038-8 168 S. € 19,90

: Waffen gegen das Volk. Der Aufstand vom 17. Juni 1953. München 2003 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56735-7 259 S. € 19,80

Foitzik, Jan (Hrsg.): Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimension. Paderborn 2001 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-72590-4 393 S. € 51,60

Diedrich, Torsten; Hertle, Hans Hermann (Hrsg.): Alarmstufe "Hornisse". Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953. Berlin 2003 : Metropol Verlag, ISBN 3-936411-27-1 464 S. € 21,00

: Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes Wille!. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale. Bremen 2003 : Edition Temmen, ISBN 3-86108-373-6 212 S. € 10,90

: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. . Köln 1999 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-06399-1 656 S. € 50,00

Kleßmann, Christoph; Stöver, Bernd (Hrsg.): 1953 - Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa. . Köln 1999 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-03799-0 246 S. € 24,50

Greschat, Martin; Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.): Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953. . Stuttgart 2003 : Kohlhammer Verlag, ISBN 3-17-018348-6 303 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Herder Institut, Philipps-Universität Marburg

Der 17. Juni der Berliner Republik – Konjunkturen, Neuerscheinungen, Desiderate

Ein Literaturbericht

Wie kaum ein anderes Datum symbolisiert der 17. Juni die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte. In der DDR war er fast vierzig Jahre lang ein Anathema. Dort wurden die Juniereignisse 1953 mit Floskeln wie „Tag X“ und „faschistische Provokation“ mehr umnebelt als umschrieben. In der Bundesrepublik entfachte die niedergeschlagene Revolte zunächst nationales Pathos – man erhob den 17. Juni in den Rang eines westdeutschen Nationalfeiertages. Wie diejenigen wissen, die im Westen aufwuchsen, handelte es sich jedoch seit den siebziger Jahren um einen der unpolitischsten Tage des Jahres. Von wenigen Würdenträgern abgesehen, die aus Staatsräson des Ereignisses gedachten, herrschte zwischen Cuxhaven und Feldberg bei Sommerwetter Ausflugsstimmung. Im Zeitalter der Détente haftete diesem Nationalfeiertag etwas Unzeitgemäßes an; und als Helmut Kohl nach seiner kleinen Wende von 1982 versuchte, dem Tag wieder etwas vom alten Pathos einzuhauchen, handelte es sich um ein tot geborenes Unterfangen. Das Gros der bundesdeutschen Öffentlichkeit wünschte keine Reanimierung gesamtdeutscher Erinnerung. Für linke Westdeutsche blieb das Datum durch den Kalten Krieg kontaminiert. In den Augen vieler war es ein Gedenktag der Gestrigen.

Wahrscheinlich hängt es mit der Tabuisierung in der DDR und dem weit gehenden Bedeutungsverlust im Westen zusammen, dass der 17. Juni im Zuge der deutschen Einheit ohne viel Federlesen von dem Bundeskanzler, der ausgezogen war, das Datum wieder aufzuwerten, zum Arbeitstag degradiert wurde. Erst die offenen Archive Ostdeutschlands bescherten ihm ein Comeback als geschichtswissenschaftlichem Forschungsgegenstand. Dank des nun vorhandenen Quellenzugangs verwandelte sich der Nationalfeiertag a.D. in ein Stück Zeitgeschichte. Durch die historische DDR-Forschung erhielt die Debatte um den 17. Juni neue Impulse: Wechselweise sahen Historiker in ihm entweder den Beleg für das frühe Scheitern der SED, die „innere Staatsgründung der DDR“ oder beides zugleich.

Einen neuen Höhepunkt erreichte die Aufmerksamkeit für dieses deutsche Datum aufgrund des 50. Jahrestages im letzten Sommer. Zu diesem Anlass begann die Öffentlichkeit der Berliner Republik wieder vom 17. Juni Notiz zu nehmen. Die einstigen erinnerungspolitischen Pflichtübungen waren längst selbst Geschichte; sie wichen einer neuen leidenschaftlichen Neuaneignung. Es scheint, als habe die Öffentlichkeit den 17. Juni nun als Chance zur Identitätsstiftung der Berliner Republik entdeckt. Dieses neue erinnerungspolitische Treiben spielte sich auf verschiedenen medialen Schauplätzen ab. Die seriösen Feuilletons beschlich plötzlich ein horror vacui – die Meinungsmacher entdeckten, dass es der Berliner Republik an einem sinnstiftenden Nationalfeiertag mangele. Im Vergleich mit dem 3. Oktober attestierte man dem 17. Juni revolutionäres Charisma – auch wenn der Sturm auf Ulbrichts Bastille seinerzeit von sowjetischen Panzern gestoppt wurde. Derweil strahlten die stets um eine Melange aus Bildung und Drama bemühten öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zwei Spielfilme und ein „Dokudrama“ über die Ereignisse vor fünfzig Jahren aus. Die zahlreichen Artikel, Sendungen und Features verdichteten sich in den Wochen vor dem Jahrestag zu einem erinnerungspolitischen Trommelfeuer, an dem sich alle Protagonisten des Histotainment beteiligten. Doch auch die seriöse historische Zunft beteiligte sich mit Tagungen und Veröffentlichungen an diesem Hype. Ein erfreuliches Überbleibsel dieses Booms ist sicherlich die gelungene Website, die von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Deutschlandradio und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung initiiert wurde (www.17juni53.de) und eine Chronik, Quellen und historische Tondokumente bietet.

An dieser Stelle soll ein knapper Blick auf den umfangreichen historiografischen Ertrag dieses Jubiläums gewagt werden. Um ein Minimum an Übersichtlichkeit zu gewährleisten, habe ich die Neuerscheinungen den Kategorien Monografien, Lokalstudien, Quelleneditionen und Sammelbände zugeordnet.

Monografien

Anlässlich des 50. Jahrestages erschienen mehrere Monografien, die den Anspruch erheben, übergreifende Darstellungen und Interpretationen der Juniereignisse zu sein. Um es vorwegzunehmen: Dieses Versprechen wird am überzeugendsten von dem Potsdamer Militärhistoriker Torsten Diedrich eingelöst, der mit „Waffen gegen das Volk“ nun schon sein zweites Buch zur Thematik vorlegt hat 1. Diedrichs Darstellung überzeugt durch die Verankerung der Ereignisse im Kontext des Kalten Krieges, durch ihren stringenten Aufbau, durch abgewogenes, aber deutliches Urteil und nicht zuletzt durch ihre gute Lesbarkeit. Der Bildteil und Karten tragen zum besseren Verständnis bei. Zum Einstieg in das Thema – etwa für Studierende – eignet sich die Studie vortrefflich.

Ein weiterer Autor, der bereits zu Beginn der neunziger Jahre mit Publikationen zum Juniaufstand hervorgetreten ist, hat eine reich illustrierte Darstellung vorgelegt 2. Ilko-Sascha Kowalczuks Buch besticht durch seine Anschaulich- und Übersichtlichkeit. Den Vorgängen in den einzelnen Regionen der DDR gibt der Verfasser breiten Raum und veranschaulicht diese durch interessante Fotos aus lokalen Kontexten. Ein besonderes Bonbon ist die im Buch enthaltende Audio-CD, auf der eine stürmische Betriebsversammlung dokumentiert ist, die am 18. Juni 1953 in Wernigerode stattfand. Hier kann man im O-Ton die Forderungen der Belegschaft hören und die Stimmungen und Erwartungen nachvollziehen. Fragwürdig sind bei Kowalczuk allerdings sein großzügiger Umgang mit dem Revolutionsbegriff und die Verknüpfung der Ereignisse von 1953 und 1989. Insgesamt handelt es sich jedoch ebenfalls um einen empfehlenswerten Überblick.

Einen essayistischen Duktus wählte Volker Koop für seine bei Siedler erschienene Monografie, die im Titel verspricht, „Legende und Wirklichkeit“ zu kontrastieren 3. Tatsächlich arbeitet sich der Autor in seinem mit zahlreichen Fotos illustrierten Buch, das deutlich auf ein breites Publikum zielt, vornehmlich an der Ereignisgeschichte ab. In seiner auf Polizei- und Stasiquellen fußenden Darstellung interessiert sich Koop besonders für die Stimmungslage in der Bevölkerung. Im Schlussteil der umfangreichen Monografie müht sich der Verfasser, die DDR-Sprachregelung vom „faschistischen Putsch“ zu widerlegen. Offenkundig hat er sich dabei nicht die Frage gestellt, wer dieser Version im Jahre 2003 überhaupt noch Glauben schenkt. Sie dürfte sich bereits 1953 als Mythos hinreichend entlarvt haben.

In der Aufmachung, in vielen Wertungen und im Duktus ähnelt Hubertus Knabes Darstellung dem Buch von Volker Koop 4. Knabe verfolgt freilich noch offensiver das Ziel, den 17. Juni in den „historischen Erinnerungsschatz“ der Berliner Republik aufzunehmen und damit dem oben beschriebenen Bedürfnis des Feuilleton und der politischen Klasse entgegenzukommen. Sein Buch hat Knabe in drei Abschnitte unterteilt: Ursachen, Aufstand und Niederschlagung. Er stützt sich auf diverse Archivquellen und als ausgewiesener DDR-Forscher auf die eigene breite Literaturkenntnis. Auf 485 Seiten schildert er ausführlich das Geschehen in Berlin und in der Provinz; außerdem fragt Knabe nach dem Verhalten einzelner sozialer Gruppen und der Rolle von Institutionen wie dem RIAS, der Kirche oder den DDR-Intellektuellen. In seinen Schlussbetrachtungen wirft Knabe den westlichen Besatzungsmächten vor, nicht energisch genug gegen das sowjetische Vorgehen protestiert zu haben und im Verbund mit der Bundesregierung die „Preisgabe der Ostdeutschen an den Kommunismus“ betrieben zu haben. In diesem Fazit cum ira et studio konstruiert auch Knabe die Verbindung zwischen 1953 und 1989; beide Ereignisse zeichnen sich seiner Ansicht nach dadurch aus, dass „ohne Führer und Organisation [...] das Volk überraschend in den Ablauf der Geschichte“ eingriff.

In der wissenschaftlichen Reihe der BStU haben Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann gemeinsam eine Studie zur Reaktion der Staatssicherheit auf den 17. Juni 1953 vorgelegt 5. Eingangs rekapitulieren die Autoren fünf Jahrzehnte Forschung zum Juniaufstand in der Bundesrepublik und die ebenso lange Ideologieproduktion der DDR. Von der Situation in Berlin ausgehend schildern die Autoren, wie sich die Erhebung über das Gebiet der DDR ausbreitete und wo sie sich gegen Dienststellen des MfS wandte. Ihre Darstellung stützt sich zu weiten Teilen auf Akten der BStU. Die Studie verdeutlicht, dass auch die Staatssicherheit – ähnlich wie die SED oder die Volkspolizei – vom Geschehen zunächst überrascht und anschließend überrollt wurde. Da sie ein besonders verhasstes Herrschaftsinstrument der kommunistischen Diktatur war, ist es verständlich, dass sich die Gewalt der Aufständischen oft gegen ihre Dienststellen oder Mitarbeiter richtete. In den entscheidenden Stunden des Aufstandes agierte die Berliner MfS-Zentrale planlos. Von einem koordinierten Vorgehen der Stasi konnte keine Rede sein und die Kommunikation mit den Dienstellen brach ebenfalls zusammen; sicher ein Grund dafür, warum der Ulbricht-Widersacher Wilhelm Zaisser alsbald seinen Posten als Sicherheitsminister und seine Position im Politbüro räumen musste. Die Studie zeigt, wie der Repressionsapparat angesichts der Wucht einer Volkserhebung die Grenzen seiner Macht aufgezeigt bekam. Abschließend untersuchen die Autoren die Machtkämpfe an der Spitze des MfS und die Rolle des Ministeriums bei der strafrechtlichen Verfolgung von Aufständischen.

Der Vollständigkeit halber sei noch auf drei weitere Publikationen verwiesen, die letztes Jahr erschienen sind. Thomas Fleming hat eine reich bebilderte Überblicksdarstellung geschrieben, die dem Leser auf knappen Raum das Wesentliche über den 17. Juni präsentiert 6. Das Buch, das in Zusammenarbeit mit der ARD entstand, bietet einen soliden und quellengesättigten Überblick. Als stark geraffte und gut verständliche Darstellung wendet es sich an ein breites Publikum. Zwiespältiger muss das Urteil über zwei weitere Neuerscheinungen ausfallen. Rolf Steiniger wärmt in seiner Kurzstudie „17. Juni 1953. Der Anfang vom Ende der DDR“ die These wieder auf, dass die Historie der DDR nur als lineare Verfallsgeschichte zu begreifen sei 7. Auf eine kurze Zusammenfassung der Juniereignisse folgt im zweiten Teil des Buches ein Schnelldurchlauf durch die DDR-Geschichte, der teleologisch auf das Ende des Jahres 1989 zugeschrieben ist. In diesem Parforce-Ritt durch die ostdeutsche Nachkriegsgeschichte versäumt es der Autor nicht, seine Meinung zur DDR deutlich zu machen („grau und trist, muffig, kleinbürgerlich und braunkohlenstinkig, repressiv und perspektivlos“) und reiht sich abschließend in die Reihe derjenigen ein, die aufgrund des Verschwindens des Nationalfeiertages am 17. Juni einen starken Phantomschmerz verspüren. Im entgegengesetzten politischen Spektrum verortet sich ein anderer Autor: Wer dem deutschen „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ lieber mit Nachsicht gedenkt und wem bei der Verwendung seiner Begrifflichkeiten („Tag X“, „Großbourgeoisie“, „klassenbewußte Arbeiter“) warm ums Herz wird, dem sei Hans Bentziens „Was geschah am 17. Juni?“ empfohlen 8. In Bentziens Werk ist die Wandlitz-Pankower Welt noch in Ordnung. Bei ihm ist der Westen, insbesondere die USA, an allem Elend schuld, bei den Sowjets handelt es sich hingegen um antifaschistische Idealisten (Ausnahme: Berija) und die LPG charakterisiert er als „verblüffende Antwort auf ein Bündel Probleme“. Aus diesem Intro ergibt sich dann das Urteil über den 17. Juni mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Nach Meinung des Verfassers wirkte im Hintergrund eine unheilige Allianz aus Lavrentij Berija und den westlichen Geheimdiensten. Vor dem Hintergrund dieser weltpolitischen Verschwörung erlebt der Leser einen abrupten Perspektivwechsel: Unvermittelt avanciert der Verfasser zum Protagonisten seiner Erzählung und schildert als Zeitzeuge „seinen“ 17. Juni. Am Ende erfährt der Leser von der Koordination des Aufstandes durch den RIAS und der Verschwörungstheoretiker Bentzien verkündet resigniert, dass es noch nicht an der Zeit sei, die Wahrheit zu erfahren: Die „entscheidenden Gründe für die Unruhen“ schlummerten weiter „im Dunkel der Archive.“

Lokalstudien

Da der Aufstand des 17. Juni unter den Bauarbeitern der Stalinallee begann und aus Berlin die dramatischen Bilder stammen, die sich in das medial vermittelte kollektive Gedächtnis eingebrannt haben – der Fahnenwechsel auf dem Brandenburger Tor, das brennende Columbiahaus am Potsdamer Platz, die sowjetischen Panzer in der Leipziger Straße – liegt bei zahlreichen Überblicksdarstellung der Fokus auf dem dortigen Geschehen. Dass die Ereignisse des 17. Juni aber mittlerweile als ein Aufstand gesehen werden, der die gesamte DDR erfasste, liegt sicher auch daran, dass eine Reihe vortrefflicher Regionalstudien erschienen sind. Bereits 1999 legte Heidi Roth ihre voluminöse Dissertation zum Juniaufstand in Sachsen vor 9. Die Verfasserin behandelt nacheinander das Geschehen in den Bezirken Leipzig und Dresden, in den Kreisen Görlitz und Niesky, im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG-Wismut. In zwei abschließenden Kapiteln untersucht sie die Reaktionen der SED und der partei-staatlichen Justiz auf den Aufstand. Der Studie kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie mit dem bürgerlich geprägten Leipzig und insbesondere mit Görlitz, wo die Aufständischen für einige Stunden die Macht übernahmen, zwei Brennpunkte detailliert untersucht. Die Darstellung fußt auf einer breiten Basis regionaler und Berliner Quellen, zu der auch die Überlieferungen der Sicherheitsapparate und der Universitäten zählen. Auf dieser soliden Grundlage gelingt es der Autorin, sehr dicht und präzise die Entwicklungen zu beschreiben, die zu unterschiedlichen Situationsdynamiken führten. Roth kann zeigen, dass die Arbeitsniederlegungen in Sachsen teilweise eine stärkere Wucht und einen höheren Organisationsgrad hatten als in Berlin – ein Befund, der die Bedeutung der Ereignisse außerhalb der Hauptstadt eindrucksvoll bestätigt. Außerdem wird deutlich, dass die Traditionen der Arbeiterbewegung, die weit in die Zeit vor 1933 zurückreichten, 1953 noch wirkungsmächtig waren.

Eine weitere Monografie, die den mitteldeutschen Raum behandelt, hat Hans-Peter Löhn zu Halle vorgelegt 10. Das Buch besticht durch seine präzise Schilderung der Ereignisse in der Saalestadt. Dabei gelingt es dem Verfasser zu zeigen, wie die Situation dort in den Nachmittagsstunden des 17. Juni eskalierte und die Menge gegen die SED-Bezirksleitung und die Volkspolizei vorging. Plastisch werden die Geschehnisse rund um das Zuchthaus „Roter Ochse“ geschildert, wo von der Staatsmacht Schusswaffen eingesetzt wurden und Tote zu beklagen waren. Diese Tumulte und die Befreiung von Gefangenen aus der Untersuchungshaft werden zusätzlich durch Bildmaterial dokumentiert. Ebenso akribisch seziert Löhn die Quellen zum Fall der vermeintlichen „SS-Kommandeuse“ Erna Dorn, die nach Angaben der SED-Propaganda den Aufstand in Halle mit anzettelte, und er kann zeigen, dass es sich hierbei um eine Fabrikation des Propagandastaates handelte; allerdings gelingt es auch ihm nicht, die Identität der Person zu klären, die am 1. Oktober 1953 in Dresden hingerichtet und vom Schriftsteller Stephan Hermlin in einer Erzählung post mortem zum Symbol eines „faschistischen Putsches“ stilisiert wurde. Abschließend widmet sich auch diese Studie der Niederschlagung des Aufstandes und der Verfolgung seiner Protagonisten durch die partei-staatlichen Apparate.

Ein von Hermann-Josef Rupieper verantworteter Sammelband beschäftigt sich ebenfalls mit dem Juni 1953 im mitteldeutschen Industrierevier 11. Er präsentiert dem Leser 13 Aufsätze und drei Zeitzeugenberichte über diesen Brennpunkt der Unruhen. Die Untersuchungen widmen sich Unruheherden wie Magdeburg und Bitterfeld, verschiedenen Institutionen und Betrieben wie der Martin-Luther-Universität oder dem Komplex Leuna-Buna sowie den Schicksalen einzelner Akteure, darunter wiederum dem Fall der „Kommandeuse Erna Dorn“. Die einzelnen Studien sind durchweg quellengesättigt und lesenswert; sie tragen dazu bei, neue Facetten des 17. Juni im Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt bekannt zu machen.

Quelleneditionen

Aus Anlass des 50. Jahrestages erschienen mehrere Quelleneditionen zum Juniaufstand. Die empfehlenswerteste Dokumentensammlung zur Thematik entstand jedoch bereits im Jahr 2001 unter der Ägide von Christian F. Ostermann 12. Was zeichnet dieses Buch vor anderen aus? Zunächst sicher die gelungene Kontextualisierung der Ereignisse, die Einordnung des Geschehens in die internationale Konfliktkonstellation des Kalten Krieges. Man merkt dem Band deutlich seinen Entstehungskontext im renommierten Washingtoner „Cold War International History Project“ an. In drei Teile gegliedert (Ursprünge der Krise, Der Aufstand, Konsequenzen für die amerikanische Außenpolitik), enthält das Buch 95 kompetent kommentierte Dokumente aus amerikanischen, russischen, deutschen, polnischen und tschechischen Archiven. Hier findet der interessierte Historiker ein Konvolut, das einen multiperspektivischen Zugang und damit ein übergreifenderes Verständnis des Juniaufstandes ermöglicht. Der einzige Wermutstropfen ist vielleicht eine allzu deutliche Fixierung auf die Ebenen der „großen Politik“ und der Geheimdienste. Andererseits ermöglichen der amerikanische und sowjetische Blickwinkel es jedoch, den internationalen Stellenwert der Ereignisse neu zu bestimmen. Selbst denjenigen, die meinen, schon alles über den 17. Juni zu wissen, dürfte dieses internationale Kompendium noch neue Einsichten in eine internationale Krisensituation eröffnen.

Die von dem Potsdamer Historiker Burghard Ciesla zusammengestellte Dokumentation zum 17. Juni in Brandenburg kann man aufgrund der vorzüglichen Einleitung des Herausgebers auch als Regionalstudie über die Bezirke Potsdam, Cottbus und Frankfurt an der Oder lesen 13. Ciesla präsentiert in chronologischer Reihenfolge Dokumente aus den Beständen der SED, der Volkspolizei und der Staatssicherheit. Diese Quellen verdeutlichen, wie sehr der Partei-Staat im Raum Brandenburg von der politischen Entwicklung überrascht wurde. Burghard Ciesla vertritt die These, dass die Proteste in Brandenburg an der Havel eine ähnliche Intensität erreichten wie in Halle oder Leipzig – die Stadt wäre damit zu den Brennpunkten der Erhebung zu zählen. Rund um die Hauptstadt gelang es durch die Unterbrechung des Personenverkehrs jedoch frühzeitig, eine Ausweitung der Demonstrationen und – mit der Ausnahme von Hennigsdorf – eine Solidarisierung des Umlandes mit den Berliner Streikenden weit gehend zu unterbinden. Dokumente aus der Zeit nach dem Aufstand illustrieren, welche Probleme der Partei-Staat mit seiner Bewältigung hatte und wie die SED krampfhaft versuchte, Belege für die eigenen Verschwörungstheorien zu finden. Insgesamt stellt diese Sammlung eine Fundgrube für diejenigen dar, die an der Geschichte Brandenburgs unter der SED-Herrschaft interessiert sind.

Zwei weitere Potsdamer Historiker – der bereits erwähnte Torsten Diedrich und Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung – haben anlässlich des 50. Jahrestages verdienstvollerweise eine wichtige Quelle aus dem Fundus der Sicherheitsorgane der DDR ediert 14. Es handelt sich um die „geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei“, d.h. um die Analysen der einzelnen Bezirke, die von der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei in Berlin bereits am 21. Juni 1953 angefordert wurden. Den Berichten vorangestellt ist eine aufschlussreiche Rede des Vopo-Chefs Karl Maron, in der sich das Selbstverständnis dieses bewaffneten Arms der SED-Herrschaft im Angesicht der Krise manifestiert. Diese Dokumente - sprachlich ein schwer erträgliches Kompositum aus Dienstdeutsch und stalinistischem ‚newspeak’ – erweisen sich als faszinierende Quelle zum Herrschafts- und Gewaltverständnis der SED-Diktatur. In ihnen spiegelt sich die Volkspolizei als gespaltenes Herrschaftsinstrument, das zwischen preußisch-deutschem Pflichtbewusstsein in der Breite, stalinistischem Kaderethos an der Spitze und moralischen Skrupeln an der Basis in der Krise seine Funktionsfähigkeit weit gehend einbüßte. Einen bedeutenden Teil der Vopos beseelte zwar offenkundig große Einsatzbereitschaft und der urdeutsche Wille, „Ruhe und Ordnung“ Geltung zu verschaffen. Letztlich zeigte sich jedoch, dass der komplette Neuaufbau der Polizei in der SBZ/DDR im Angesicht der Herrschaftskrise seinen Tribut forderte. Es handelte sich bei der Volkspolizei des Jahres 1953 kaum um eine schlagkräftige Truppe, geschweige denn eine gut bewaffnete oder taktisch ausgebildete Ordnungsmacht. Erst langsam gelang es der Deutschen Volkspolizei, in die Mitte der Gesellschaft vorzustoßen und wenigstens partiell mit Hilfe der Abschnittsbevollmächtigten den intendierten „engen Kontakt zur Bevölkerung“ herzustellen 15. Die Volkspolizei war am 17. Juni ein stumpfes Schwert der Partei.

Einen weiteren Blick auf den Aufstand mit den Augen des Partei-Staates bietet die von Wilfriede Otto verantwortete Dokumentation über die SED im Juni 1953 16. Der Band beinhaltet Quellen aus dem innersten Führungszirkel der SED – Notizen von Spitzenkadern wie Ulbricht, Grotewohl, Ebert, Herrnstadt oder Oelßner – sowie Protokolle von Führungsgremien, insbesondere des Politbüros. Alle Quellen sind der Forschung seit der Wende von 1989/90 zugänglich und bekannt. Die Dokumentation setzt mit der von Moskau dekretierten Verkündung des „Neuen Kurses“ und der Reise einer SED-Delegation in die sowjetische Metropole ein und schließt mit einer Politbürositzung vom 23. Juli 1953. Der Vorteil des Bandes ist schnell genannt: Forschende sparen sich den Gang ins Archiv und die Sichtung der einschlägigen Akten und Nachlässe. Wie aus anderen Zusammenhängen bekannt, erweisen sich jedoch diese Quellen der obersten Führungsebene des SED-Staates als wenig ergiebig – insbesondere, wenn sie nicht im historisch-politischen Kontext verortet werden. Die Konzentration auf das Politbüro verstellt auch den Blick auf die interessante Frage, wie die SED als Hybrid aus Avantgarde und Massenpartei insgesamt auf den 17. Juni reagierte. Was im vorliegenden Band bleibt, ist ein Blick auf die wenig erhellende Schriftkultur der SED; das Stakkatodeutsch des Politbüroprotokolls ist hier für den Sommer 1953 dokumentiert. Bei der Lektüre verfestigt sich der Eindruck, dass die SED nicht nur nicht Herr der Lage, sondern insbesondere nicht Herr über die Sprache war. So präsentiert sich auf den Seiten dieser Edition die stalinistische Diktatur als kommunikatives Desaster; die Permanenz der Phrase ist noch bedrückender als in jener bekannten Sonntagabend-Talkshow der Berliner Republik.

Wie unterschiedlich DDR-Bürger je nach ihrer sozialen und politischen Stellung den Juniaufstand erlebten, verdeutlicht ein unscheinbares, populäres Bändchen, in dem kurze Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews wiedergegeben sind, die einiges über die Atmosphäre der Zeit, aber auch den 17. Juni als deutschen Erinnerungsort verraten 17.

Sammelbände

Schließlich hat das Aufstandsjubiläum auch auf dem Markt für Sammelbände seine Spuren hinterlassen. Doch bevor wir uns den Titeln des Erscheinungsjahres 2003 zuwenden, sei noch auf zwei ältere Publikationen verwiesen, die gleichwohl Beachtung verdienen. Bereits 1999 erschien ein von den Potsdamer Historikern Christoph Kleßmann und Bernd Stöver herausgegebener Band, dessen Anliegen es ist, den Juniaufstand im Kontext des Jahres 1953 zu beleuchten 18. Kleßmann und Stöver vertreten die These, dass 1953 ein „Krisenjahr“ für das sowjetische System insgesamt gewesen sei – sowohl im Kreml, wo zwischen März und Juli die ungeklärte Machtfrage schwelte, als auch an den leicht entzündlichen Peripherien des Imperiums. Die Beiträge des ersten Teils rollen die Frage nach den deutschlandpolitischen Konzepten Berijas wieder auf und informieren über die Auswirkungen des „Neuen Kurses“ in der ČSSR und in Ungarn. Der zweite Teil analysiert die amerikanische, englische, bundesdeutsche und polnische Reaktion auf den Aufstand. In einem gelungenen Resümee zieht Bernd Stöver eine Bilanz des Epochenjahres 1953. Einen noch breiteren Ansatz verfolgt ein von Jan Foitzik (Berlin) herausgegebenes Buch, das die gesamte „Entstalinisierungskrise“ der Jahre 1953-1956 in den Blick nimmt 19. Wie im Band von Kleßmann und Stöver zeigt sich auch hier, dass die Kooperation mit Kollegen aus Übersee und Ostmitteleuropa eine umfassende, vergleichende Perspektive ermöglicht. Auf der Grundlage lokaler und Moskauer Quellen analysieren die Beiträger Desintegrationsentscheidungen im sowjetischen Machtbereich. Einzelne Studien beschäftigen sich mit der Ungarischen Revolution und dem „polnischen Oktober“ 1956. Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit der DDR; den Abschluss bilden russische Dokumente, die Licht auf die Rolle des KGB bei der Etablierung des ungarischen Kadar-Regimes werfen. Beide Bände glänzen aufgrund ihrer internationalen Perspektive; hier bildet der Kalte Krieg nicht nur den Hintergrund für den 17. Juni, sondern seine Akteure und Mechanismen werden in die Erklärung der Ereignisse mit einbezogen. Das komplexe Beziehungsgeflecht und die verschiedenen Interdependenzen zwischen Moskau und den „Volksdemokratien“ treten deutlich hervor.

Doch konzentrieren wir uns im Folgenden auf das Erscheinungsjahr 2003. Der Berliner DDR-Experte Ulrich Mählert hat einen Band vorgelegt, der die regionalen Dimensionen der Erhebung vorstellt und versucht, den Akteuren des Aufstandes ein Gesicht zu verleihen 20. Der erste Teil des Buches bringt durchweg lesenswerte Aufsätze über das Geschehen in Berlin, Potsdam, Sachsen, Jena, Rostock und den Bezirk Halle. In einer interessanten Studie fragt Stefan Wolle, wie ausgerechnet das symbolisch aufgeladene Aufbauprojekt Stalinallee zum Ausgangspunkt des Aufstandes werden konnte. Die Ergebnisse der hier vorgesellten Aufsätze zu lokalen Brennpunkten korrespondieren mit den Erkenntnissen der oben vorgestellten Regionalstudien. Der zweite Teil, der den Titel „Menschen machen Geschichte“ trägt, stellt fünf Personen vor, die sich in der Widerstandsbewegung exponierten. Hier analysiert Friedhelm Bohl die Dimensionen des sozialdemokratischen Widerstandes gegen die kommunistische Diktatur in Ostdeutschland. Diesen akteurszentrierten Abschnitt beschließt ein Zeitzeugenbericht des Berliner Bibliothekars und Osteuropaexperten Peter Bruhn, der als Referendar an der Staatsbibliothek Unter den Linden die Ereignisse aus der Nähe miterlebte. Den Abschluss des gelungenen Bands bildet ein Aufsatz von Bernd Faulenbach, der die Geschichte der Erinnerung an den 17. Juni in beiden deutschen Staaten analysiert.

Zwei weitere Veröffentlichungen richten sich eher an ein Spezialpublikum. Der Band „Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni“ beschäftigt sich auf einer allgemeinen Basis mit dem Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und kommunistischem Partei-Staat in den Jahren 1945-1956 21. Ein Fokus liegt dabei auf den Repressionen, die seit der 2. Parteikonferenz der SED und insbesondere im Anschluss an Stalins Tod noch verschärft wurden. Insgesamt betrachtet handelt es sich um eine Publikation, die nur mittelbar die Ereignisse des Juniaufstandes analysiert und eigentlich die Frage nach der Stellung der Kirche in der kommunistischen Diktatur aufwirft. Neben Aufsätzen, die u.a. die Reaktion der Kirche auf die Repressionen, die Diskussion um den Begriff „Kirchenkampf“ oder die Stellung der theologischen Fakultäten an DDR-Universitäten behandeln, enthält der Band auch einzelne Dokumente und die Erinnerungen zweier Zeitzeugen. Schließlich ist am Breslauer Willy-Brandt-Zentrum im letzten Jahr ein Band erschienen, der Studien polnischer Kolleginnen und Kollegen zum 17. Juni enthält 22. Das Buch enthält u.a. eine vortreffliche Mikrostudie der Warschauer Historikerin Małgorzata Mazurek zu den Berliner Stalinwerken und einen Aufsatz von Marcin Lipnicki über die Ost-CDU im Sommer 1953. Vier Beiträge behandeln die Reaktionen auf den Aufstand in der Bundesrepublik, in den Vereinigten Staaten, Polen und der Tschechoslowakei. Die letzten fünf Aufsätze sind einer vergleichenden Perspektive auf antikommunistische Aufstandsbewegungen in Ostmitteleuropa verpflichtet; sie fragen nach länderübergreifenden Ähnlichkeiten und der heutigen Erinnerung an den antikommunistischen Widerstand.

Resümee

Der Blick in die Literatur hat verdeutlicht, wie umfangreich der historiografische Ertrag des Jahres 2003 war – und dieser Aufsatz erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist daher gerechtfertigt festzustellen, dass die Forschung zum 17. Juni 1953 damit einen neuen Stand erreicht hat. Die stets etwas artifiziell anmutende Debatte, ob es sich um einen Arbeiter- oder um einen Volksaufstand gehandelt habe, dürfte entschieden sein 23. Gerade die zahlreichen Regionalstudien veranschaulichen, dass der Arbeiterschaft zwar eine tragende Rolle zukam, dass sich jedoch schnell breite Kreise der Bevölkerung mit der Erhebung solidarisierten. Neben dieser größeren Breite ist zu vermerken, dass der 17. Juni langsam viele Gesichter bekommt. Durch zahlreiche Regional- und Fallstudien kennen wir heute viele der lokalen Protagonisten der Erhebung.

Neben diesen erfreulichen Tendenzen gilt es jedoch auch, auf einige problematische Entwicklungen hinzuweisen. In der Gesamtschau betrachtet ist die Forschung – bei aller inneren Differenziertheit – noch kaum theoriegeleitet. Es fehlt ein Anschluss an internationale Konzepte wie ‚crowd research’, es fehlt eine Gesellschaftstheorie sowjetischer Systeme, auf die sich ein reflektierter Krisenbegriff anwenden ließe 24. Vieles erscheint doch sehr narrativ und nah an den Quellen gebaut – was bei Regionalstudien ja auch durchaus ein Vorteil sein kann. Letztlich gleicht die Forschung – von den markierten Ausnahmen abgesehen – jedoch allzu sehr einer nun gesamtdeutschen Nabelschau auf einen ostdeutschen Aufstand. Auch für diesen Teil der DDR-Geschichte gilt sicherlich die jüngst von Martin Sabrow und Thomas Lindenberger vehement geforderte Europäisierung 25. In dieser Richtung wäre viel zu gewinnen.

Besonders problematisch erscheint vor diesem Hintergrund die Tendenz, den 17. Juni für eine neue nationale Meistererzählung zu vereinnahmen. Sie zeigt sich etwa dann, wenn versucht wird, Kontinuitäten zwischen 1953 und 1989 zu konstruieren. Hier genügt ein Blick auf unsere ostmitteleuropäischen Nachbarländer, um zu verstehen, dass der 17. Juni eben keine Tradition des Widerstandes gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung begründete. Als traumatisches Datum war er tief im Bewusstsein des Regimes verankert; für die neue Oppositionsbewegung der achtziger Jahre hingegen bildete er kaum einen positiven Bezugspunkt. Im Gegenteil: Ihre Parole lautete bekanntlich „Keine Gewalt!“ Deshalb ist es historisch verfehlt, den 17. Juni 1953 zum Ursprung des friedlichen Umbruchs von 1989 zu erklären, wie dies nicht nur im Trubel der Jubiläumsfeierlichkeiten, sondern auch in Teilen der Geschichtsschreibung geschehen ist. Im europäischen Kontext betrachtet verbietet sich dann auch die Verwendung des Begriffes „Revolution“ für den Juniaufstand. Dies würde den Begriff vollständig überdehnen und entwerten; schließlich hatte der 17. Juni nicht das Ausmaß der Ereignisse, die 1956 Ungarn erschütterten. Letztlich kann man festhalten, dass man über den Charakter des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in Zukunft weniger streiten wird – über seine Funktion als nationalen Erinnerungsort der Berliner Republik wird jedoch weiter debattiert werden.

Anmerkungen:
1 Torsten Diedrich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003. Siehe auch ders.: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991.
2 Ilko-Sascha Kowalczuk: 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003.
3 Volker Koop: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003.
4 Hubertus Knabe: Der 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin 2003.
5 Karl Wilhelm Fricke/ Roger Engelmann: Der „Tag X“ und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003.
6 Thomas Fleming: Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953, Berlin 2003.
7 Rolf Steiniger: 17. Juni 1953. Der Anfang vom langen Ende der DDR, München 2003.
8 Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte – Verlauf – Hintergründe, Berlin 2003.
9 Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln u.a. 1999.
10 Hans-Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale, Bremen 2003.
11 Hermann-Josef Rupieper (Hg.): „...und das Wichtigste ist doch die Einheit“. Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg, Münster u.a. 2003.
12 Christian F. Ostermann: Uprising in East Germany, 1953. The Cold War, the German Question and the First Major Upheaval Behind the Iron Curtain, Budapest u.a. 2001.
13 Burghard Ciesla (Hg.): Freiheit wollen wir! Der 17. Juni 1953 in Brandenburg, Berlin 2003.
14 Torsten Diedrich/ Hans-Hermann Hertle (Hg.): Alarmstufe „Hornisse“. Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953, Berlin 2003.
15 Vgl. grundlegend: Thomas Lindenberger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat, Köln u.a. 2003.
16 Wilfriede Otto (Hg.): Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente, Berlin 2003.
17 Jochen Wolff (Hg.): Der Aufstand. Juni 53 – Augenzeugen berichten, Berlin 2003.
18 Christoph Kleßmann/ Bernd Stöver (Hg.): 1953 – Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa, Köln u.a. 1999.
19 Jan Foitzik (Hg.): Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische und nationale Dimensionen, Paderborn u.a. 2001.
20 Ulrich Mählert (Hg.): Der 17. Juni 1953. Ein Aufstand für Einheit, Recht und Freiheit, Bonn 2003.
21 Martin Greschat/ Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953, Stuttgart 2003.
22 Krzysztof Ruchniewicz (Hg.): Powstanie czerwcowe w NRD w 1953 roku na tle innych wystąpień antykomunistycznych w krajach Europy Środkowo-Wschodniej, Breslau 2003.
23 Eine gelungene Zusammenschau der älteren Forschung findet sich bei Beate Ihme-Tuchel: Die DDR, Darmstadt 2002, S. 22-41.
24 Auf den fehlenden Anschluss der historischen DDR-Forschung an Konzepte des angelsächsischen ‚crowd research’ verweist jetzt auch: Thomas Lindenberger: „Gerechte Gewalt?“ Der 17. Juni 1953 – ein weißer Fleck in der historischen Protestforschung, in: Henrik Bispinck/ Jürgen Danyel/ Hans-Hermann Hertle/ Hermann Wentker (Hg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004, S. 13-127. Da dieser Band erst vor kurzem erschienen ist, konnte er nicht mehr in diese Betrachtungen einbezogen werden.
25 Vgl. Thomas Lindenberger/ Martin Sabrow: Das Findelkind der Zeitgeschichte. Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte, Frankfurter Rundschau, 12.11.2003 [wiederabgedruckt in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 123-127].

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