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Titel
Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung.


Autor(en)
Semmler, Josef
Reihe
Studia humaniora, series minor 6
Erschienen
Düsseldorf 2003: Droste Verlag
Anzahl Seiten
179 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Führer, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Ein bekannter Aufsatz Jörg Jarnuts trägt den Titel „Wer hat Pippin 751 zum König gesalbt?“ 1 Diese Salbung des ersten karolingischen Königs wird von einigen Quellen kommentarlos zum Jahr 751 vermeldet, andere nennen keinen Geringeren als Bonifatius als Spender der Königssalbung. Am 1.12.2000 hielt Josef Semmler im Rahmen der Düsseldorfer Tagung „Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung“ einen Vortrag über „Zeitgeschichtsschreibung und Hofhistoriographie unter den frühen Karolingern“ 2. Es war kaum zu ahnen, dass an diesem Morgen ein als unumstößlich geltendes Element gängigen Handbuchwissens bestritten werden sollte. Semmler verneinte die Salbung König Pippins 751, mit der doch, so wurde bislang argumentiert, die späteren Karolinger erst die für das Königtum notwendige Legitimation erlangt hätten.3 Leider kam es an diesem Tag aus Zeitgründen zu keiner Diskussion. Um so notwendiger scheint es, angesichts der grundsätzlichen Bedeutung des angesprochenen Problems die Argumente Semmlers, die hier in einer kleinen Monografie nochmals vorgestellt werden, ausführlicher zu prüfen.

Semmler bedient sich zunächst eines in jedem Proseminar gelehrten, aber in diesem Fall oft nicht angewandten Prinzips und prüft die Quellen (in der Hauptsache die Continuatio Fredegarii und die fränkischen Reichsannalen mit den von ihnen abhängigen Berichten), indem er den zeitlich am nächsten an den Ereignissen stehenden Zeugnissen den Vorrang einräumt. Die bis in die Schulbücher hinein (sofern sich diese überhaupt noch mit dem Mittelalter beschäftigen) prägenden Annales regni Francorum sind für die Ereignisse von 751 bei weitem nicht zeitgenössisch: Der bekannte Bericht über die Gesandtschaft Abt Fulrads von Saint-Denis und Bischof Burchards von Würzburg zum Papst nach Rom mit der Anfrage, wer im Reich der Franken König sein solle, der Inhaber des Königstitels oder der Inhaber der Herrschergewalt, wurde erst vierzig Jahre später verfasst. Die wesentlich zeitnaher entstandene Fortsetzung der so genannten Fredegar-Chronik hingegen verrät nichts von den Teilnehmern der Gesandtschaft und berichtet nicht explizit von einer Salbung. Die daraus folgenden quellenkritischen Konsequenzen werden nun von Semmler weiter zugespitzt, indem er zeigt, dass Vorstellungen von Königtum und göttlicher Weltordnung wie in den Reichsannalen auf der Rezeption von Pseudo-Cyprian (De XII abusivis saeculi), Augustinus und Isidor von Sevilla beruhen. Diese Schriften waren jedoch im Frankenreich um 750 offensichtlich noch nicht vollständig zugänglich, um 790 hingegen wesentlich besser greifbar. Die Gesandtschaft zu Papst Zacharias wird (im Einklang mit dem byzantinischen Chronisten Theophanes) mit dem Problem des dem König geleisteten Eides begründet, von dem Pippin und die fränkischen Großen erst hätten entbunden werden müssen, um einen neuen Herrscher zu erheben (S. 24). Dieser Umstand wurde in den karolingernahen Quellen nicht vermerkt, Theophanes im Westen nicht rezipiert; durch die Übersetzung des Anastasius Bibliothecarius gelangte diese Überlieferung jedoch im 11. Jahrhundert an die Kurie, und Gregor VII. sah hierin prompt einen Präzedenzfall, um die Untertanen vom Eid gegenüber einem vom Papst abzusetzenden Herrscher zu lösen – in diesem Fall dann Heinrich IV. (S. 28).

Nach der Analyse der historiografischen Quellen zu 751 wird deutlich, dass eine Salbung Pippins für dieses frühe Datum kaum als belegt angesehen werden kann, da diese Ansicht ausschließlich auf wesentlich später entstandener und untereinander abhängiger karolingischer Hofgeschichtsschreibung beruht, die sich in der Rückschau einer „carolingian correctness“ (S. 13) bedient. Im Jahr 754 wurde Pippin nun tatsächlich gesalbt, hierin besteht wohl auch weiterhin Einigkeit. Allerdings handelt es sich bei dieser Salbung durch den ins Frankenreich gereisten Papst Stephan II. abermals nicht um eine Königssalbung, sondern um die postbaptismale Taufsalbung, die Firmung, die nicht nur Pippin, sondern auch seiner Gemahlin sowie den Söhnen Karl und Karlmann zuteil wurde (S. 49f.). Hier verweist Semmler auf die Forschungen Arnold Angenendts, wobei die Deutung der Salbung von 754 als Firmung viel älter ist, aber seitdem in Vergessenheit geraten war.4

Im folgenden Kapitel (Mutmaßliche Königswähler von 751, S. 58-86) werden auf der Basis prosopografischer Forschungen Überlegungen zum Umfeld Pippins angestellt, deren Details an dieser Stelle kaum gewürdigt werden können, jedoch das Umfeld des ersten karolingischen Königs im Frankenreich erahnen lassen. Im Abschnitt zu Liturgie und Kirchenrecht (S. 87-110) erscheint am deutlichsten die tiefe Quellenkenntnis, über die Semmler verfügen kann, um seine Thesen zu stützen. Mehrere Versionen der so genannten Collectio vetus Gallica werden in ihrer jeweiligen Herkunft und Überlieferung gewürdigt, so dass zusammen mit den liturgischen Handschriften ein beeindruckendes Panorama der um die Mitte des 8. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden Texte entsteht.

Das letzte Kapitel (Die fränkische Königssalbung im 9. Jahrhundert – Hinkmar von Reims und die Taufe Chlodwigs, S. 111-127) erweitert anhand der Salbung Karls des Kahlen für Lotharingien im Jahr 869 die Perspektive. „Hinkmar von Reims leitet im Gegensatz zu Papst Stephan II. 115 Jahre zuvor die an Karl dem Kahlen vollzogene Salbung nicht von der Firmsalbung ab, sondern von der im Rahmen der Taufhandlung gespendeten Salbung, wie sie die gallikanische Liturgie kannte.“ (S. 124f.) Bei Hinkmar von Reims dient die Salbung zur Bekräftigung der Einsetzung in das geistliche Amt des Königs. Auch hier handelt es sich also noch nicht um eine Königssalbung. Bis zu dieser Vorstellung war es allerdings nur noch ein kleiner Schritt, der beispielsweise bei Flodoard von Reims im 10. Jahrhundert bereits vollzogen wurde.

Allein der Anteil des Quellen- und Literaturverzeichnisses am Gesamtwerk (S. 129-179) zeigt, mit welcher Gründlichkeit Semmler vorgeht. Auch entlegene Quellen werden herangezogen, die unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur werden sorgfältig gegeneinander abgewogen; im Anhang gar nicht erfasst ist die Vielzahl der diskutierten und immer wieder angeführten Handschriften. Dieses Verzeichnis ist – besonders bei französischsprachigen Titeln – leider nicht frei von Druckfehlern, über die man angesichts der Fülle der Angaben und der Bedeutung der Thesen Semmlers allerdings bereitwillig hinwegsehen sollte.

Als Fazit aus diesem kleinen, aber wichtigen Werk kann gelten: Die Forschung ist auf jeden Fall um eine bedeutende These zum Herrschaftsantritt Pippins 751 reicher. Eine als Königssalbung verstandene Handlung, zudem bereits 751 statt 754, ist wohl kaum zu halten. Über vieles andere sollte in weiteren Detailstudien geforscht werden. Die Untersuchung der Quellen von ihrem Entstehungszeitpunkt her hat in der Erforschung des 10. Jahrhunderts bereits zu überraschenden Ergebnissen geführt und dürfte noch einige Erkenntnismöglichkeiten bereithalten.5 Eine große Frage, die Josef Semmler offen lässt, sollte vorrangig untersucht werden: Wie kommt es zur Umdeutung der Firmsalbung in eine Königssalbung? Auf welche Werke stützt sich diese Sicht? Aus welchen Kreisen taucht sie zu welcher Zeit auf? Semmlers Buch ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Herrschergeschichte des frühen Mittelalters, sondern auch zur Geschichte der Salbung im Mittelalter.

Anmerkungen:
1 Jarnut, Jörg, Wer hat Pippin 751 zum König gesalbt?, Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 45-57.
2 Semmler, Josef, Zeitgeschichtsschreibung und Hofhistoriographie unter den frühen Karolingern, in: Laudage, Johannes (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln 2003, S. 135-164.
3 Als Forschungsüberblick und Summe der früheren Forschungen sehr nützlich ist der umfangreiche Aufsatz von Affeldt, Werner, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), S. 95-187.
4 Bereits zu finden bei Caspar, Erich, Pippin und die römische Kirche. Kritische Untersuchungen zum fränkisch-päpstlichen Bunde im VIII. Jahrhundert, Berlin 1914, S. 39.
5 Fried, Johannes, Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Borgolte, Michael (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995, S. 267-318.

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