A. Haritonow: Ideologie als Institution und soziale Praxis

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Titel
Ideologie als Institution und soziale Praxis. Die Adaption des höheren sowjetischen Parteischulensystems in der SBZ/DDR (1945-1956)


Autor(en)
Haritonow, Alexander
Reihe
Edition Bildung und Wissenschaft 9
Erschienen
Berlin 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Im System kommunistischer Herrschaft kam dem Parteischulwesen stets zentrale Bedeutung zu: Innerhalb dessen wurden die Kader von Partei und Staat, von denen in amtlicher Sicht "alles" abhing, politisch ausgerichtet und auf ihre jeweiligen Aufgaben vorbereitet. In der SBZ/DDR, wo die aus Moskau importierte deutsche Führung zunächst kaum über Personal verfügte, weil nicht nur die bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte, sondern sogar die einheimischen KPD-Mitglieder unzuverlässig erschienen, war die Schulung neuer Kader ein dringendes Gebot der Stunde. Dabei ging es nicht nur um bloße Lernerfolge, sondern vor allem auch um die Einübung von Konformität und Unterordnung, die sich bei allen Wendungen und Brüchen der vom Kreml verordneten Linie zu bewähren hatte. Ein unerlässliches Instrument dazu war die Ideologie, die dem Willen der Partei eine feststehende Rationale verlieh und zugleich mittels Dialektik die Anpassung an beliebige Interpretationen des daraus folgenden Erfordernisses zur Pflicht machte. Entscheidend war mithin weniger das intellektuelle Begreifen als die soziale Konditionierung.

Die Bedeutung des Buches von Alexander Haritonow geht freilich über diesen wichtigen Bereich hinaus, denn es handelt sich zugleich um eine exemplarische Untersuchung der Einflussrelation zwischen UdSSR und SBZ/DDR: In der zentralen Frage des Parteischulwesens zeigt sich, wie weit das Vorgehen der KPD/SED von der sowjetischen Führungsmacht bestimmt wurde. Das gewählte Beispiel bietet ungleich besseren Aufschluss als andere Sachbereiche, weil der Autor hier in großem Umfang auf Quellen nicht nur ostdeutscher, sondern auch sowjetischer Provenienz zurückgreifen kann. Die Berücksichtigung der Gegenüberlieferung erlaubt in diesem Fall nicht nur eine Überprüfung der Akzentsetzungen, sondern ermöglicht weithin überhaupt erst ein Urteil über die Einflussrelation schlechthin, denn in den Akten der SBZ/DDR sollte von vornherein nichts festgehalten werden, was - wie etwa die Anordnung von vorgeblich deutschen Maßnahmen - Anlass zur Kritik an der Besatzungsmacht zu bieten geeignet war. Da dieses Gebot in den vielfach noch wenig geordneten Verhältnissen der frühen Nachkriegszeit nur teilweise beachtet worden war, wurden im Juni 1947 die Archive von allen entsprechenden Dokumenten gesäubert.

Alexander Haritonow kommt aufgrund aller ihm vorliegenden Materialien zu dem im Einzelnen ausgeführten und belegten Schluss, dass die Politik der KPD/SED durchgängig von den Okkupationsbehörden gesteuert wurde, die ihrerseits durch Moskauer Weisungen gelenkt wurden. Dass es vielfache interne Rivalitäten gab, tut diesem Tatbestand ebenso wenig Abbruch wie anfängliche Koordinationsprobleme in den besetzten deutschen Gebieten: Die Eifersüchteleien betrafen Status und Machtposition, nicht die politische Linie und das Durcheinander, das zunächst stellenweise herrschte, wurde bald überwunden. Eine gewisse Schwierigkeit bei der Durchsetzung des sowjetischen Willens entstand freilich zuweilen dadurch, dass die Militäradministration ihr Bemühen um Anleitung und Kontrolle zu verschleiern suchte. Generell war jedoch klar, dass es sich um einen Befehl handelte, wenn von "Empfehlung", "Rat" und "Hilfe" die Rede war. Wurde die Weisung nicht verstanden oder akzeptiert, zögerten die Besatzungsoffiziere nicht, deutlicher zu werden und Druck bis hin zu offenem Zwang anzuwenden.

Wie sehr die Vorschriften für deutsche Entscheidungen ins Einzelne gingen, hing von Zeit und Situation ab. Zu Anfang, als sich die Besatzungsherrschaft erst etablierte, waren sie meist eher allgemein gehalten. Mit der Verschärfung der Sowjetisierungspolitik ab Ende 1946 verstärkte sich auch das Bestreben, die Entwicklung in der SBZ durch genaue Anordnungen bis ins Detail hinein zu bestimmen. Als dann nach Ausbruch des Kalten Krieges Mitte 1947 in allen Ländern des "sozialistischen Lagers" die bisherige Richtschnur des "nationalen Weges" zum - wie intern von Anfang an deutlich gemacht worden war - gemeinsamen Ziel des Sozialismus widerrufen und der Kampf gegen "nationalistische" Abweichungen (ab Frühjahr 1948 mit dem Akzent eines Ausrottungsfeldzuges gegen die Häresie des Titoismus) proklamiert wurde, gingen die Anweisungen noch mehr ins Einzelne. Speziell im Parteischulwesen, das seit 1946/47 immer stärker auf die sowjetischen "Klassiker", vor allem Stalin und seinen "Kurzen Lehrgang zur Geschichte der KPdSU", ausgerichtet worden war, wurden die Usancen und Strukturen 1950 voll nach dem Vorbild der Führungspartei umgestaltet, obwohl sich die SED-Führung in diesem Fall gegen das Octroi zu wehren suchte.

Dieser Vorgang zeigt, dass der bei Gründung der DDR im Oktober 1949 geschaffene Eindruck einer wesentlichen Abschwächung des Besatzungsregimes nicht berechtigt war. Wer genau hinsah, konnte das jedoch schon der sowjetischen Erklärung entnehmen, dass der DDR-Regierung "administrative", also ausführende Funktionen übertragen wurden. Das Abhängigkeitsverhältnis modifizierte sich freilich in gewissem Umfang. Das Personal der Okkupationsbehörden, die als "Sowjetische Kontrollkommission" (SKK) reorganisiert wurden, verringerte sich; viele der regional und lokal eingesetzten Bediensteten verloren ihren Nomenklatura-Status, so dass sie nicht mehr unmittelbaren Kontakt zu den SED-Organen (wohl aber den Verwaltungen) ihres Bereichs aufnehmen konnten; die Anzahl der Überprüfungsmaßnahmen auf Parteiebene verminderte sich deutlich. Die Kontrolle vor allem der SED, aber auch der satellisierten Blockparteien verlor deswegen nicht an Tiefe und Gründlichkeit. Namentlich auf der Basis von nunmehr durchgängig vorgesehenen Beurteilungskriterien verbesserte sich die Berichterstattung der SED an die sowjetischen Kontrollinstanzen stetig und erlaubte diesen noch genaueren Einblick in das parteiinterne Geschehen und die Konzentration auf entscheidende Fragestellungen. Diese "ideologische Betreuung" durch die Informationsabteilung der SKK wurde von Suslov im Moskauer Parteiapparat mit energischen, keinen Widerspruch und keine Abschwächung zulassenden Vorschriften gelenkt.

Insgesamt betont Haritonow mit einem Nachdruck wie kaum ein anderer vor ihm die Festlegung der von der KPD/SED-Führung gefassten Beschlüsse durch vorausgehende Vorschriften der Besatzungsbehörden, die ihrerseits Weisungen des sowjetischen ZK-Apparats, also letztlich Stalins bzw. seiner Nachfolger, folgten. (Erst mit der sowjetischen Erklärung vom 25. März 1954 und dem Vertrag vom 20. September 1955 lockerte die UdSSR ihre Kontrolle.) Dieses auf einschlägige sowjetische Parteiakten gestützte Urteil falsifiziert die in dem Buch "Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte" aufgrund selektiv verwendeter Pieck-Notizen dargelegte These von Wilfried Loth, Ulbricht und führende Funktionäre der Sowjetischen Militäradministration hätten gegen den Willen Stalins die SBZ sozialistisch transformiert und zur DDR gemacht. Es wird deutlich, dass der Kreml die Entwicklung des besetzten deutschen Gebietes stets in vollem Umfang bestimmte. Von einer Kontrollschwäche Stalins, dem ein geradezu unglaublicher Personenkult galt und dessen „unfehlbare Weisheit“ niemand anzweifelte, kann keine Rede sein. Wie etwa seine wiederholten, inzwischen großenteils im Wortlaut publizierten und von Alexander Haritonow erwähnten Gespräche mit den Führern der KPD/SED zeigen, interessierte er sich in allen Einzelheiten für die SBZ/DDR, war gut über die dortigen Vorgänge unterrichtet, forderte zusätzliche Informationen darüber an und traf auf dieser Basis die wesentlichen Entscheidungen. Wilfried Loths Argument, Stalin habe seit 1945 immer am Ziel der deutschen Einheit festgehalten, trifft zwar zu, nicht aber die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, er müsse deswegen für ein Deutschland von innenpolitisch westlichem Zuschnitt eingetreten sein. Er war vielmehr für eine "demokratische" Einheit nach seinem Verständnis, das heißt im Sinne von Lenins Demokratiebegriff.

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