C. Sturm: Elementar- und Volksschulwesen

Titel
Das Elementar- und Volksschulwesen der Stadt Münster 1815-1908. Eine Fallstudie zu Modernisierung und Beharrung im niederen Schulwesen Preußens


Autor(en)
Sturm, Christoph
Reihe
Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N.F. B 21
Erschienen
Münster 2003: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Iris Groschek, Staatsarchiv Hamburg

Die vorliegende überarbeitete Fassung der Dissertation von Christoph Sturm bildet den 21. Band einer wichtigen vom Stadtarchiv herausgegebenen historisch-wissenschaftlichen Reihe rund um die Stadt Münster, die quellenkritische Forschungen in Sammelbänden, Quelleneditionen und Monografien bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts umfasst. Das Schulwesen des 19. Jahrhunderts war bereits Thema der vergleichenden Studie von Wolfgang R. Krabbe aus dem Jahr 1985. Dennoch sah die Stadtchronik aus dem Jahr 1993 ein grundsätzliches Defizit in der bildungshistorischen Forschung. Christoph Sturm will es zumindest teilweise aufarbeiten. Das ist ihm souverän gelungen.

Sozialgeschichtlich orientierte Lokalstudien fragen nach dem inneren Zusammenhang des sozialen Wandels. Auch Christoph Sturm möchte dies anhand der Analyse eines lokalen Schulsystems anschaulich machen: Welche Wandlungen erlebte das Münsteraner Schulwesen innerhalb der bildungspolitischen Reformen des 19. Jahrhunderts zwischen den Polen Modernisierung und Beharrung? Den Beginn seiner Untersuchung legt der Autor in das Jahr 1815, als Münster Teil des preußischen Staatsverbandes wurde, er endet mit dem Volksschulunterhaltungsgesetz des Jahres 1908, dem ersten allgemeinen preußischen Schulgesetz, das unmittelbar lokal umgesetzt wurde und mit dem festgelegt wurde, dass Staat, Kirche und Kommune gemeinsam am Elementarschulwesen partizipierten.

In sieben Kapiteln wird die Entwicklung des Elementar- und Volksschulwesens der Stadt Münster aufgezeigt, wobei Christoph Sturm die strukturellen, bildungspolitischen und gesellschaftlichen Faktoren herausstellt, die das Schulwesen und den Werdegang der einzelnen Schulen bestimmten. Deutlich werden dabei die Voraussetzungen, aber auch die Hindernisse, die einer Modernisierung des lokalen wie des preußischen Bildungswesens allgemein entgegenstanden.

Christoph Sturm schildert ganz konkret den langen Weg von der Konfessionsschule bis zur "Staatsschule in Gemeindehand". Er geht vom bunten "Nebeneinander der unterschiedlichsten Schulen und Schultypen im niederen Bildungssektor" aus und beschreibt dann, inwieweit das Schulwesen zunehmend reglementiert und ausdifferenziert wurde, bis hin zur Elementarschule, die die Wünsche von Gemeinde, Staat und Kirche vereinte und sich nicht mehr primär an der Konfession und deren Trägern orientierte.

Er macht dabei deutlich, wie wenig auf lokaler Ebene "von oben" verordnete Gesetze angenommen wurden und wie sehr Traditionen zu einem beharrlichen Entgegenwirken und damit zu einem Hemmnis einer Weiterentwicklung im Schulwesen wurden. Gefangen zwischen den Interessen von Kommune, Staat und Kirche konnte sich das Elementarschulwesen nur schwer verändern und entwickeln. Sturm zeigt aber auch, wie es letztlich zu einem Kompromiss kommen konnte, als regionale Schulentwicklung und administrative Schulpolitik zusammen für die Annahme des Volksschulunterhaltungsgesetzes arbeiteten. Sturm betont die besondere Bedeutung dieses Gesetzes, das in der bisherigen bildungsgeschichtlichen Forschung eher unterschätzt wurde, hat es doch erstmals Akzeptanz und eine konkrete Umsetzung vor Ort erfahren. Es konnte eine innere Wende erreichen, wie es anstelle von ideologischen Zielvorhaben die zentrale Rolle der Schulverfassung zwischen Schulverwaltung und Schulaufsicht festschrieb.

Die chronologisch aufgebaute Kapitelstruktur des Buches orientiert sich an Zäsuren in der Münsteraner Elementarschulgeschichte. Das Hauptaugenmerk hat Christoph Sturm dabei auf die lokale Bildungs- und Schulpolitik gelegt. Er berichtet nicht nur aus veröffentlichten Quellen und Literatur sondern konzentriert sich vorwiegend auf umfangreiche Archivstudien über den konkreten Alltag an den einzelnen Schulen. Die große Anzahl vorhandener Akten wurde dabei über ihren beschreibenden Inhalt hinaus auf ihre intentionale Aussage hin untersucht. Dabei geht Sturm über Einzelaspekte wie die Finanzierung oder Lehrerbildung der Münsteraner Schullandschaft, über eine Darstellung der "Schulwirklichkeit", hinaus. Er entwickelt anhand der Interpretation der vorhandenen Akten die Strukturen und Zusammenhänge bildungsgeschichtlicher Veränderung. So kann er konkrete Entwicklungsstränge genau beschreiben, ohne sich lange an Einzelfällen aufhalten zu müssen.

Um dem Anspruch einer Rekonstruktion der Wirklichkeit gerecht zu werden, ist gerade die Bildungsgeschichte reich an sie beeinflussenden Faktoren. Sturm legt aber keine minutiöse Geschichte einzelner Schulen vor, sondern entwickelt die Hintergründe, vor denen sich die Entwicklung des Elementarschulwesens der Stadt Münster von der Einrichtung einer ersten städtischen Schulkommission bis zur auch Umsetzung des Volksschulunterhaltungsgesetzes vollzog. Konflikte zwischen Staat, Gemeinde und Kirche werden aufgedeckt und beschrieben. Die Tendenzen des sozialen Wandels, die Christoph Sturm dabei ausmacht, weitet er auch auf größere Zusammenhänge aus, um so auch die Frage zu klären, warum es in Preußen 115 Jahre dauerte von den Forderungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts bis zur endgültigen Verabschiedung des ersten allgemeinen preußischen Schulgesetzes, dem Volksschulunterhaltungsgesetz. In einem Resümee wendet der Autor Erkenntnisse, die er aufgrund der Entwicklung in der preußischen Provinz gewonnen hat, auch auf ganz Preußen an, um so die Frage nach der Rückwirkung eines Teiles auf das Ganze zu reflektieren. Damit erlaubt dieses Buch einen facettenreichen Blick zurück auf lokale Schulverhältnisse und macht so beispielhaft deutlich, welche regionalen Hindernisse einer überregionalen Modernisierung des preußischen Bildungswesens im Wege standen.

Das sicher - wenn auch teilweise etwas trocken - geschriebene und anhand mannigfacher Quellen aus dem Stadt-, dem Staats- und dem Diözesanarchiv erstellte Text wird durch zahlreiche tabellarische Übersichten und Grafiken - Bewerberanzahlen für Lehrerseminare bis zur Nennung von Schulsteuersätzen eines Jahres - bereichert. Diese sind zwar nicht immer gleich ausdrucksstark, jedoch hilfreich beim schnellen Erfassen in den Textzusammenhang gestellter Aussagen und Auflistungen.

Gekonnt setzt der Autor das alltägliche Schulleben zwischen neuen Schulbüchern und neuen Anforderungen in der Lehrerausbildung in den größeren schul- und sozialgeschichtlichen Kontext. In der Schulrealität scheinen die tatsächlichen Gegebenheiten einer Stadt auf. Die Wirkung von Regulativen und Erlassen auf die realen Schulverhältnisse kann untersucht werden. Bei der Schilderung der Schulwirklichkeit beschränkt sich der Autor auf katholische und evangelische Elementarschulen mit einem aufgrund der archivarischen Überlieferung gewählten Schwerpunkt auf das katholische Elementarschulwesen, das jüdische Schulwesen dabei ausklammernd. Dennoch kommt der Autor zu dem Schluss, dass nicht nur der Streit zwischen Staat und Kirche über die Schulaufsicht die Entwicklung bestimmte, sondern dass weitaus mehr Faktoren dabei eine Rolle spielten. Christoph Sturm schildert die Probleme der Finanzierung und der Lehrerausbildung, wirft einen Blick auf die Lebensverhältnisse der Einwohner Münsters in den einzelnen Stadtteilen und zeigt die Opposition der Schulfinanzierungsträger - wie Schulgemeinden oder Eltern - gegen eine Staatsschule. Diese Opposition konnte durch die Schaffung der katholischen Schulgemeinde befriedet werden. Die jahrzehntelangen grundsätzlichen Streitpunkte zwischen Staatsschule und klerikaler Elementarschule wurden durch die "Staatsschule in Gemeindehand" beruhigt, die in Münster weitaus früher realisiert wurde, als in Gesamt-Preußen. Dabei war es der Magistrat der Stadt Münster, der eine dauerhafte enge kirchliche Bindung der Elementarschulen gefordert hatte.

Der ideologische Überbau blieb über Jahrzehnte gleich, das orthodoxe Verständnis über den Bildungsauftrag eines mit einer kirchlichen Aufsicht sich verstehenden Elementarschulwesens blieb konstant, obwohl sich die soziale wie ökonomische Basis der Volksschulen Münsters durch die Jahre stark verändert hatte. Doch konnte, und das zeigt die vorliegende Veröffentlichung, die Kommunalisierung aller Schulen des preußischen Staatsverbandes erreicht werden, also die Deckung der Finanzierung des Schulwesens über die Kommunalhaushalte. Aber auch das Konfessionsprinzip der Elementarschulen wurde im Volksschulunterhaltungsgesetz aus dem Jahr 1908 festgeschrieben: Die Auseinandersetzungen des gesamten Jahrhunderts waren fixiert worden. Zuvor, so hat es der Autor eindringlich geschildert, wären solche Kompromisslösungen nicht möglich gewesen.