Chr. Cornelißen u.a. (Hgg.): Erinnerungskulturen

Cover
Titel
Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945


Herausgeber
Cornelißen, Christoph; Klinkhammer, Lutz; Schwentker, Wolfgang
Reihe
Fischer Geschichte 15219
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten Gebieten haben im öffentlichen Bewusstsein der europäischen Nationen tiefe Spuren hinterlassen. Auschwitz - inzwischen als Symbol für die Ermordung der Juden verstanden - scheint zum negativen Referenzpunkt einer gesamteuropäischen Identität zu werden. Eine solche Globalisierung vergangenheitspolitischer Deutungsangebote verdeckt jedoch, dass die Mehrzahl fachwissenschaftlicher Studien zum kollektiven Erinnern und Gedenken immer noch in den nationalen Diskursen verankert ist. Oder positiv gewendet: Die Zeit globaler und international vergleichender Studien hat gerade erst begonnen.

Der Aufsatzband "Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945" ist somit bereits durch seine Anlage als Dreiländervergleich eine bemerkenswerte Ausnahme. Die Herausgeber haben insgesamt 23 Einzelbeiträge zusammengestellt, in denen die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den drei nationalen Erinnerungsgemeinschaften thematisiert werden. Nach Wolfgang Schieders informativem Systemvergleich und einer etwas zu kurz gehaltenen Einleitung unterscheidet der Band sechs verschiedene Dimensionen nationalen Erinnerns. Neben die strafrechtliche Verfolgung durch alliierte Gerichte und die gesellschaftliche "Entzauberung der Herrscherfiguren" treten die jeweiligen geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitungen sowie eine Auswahl der öffentlichen Debatten in den Nachkriegsgesellschaften der ehemals Verbündeten. Darüber hinaus erfährt der Leser etwas über medial vermittelte Erinnerungsdiskurse sowie über den Zusammenhang von Generationenwechsel und Vergangenheitsbewältigung. Den Herausgebern ist es erfreulicherweise gelungen, zu fast allen sechs Bereichen Beiträge zu gewinnen, die auf Deutschland, Italien und Japan eingehen.

Der Neuigkeitswert der auf Deutschland bezogenen Aufsätze ist allerdings eher gering. Hans Mommsens Perspektive auf das öffentliche Erscheinungsbild Adolf Hitlers vor und nach dem 9. Mai 1945 beispielsweise dürfte vielen bereits bekannt sein, ebenso Christoph Cornelißens Analyse der westdeutschen Historikergenerationen seit 1945. Auch Edgar Wolfrum hat nichts Neues zu den öffentlichen Geschichtsbildern der alten Bundesrepublik zu bieten. Dies verhält sich bei den Beiträgen zu Italien und Japan schon anders, zumindest für den deutschen Leser.

Neben Hans Woller, der für Italien eine "anfängliche Abrechnungs-, Säuberungs- und Ahndungswut" gegenüber Faschisten und Kollaborateuren feststellt, die sich innerhalb weniger Jahre in eine Rehabilitierungswelle wandelte, untersucht Alessandro Campi die bemerkenswerten, für den deutschen Beobachter recht irritierenden Erinnerungspraktiken, die den italienischen Diktator und seine gesellschaftliche Verehrung zwar entzauberten, aber nicht verdrängten. Darüber hinaus zeichnet Lutz Klinkhammer in seinem Beitrag zur "Kriegserinnerung in Italien im Wechsel der Generationen" ein differenziertes Bild der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Während zum einen eine kontinuierliche Ausblendung des italienischen Aggressionskrieges - beispielsweise in Äthiopien und Abessinien, aber auch der Besatzung in Griechenland und Jugoslawien - durch die ausschließliche Konzentration auf die Resistenza und auf die letzte Kriegsphase der deutschen Besatzung deutlich wird, markiert Klinkhammer einen ersten generationsbedingten Wechsel in den 1970er- Jahren. Allerdings scheint damals eine radikale Infragestellung der harmonisierten Sicht auf den italienischen Faschismus noch ausgeblieben zu sein, denn erst zwanzig Jahre später kam es zum entscheidenden Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden, antifaschistischen Paradigma. Partisanenkampf und Befreiungskrieg wichen zunehmend dem Bewusstsein, dass die italienische Gesellschaft während des Zweiten Weltkrieges keineswegs im antifaschistischen Konsens geeint, sondern im Gegenteil tief gespalten war. Eine Vergegenwärtigung der italienischen Verbrechen ging mit dieser Erkenntnis erstaunlicherweise jedoch nicht einher, vielmehr konstatiert Klinkhammer eine lagerübergreifende Opferidentifikation, die es ermöglichte, beide Phasen der italienischen Kriegserfahrung einzuebnen.

Japan scheint auf den ersten Blick weniger von vergangenheitspolitischen Umbrüchen geprägt zu sein. So zeigt der Beitrag von Wolfgang Schwentker zur Rolle des Tenno im Nachkriegsjapan, wie eine durch Atombombenabwurf, Kapitulation und Kriegsverbrechertribunal in Frage gestellte Nation durch die Kontinuität kaiserlicher Herrschaft wiederum als einheitliches "Nationalwesen" entworfen und bestätigt wurde. Das Ausbleiben einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus wird von Sebastian Conrad zumindest hinsichtlich der japanischen Geschichtsschreibung erheblich differenziert. Seiner Einschätzung nach setzten sich die japanischen Historiker nach dem Krieg durch die Rezeption einer an Max Weber orientierten Sozialgeschichte sehr viel kritischer mit der jüngsten Vergangenheit auseinander als ihre westdeutschen Kollegen. Der Faschismus galt unter japanischen Geschichtswissenschaftlern als Krise der Moderne und verwies damit auf eine umfassende säkulare Fehlentwicklung von Staat und Gesellschaft. Diese systemkritische Position, die sich ausschließlich strukturellen Fragen der faschistischen Herrschaft zuwandte, war bis in die 1980er-Jahre von einer fehlenden öffentlichen Auseinandersetzung mit japanischen Kriegsverbrechen begleitet. Ein besonders krasses Beispiel hierfür ist das Massaker von Nanking Ende 1937, dem mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Ähnlich wie in Deutschland war dieses an Chinesen verübte Verbrechen während der alliierten Besatzung noch präsent, dann aber etablierte sich ein Vergangenheitsdiskurs, der die verbrecherische Dimension des Krieges ausblendete, und der erst durch einschlägige Buchpublikationen in den 1970er-Jahren wieder durchbrochen wurde. Es folgten weitere, bis heute anhaltende öffentliche Debatten, bei denen es insbesondere um die immer wieder umstrittene Darstellung des Massakers in den japanischen Schulbüchern geht. Weder Staat noch Regierung erweisen sich in diesen Konflikten als Motoren einer kritischen Vergangenheitsaufarbeitung, wie Ishida Yuji in ihrem Beitrag überzeugend zeigen kann.

Die qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Band keinen Vergleich der drei Erinnerungskulturen bietet, sondern auf der Ebene der Einzeldarstellung verbleibt. Das erklärte Ziel der Herausgeber, "die systematische Erforschung nationaler Erinnerungskulturen im Vergleich" zu leisten, kann kaum als eingelöst gelten. Hierfür hätte es einer dezidierten Erarbeitung vergleichender Untersuchungsebenen bedurft. Beispielsweise drängt sich dem Leser nach der Lektüre die Frage auf, von welchen Verbrechens- und Schuldbegriffen eigentlich in den jeweiligen nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen ausgegangen wurde. Ebenso wäre es sinnvoll gewesen zu analysieren, inwiefern sich das kulturell unterschiedlich geprägte Verhältnis von Militär, Gesellschaft und Staat auf die kollektiven Formen des Erinnerns auswirkte. So enthält der Band leider zu wenig Beiträge, die bereits in ihrer Fragestellung komparativ angelegt sind. Allerdings spiegeln sich hier generelle Forschungsdefizite wider, die angesichts der kaum mehr zu überbietenden Popularität der kollektiven Erinnerungs- und Gedächtnisforschung doch eher verwundern.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension