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Titel
Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Lingelbach, Gabriele
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 181
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
819 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel Kolar, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Gabriele Lingelbach betritt mit ihrer umfangreichen Dissertation über die Institutionalisierung der französischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft zwei aktuelle und dabei schwierige Problemfelder gleichzeitig: zum ersten richtet sie ihr historiografiegeschichtliches Interesse statt auf die konventionelle Untersuchung von großen Historikern und Texten vielmehr auf deren institutionelle Zusammenhänge, zweitens ordnet sie ihre Arbeit in eine transatlantische Perspektive ein, in der vergleichende und – beschränkt – auch beziehungsgeschichtliche Zugänge zur Anwendung kommen. Dabei bringt sie eine Fülle neuen Materials, die sie großteils aus eigenen Archivforschungen schöpft, was bei vergleichenden internationalen Untersuchungen immer zu schätzen ist.

Der methodologische Ausgangspunkt der Studie ist geleitet von der Abgrenzung gegenüber dem Erklärungsansatz der „disziplinären Matrix“, der nach Lingelbach allzu sehr die Sphäre der Ideen, Methoden und Darstellungsformen auf Kosten ihrer institutionellen und sozialen Entstehungskontexte in den Mittelpunkt stelle. Lingelbach geht hingegen von der Annahme aus, dass „Institutionen die kognitive Arbeit ihrer Mitglieder beeinflussen, und dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen nicht nur direkt auf die Tätigkeit der Historiker einwirken, sondern zugleich vermittelt über die Institutionen“ (S. 11f.). Darauf aufbauend hat sie sich als Aufgabe gesetzt, die Entstehung von Ideen, Normen und Wissenschaftsregeln aus den „situativen Logiken“ und „lokalen Kontexten“ zu erklären.

Desweiteren verabschiedet sich Lingelbach eingangs auch von der, wie sie glaubt, mit dem Matrix-Erklärungsmodell eng verbundenen Annahme einer Rezeption des deutschen Modells. Im Gegensatz zum ursprünglichen Dissertationsdesign einer Transfergeschichte des deutschen Vorbildes haben sich die Quellen gegen eine solche Untersuchung ausgesprochen: Das deutsche Vorbild habe lediglich als Deckmantel für die Durchsetzung eigener Interessen amerikanischer und französischer Historiker gedient, womit sich der Transfer des deutschen Modells als Tertium comparationis ausschließe.

Das Gerüst der Untersuchung bilden vier miteinander verflochtene Großprozesse – Organisationsbildung, Professionalisierung, Standardisierung und Disziplinierung, die anhand mehrerer ausgewählter Hochschulen und anderer Institutionen analysiert werden. Zuerst werden ausführlich deren Ausgangsbedingungen in den beiden Ländern dargelegt: Während das französische Hochschulsystem zentralistisch und einer direkten Staatskontrolle untergeordnet war, fehlte ein staatliches Engagement im amerikanischen Hochschulbereich infolge der föderalen Struktur fast völlig; der funktionalen Differenzierung der französischen Hochschulen stand eine regionale Auffächerung der amerikanischen Universitäten gegenüber.

In Frankreich wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die bereits früher angelegte Differenzierung der geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen vorangetrieben, eine massive Welle von Lehrstuhlgründungen fand statt. Am Beispiel der Ecole pratique des hautes études und Faculté des lettres zeigt Lingelbach überzeugend die institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen der Fachsegmentierung und Spezialisierung: die starke Hierarchisierung, die politische Motivierung der Lehrstuhlbesetzungen, den Nepotismus oder die Herausbildung von Klientelverhältnissen, die dadurch verstärkt waren, dass die meisten Dozenten gleichzeitig an mehreren Hochschulen lehrten. In den USA hingegen versuchten die Universitäten eine möglichst breite institutionelle Struktur zu entwickeln. Die Departments wurden autonom und je nach Bedürfnissen verwaltet. Daher spielten Einzelpersönlichkeiten wie H.B. Adams an der Johns Hopkins Universität oder A.D. White an der University of Michigan eine bedeutende Rolle.

Die Professionalisierung war in Frankreich streng durch ein rigoroses Prüfungssystem geregelt (agrégation), was die Herausarbeitung eines bestimmten Habitus zur Folge hatte, der gemeinsam mit der Nähe zum Patron über die Karrierechancen des Promovenden entschied. Anschaulich zeigt Lingelbach die Herausbildung eines festen, durch die Klientelverhältnisse stark geprägten Normalkarrierelaufs. Dennoch kam es nach 1890 zu einem Akademikerstau, der eine Chance auf eine Stelle wesentlich verminderte. In den USA waren dagegen die Absolventen des Geschichtsstudiums keineswegs auf bestimmte Berufe vorbereitet, erst relativ spät setzt sich der Ph.D. als Voraussetzung für eine akademische Laufbahn durch. Im Gegensatz zu Frankreich fehlte es in den USA an einheitlichen Kriterien für Einstellung und Aufstieg, auch gab es keine festen Klientelverhältnisse, die Berufungen wesentlich hätten beeinflussen können.

Anhand von Handbüchern, methodologischen Abhandlungen, Dissertationsgutachten sowie der Gestaltung der schriftlichen Arbeiten, etwa das Vorhandensein oder Fehlen eines Anmerkungsapparats, konstruiert Lingelbach einleuchtend den Prozess der Standardisierung. Eine starke homogenisierende Kraft besaß in Frankreich die „méthode“, die auch der in den USA vorherrschenden „scientific history“ entsprach. Eine Spezialisierung setzte sich in Frankreich erfolgreich durch, was sich aus der Differenzierung und Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Geschichtsinstitutionen ergab. Für die Standardisierung in den USA greift Lingelbach als Beispiel die „New History“ heraus und stellt dabei ihre Innovationskraft gegenüber der älteren „scientific history“ in Frage. Im Kontrast zu Frankreich war eine Durchsetzung neuer Forschungsgebiete auch anhand des weitgehenden ideologischen Konsenses unter den amerikanischen Historikern möglich. Dabei betont Lingelbach fortdauernd die theoretische und thematische Vielfalt der Geschichtsproduktion in beiden Ländern: Es habe sich keine einheitliche Matrix bzw. kein Paradigma konstituiert.

Im letzten thematischen Abschnitt „Disziplinierung“ verlässt Lingelbach den eigentlichen Boden der Geschichtswissenschaft, indem sie deren Verhältnis zu den „Konkurrenzfächern“ erörtert – namentlich zur Soziologie in Frankreich und zur Politik- und Wirtschaftswissenschaft in den USA. Während in Frankreich die Geschichtswissenschaft die Führung in den Humanwissenschaften gegenüber der Soziologie behaupten konnte, verlor sie in den USA trotz Innovation im Wettbewerb mit Politik- und Wirtschaftswissenschaft an Bedeutung.

In einer Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse resümiert, indem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Institutionalisierungsprozessen erfasst werden. Lingelbach zieht zum einen die Schlussfolgerung, dass eine Vielfalt an Ansätzen es unmöglich mache, von einer Matrix zu sprechen, zweitens konstatiert sie weitgehende Spezifika beider nationaler Entwicklungen, die sie anhand der breiten empirischen Grundlage überzeugend belegt. Doch werfen sowohl die Ergebnisse als auch der Ansatz selbst einige Fragen in Bezug auf eine komparative Wissenschaftsgeschichte auf, die einer kritischen Auseinandersetzung bedürfen.

Zuerst fällt auf, dass Lingelbach, obwohl sie eingangs die These über den Einfluss eines deutschen Modells zurückweist, dennoch in konkreten Vergleichen mit Frankreich und den USA implizit von der Einfluss-Sichtweise ausgeht, indem sie argumentiert, dass das Modell nie vollständig übernommen worden sei: weil die Amerikaner und Franzosen sich auf Deutschland lediglich aus strategischen Gründen beriefen, ohne den eigentlichen Gehalt zu übernehmen, könne von einem Transfer keine Rede sein. Das steht jedoch im Widerspruch zur aktuellen Transferforschung: Dass in einem Kulturtransfer das „Modell“ nie in einer „reinen“ Form rezipiert wird, gilt als eine Grundeinsicht, die auch andere Forschungen zeigen. Stattdessen wird die „Importkultur“ zum Forschungsgegenstand, denn ein Modell entsteht überhaupt erst dadurch, dass es von dieser Rezeptionskultur konstruiert wird. Demzufolge geht es immer um Fremdbeschreibungen und ihre „Instrumentalisierung“, also nicht darum, „ob“, sondern vielmehr „wie“ etwa bestimmte Grundbegriffe – wie Voraussetzungslosigkeit usw. – „verzerrt “ wurden.

Gerade diese Seite des Problems scheint in Lingelbachs Darstellung unterbeleuchtet, denn sie beschränkt sich auf die Aufzählung von „Abweichungen“ vom „deutschen Modell“ (etwa das Fehlen der Habilitation; ähnlich sei auch die Rezeption von Marx in den USA „selektiv“ gewesen, S. 490). Infolgedessen wird der „Einfluss“ ex negativo hypostasiert und das deutsche Modell normativ aufgeladen (u.a. da, wo das amerikanische Lehrsystem als „oberflächlich“ bezeichnet wird oder wo von der Nicht-Durchsetzung der in Deutschland angeblich verbreiteten Idee der Forschungsfreiheit die Rede ist). Es hätte sich m. E. doch gelohnt, den Referenzdiskurs zu untersuchen, der zwar kaum etwas über den „tatsächlichen“ Gehalt des Referenzobjekts aussagt, aber viel über die Denkhorizonte und die Handlungsstrategien der jeweiligen Rezipienten vermitteln kann. Lingelbachs Schlussfolgerung, deutsche Verhältnisse haben höchstens als „Diskurs“, nicht aber als „Modell“ funktioniert (S. 673), ist aus der heutigen Perspektive der kulturgeschichtlichen Transferforschung kaum vertretbar.

Im Allgemeinen lässt sich der institutionsgeschichtliche Ansatz des Buches als ein Nebeneinander von strukturhistorischer und intentionalistischer Sichtweise bezeichnen. Lingelbach versteht es, die einschränkenden Wirkungen der Strukturen zu erfassen, die Historiker in ihren Handlungen banden. Die institutionellen Strukturen – Prüfungsordnungen, Lehrpläne, Karrieremuster – werden in der Darstellung häufiger als Zwänge denn als Räume aufgefasst. Das Ergebnis ist eine eher pessimistische Einschätzung der Unterordnung der Wissenschaftler unter die mächtigen Strukturen, die Anpassung und Konformität verlangen. Innovation ist hier nur im Rahmen des Konsenses, als Folge von eisernen Rekrutierungsmustern möglich, eine offene Herausforderung des mainstreams ist von vornherein ausgeschlossen.

Andererseits aber gehört zu Lingelbachs analytischem Instrumentarium der Begriff „Interesse“, der auf eine Rationalität der Subjekte hinweist, aber emotional aufgeladene, unreflektierte Mentalitäten, wie das „Sendungsbewusststein“ der führenden Neuerer, auf deren Grundlage erst die „Interessen“ formuliert werden können, unberücksichtigt lässt. Ein Beispiel dieser Sichtweise ist Lingelbachs Vermutung, die Privatdozenten ohne familiären Hintergrund seien das Risiko einer wissenschaftlichen Karriere nicht eingegangen (S. 330), womit das von Max Weber festgestellte „charismatische Wesen“ der Privatdozentur übersehen wird. Hier wäre ein tieferer Einblick in die Denkwelten der Akteure notwendig, was jedoch über die Möglichkeiten und Intentionen des Buches hinausgeht.

Da die Studie überwiegend die Auswirkungen umfassender Rahmenbedingungen (Eingriffe der Staatsverwaltung, das sekundäre Schulwesen, der Arbeitsmarkt) im Auge behält, werden mögliche Abweichungen durch jeweilige „situative Logiken“ erklärt, die aus Zeitgründen jedoch nur ausnahmsweise eingehend untersucht werden konnten. Die Folge ist, dass nicht so sehr lokale Kontexte und situative Logiken, sondern vielmehr eben die Makrokontexte als explanans für den Wissenschaftswandel auftreten. Die Durchdringung zwischen den beiden Sphären bleibt jedoch infolge der gewählten „Vogelperspektive“ ungenügend ausgearbeitet: Wie wirkten sich welche situativen Logiken konkret aus? Solche Fragen konnten nur angeschnitten werden, statt einer vertiefenden Analyse wurde eine Vermutung oder Hypothese angeboten. Repräsentativ dafür ist die Interpretation des Aufstiegs der „New History“, den die Autorin auf die veränderten gesellschaftlichen Lebensbedingungen und Lebenswelten der Historiker zurückführt (S. 493ff.). Das Problem dieser Erklärungsweise besteht darin, dass nicht alle Historiker, die die gleichen Erfahrungen durchmachten, sich der „New History“ anschlossen. Gerade hier hätte eine Analyse konkreter akademischer Milieus sowie des Selbstverständnisses der Historiker in Angriff genommen werden können.

So verdeutlicht „Klio macht Karriere“ sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines makrohistorischen Zugangs zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Es legt die institutionellen Zwänge und gesellschaftlichen Bedingungen dar, unterschätzt dann aber die handlungsleitenden Denkhorizonte der Akteure. Das Hauptverdienst der Arbeit besteht darin, die komplexen Rahmenbedingungen der institutionalisierten Geschichtswissenschaft in einer anschaulichen, systematischen Weise dargelegt zu haben. Damit wird das Feld für weitere vertiefende Untersuchungen über jenes feine Gefüge des Wissenschaftswandels eröffnet, in denen subtilere Machtverhältnisse innerhalb einzelner Institutionen sowie das Selbstverständnis der Historiker mehr zur Geltung kommen sollten.

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