Cover
Titel
Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte


Herausgeber
Spiewak, Pawel
Reihe
Denken und Wissen. Eine Polnische Bibliothek 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
606 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Joachim Veen, Stiftung Ettersberg, Weimar

Der polnische Regimewechsel von 1989 war kein revolutionärer Akt, in dem die Solidarność-Bewegung die alten Mächte machtvoll hinweg gefegt hätte, sondern das Ergebnis einer mühsamen Aushandlung zwischen einem Teil der Opposition (darunter Adam Michnik) und der Partei der Macht unter Jaruzelski am Runden Tisch. Die Befreiung Polens von der kommunistischen Diktatur trug demgemäß von Anfang an Kompromisscharakter. Die herrschenden Mächte mussten sich zu demokratischen Spielregeln mit freien Wahlen und Parteienkonkurrenz und zum Übergang von der Staats- zur Marktwirtschaft verstehen, blieben aber im Übrigen ungeschoren. Die alten Eliten waren weithin auch die neuen, wenn auch demokratisch und kapitalistisch gewendet.

Die weiche Transformation wird inzwischen zunehmend zu einem Problem, denn mit ihr unterblieb auch die kritische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit sowie der individuellen und kollektiven Verstrickung mit dem alten System. Der damaligen Bereitschaft zu Verständigung, Schlussstrichen unter die Vergangenheit und zu Versöhnung des einen Teils der Opposition tritt angesichts der seitherigen Entwicklungen, des Stagnierens der Wirtschaft und der Demokratisierung in Polen ein anderer Teil mit der Forderung nach „Entkommunisierung“ und „Durchleuchtung“ entgegen, das heißt Überprüfung der einstigen Machtträger auf Zusammenarbeit mit den kommunistischen Geheimdiensten. Die gemeinsame Opposition von einst ist darüber heute tief zerstritten. Einer der profiliertesten Befürworter der kritischen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem alten Regime ist Pawel Spiewak, Jahrgang 1951, Soziologe an der Universität Warschau; Adam Michnik, Jahrgang 1946, ist einer ihrer überzeugtesten Gegner. Die von Spiewak herausgegebene Aufsatz- und Artikelsammlung von 29 Autoren dokumentiert den polnischen Kampf um das Gedächtnis.

Die meisten Beiträge stammen aus den 1990er-Jahren, wenige schon aus der kommunistischen Epoche. Was die Versöhner eine „Hexenjagd“ nennen, verteidigen die Befürworter als notwendig für die Wiedergewinnung der politischen Moral und der Kategorien von „Gut und Böse“, die mit dem Verhandlungskompromiss verschüttet und auch danach weiter absichtsvoll verwischt worden seien. Dabei macht sich Spiewak keine Illusionen (S. 39): „Der Krieg um das Gedächtnis, wenn mir die Verwendung dieser Formulierung gestattet ist, ist verloren.“ Die Sehnsucht der Polen, das zeigen alle Umfragen, zielt auf Normalität, Übergang zur politischen Tagesordnung und Orientierung auf die neue Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In der öffentlichen Meinung ist das Jahr 1989 kein Markstein mehr, der die demokratische Wende des Systems hochhält. Wenn Spiewak und die große Mehrzahl der versammelten Autoren in der Anthologie gleichwohl auf Vergangenheitsbewältigung statt kollektiver Amnesie gegen allen Zeitgeist bestehen, zeigt das, wie fundamental, ja geradezu moralisch existenziell dieser schwelende, unterdrückte Konflikt von einem gewichtigen Teil der polnischen Intellektuellen und auch führenden Repräsentanten der katholischen Kirche (Józef Glemp, Primas von Polen, und Józef Zycinski, Erzbischof von Lublin, haben Beiträge beigesteuert) für die künftige demokratische Fundierung Polens ist.

Und diese Sorge scheint berechtigt. Wiederholt wird in den Artikeln darauf hingewiesen, dass der weiche Übergang vom Kommunismus zur Demokratie und die systematische Verwischung der Unterschiede zwischen beiden Herrschaftsordnungen zu einer gewaltigen Relativierung politischer Werte geführt hätten. Die neue Demokratie wird als System von Spielregeln zwar akzeptiert, sei aber bis heute ethisch bodenlos geblieben. Das Vakuum an demokratischen Werten im heutigen Polen könne zum Nährboden für neue Oligarchien, für Korruption oder blanken Machtzynismus werden, wie sie sich in den letzten Jahren unter der Regierung Miller bereits abgezeichnet haben.

Die Anthologie ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den geistigen Grundlagen der freiheitlichen Demokratie sowie ihren totalitären und autoritären Gefährdungen. Die Bedeutung dieses Bandes geht deshalb weit über die annoncierte „polnische Debatte“ zum Totalitarismus in Polen hinaus. Zu Recht insistieren die Autoren auf Begriff und Konzept des Totalitarismus als einer Analysekategorie, mit der die intensivste, weitreichendste und umfassendste Form politischer Herrschaft charakterisiert werden kann. Allerdings wird auch deutlich, dass mit dem Totalitarismuskonzept allein die Entwicklungsphasen der Volksrepublik Polen nach den Zäsuren von 1956, 1970 und 1980 nicht angemessen erfasst werden können, Polen mithin nicht durchgängig als ein totalitäres System bezeichnet werden kann. In mehreren Beiträgen wird versucht, die Wandlungsprozesse begrifflich differenziert zu fassen.

Tatsächlich hat das Totalitarismuskonzept ja nach dem Prager Frühling von 1968 in Mittel- und Osteuropa eine beträchtliche Renaissance erfahren, an der Dissidenten und Oppositionelle in den Umbruchszeiten Ende der 1980er-Jahre stark mitgewirkt haben. Dabei gab es, individuell allzu verständlich, gelegentlich die Neigung zu einer gewissen „Ex-Post-Dämonisierung“ der kommunistischen Systeme, die sicher noch repressiv, diktatorisch und willkürlich herrschten, aber ihren totalitären Anspruch, den ganzen Menschen zu erfassen, längst aufgegeben hatten. Dies galt so auch für Polen – spätestens seit den 1970er-Jahren. Aber gerade wenn man, wie der Rezensent, das Totalitarismuskonzept für die Analyse politischer Herrschaft für unverzichtbar hält, muss man der Inflationierung des Begriffs, wie er einem gerade in der mittel- und osteuropäischen Diskussion häufig begegnet, entgegenwirken. Weil der Totalitarismusbegriff der radikalste Gegenbegriff zur freiheitlichen Demokratie ist, die schärfste Analysekategorie, darf er nur sehr restriktiv verwendet werden, um als Analyseinstrument nicht stumpf, zum wohlfeilen polemischen Etikett zu werden, das mehr verdeckt als es erhellt. Dieser Versuchung begegnet man gelegentlich in der polnischen Anti-Totalitarismus-Debatte. Zudem werden in den Beiträgen mehrfach Vergleiche mit dem NS-Regime angestellt, die zumeist abwegig sind, etwa bei der fatal relativierenden Neigung, das NS-Regime auf eine Tötungsmaschine zu reduzieren, während der Kommunismus als weitaus komplexeres System charakterisiert wird: „[…] ein Erfinder, Theoretiker, Praktiker, Ingenieur und Technologe von Verbrechen, von denen der Nationalsozialismus […] vielleicht träumte, doch zu dem ihm die Kräfte fehlten“ (S. 71). Derartige Vergleiche schaden dem Anliegen der Entkommunisierung und Durchleuchtung.

Alles in allem leistet der Band keinen weiterführenden Beitrag zur Totalitarismustheorie.1 Sein Wert liegt vielmehr in einer hochreflektierten, ethisch prinzipiellen und zeithistorisch differenzierten Analyse der Realitäten in Polen – der machtpolitischen, der behavioristischen und der perzeptionellen –, die den Nutzen des Totalitarismusbegriffs analytisch und normativ eindrucksvoll belegt. Die Argumentation steht zumeist in bester abendländisch-philosophischer Tradition und erlaubt tiefe Einsichten in das polnische Denken, in die Geschichte Polens und in die geistigen Kräfte der ethisch-christlichen Resistenz dieses großen katholischen Landes. Von der hier geführten Diskussion über den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit können auch andere postkommunistische Staaten einiges lernen. Das wiedervereinte Deutschland hatte es in diesem Falle besser durch die frühe Einrichtung der „Gauck-Behörde“, die intensive Debatte um Stasi-Mitarbeit, Verantwortung und Schuld und nicht zuletzt die breit angelegte wissenschaftliche Aufarbeitung des SED-Regimes und die öffentliche Diskussion, die hierzulande wohl mehr an Versöhnung, „innerer Einheit“ und wechselseitigem Verständnis, ganz sicher aber mehr an demokratischer politischer Kultur grundgelegt haben als die polnische Versöhnungssymbolik des Anfangs und die ihr folgende vage und repressive Herrschaft des Pragmatismus.

Als nachhaltiger Eindruck bleibt einem „alten Europäer“ die beunruhigende Erfahrung, wie unterentwickelt das demokratische Fundament auch in Polen, wie in den meisten postkommunistischen Staaten, bis heute ist. Und noch beunruhigender ist, wie wenig Beachtung dem Wertedefizit und der politischen Kultur der Demokratie in der Herrschaftspraxis der Postkommunisten in Polen geschenkt wird – offenbar mit Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung. Deshalb kann der Band nur sehr zur Lektüre empfohlen werden. Die über 560 Textseiten werden durch ein hilfreiches Abkürzungsverzeichnis, ein informativ kommentiertes Personenverzeichnis und ein nützliches Kalendarium abgerundet, das am 22. Juni 1944 mit der Gründung des polnischen Komitees der Nationalen Befreiung und der kommunistischen Herrschaft in Polen beginnt und am 15. Februar 2002 mit der Novelle der Linkskoalition zum Durchleuchtungsgesetz endet, mit dem die Mitarbeiter der Militärgeheimdienste vom Durchleuchtungszwang befreit wurden.

Anmerkung:
1 Theoretisch bleibt er zurück hinter Linz, Juan J., Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000.

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