Violence and Society after the First World War

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Titel
Violence and Society after the First World War.


Herausgeber
Wirsching, Andreas; Schumann, Dirk
Reihe
Journal of Modern European History 1/2003
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
149 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Krassnitzer, Centre Marc Bloch, Humboldt-Universität zu Berlin

Da es sich bei dem vorliegenden Kompendium nicht um einen Sammelband im eigentlichen Sinne, sondern um die erste Ausgabe einer neuen historischen Fachzeitschrift handelt, erscheinen ein paar kurze Vorbemerkungen zu deren Gesamtkonzept sinnvoll. Das von einem renommierten, international besetzten Gremium herausgegebene Journal of Modern European History soll künftig zweimal jährlich als dreisprachiges (Englisch, Deutsch, Französisch) Themenheft erscheinen. Die Herausgeber haben sich zum Ziel gesetzt, jeweils größere Themenbereiche aus den vergangenen drei Jahrhunderten unter strikt komparatistischen, transnationalen Perspektiven zu betrachten, wobei ein Vergleich immer mindestens drei europäische Länder umfassen soll. Sie betonen hierbei, keinem programmatischen Europabegriff verpflichtet zu sein und streben eine Erweiterung des gängigen Drei-Länder-Vergleichs zwischen Deutschland, Frankreich und England insbesondere um die osteuropäischen Länder und ggf. um eine globale Perspektive an.

Es lässt sich vorwegnehmen, dass diese Prämissen in der vorliegenden ersten Ausgabe der Zeitschrift beispielgebend umgesetzt wurden. Das Thema Gewalt und Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg wird in einem Sechs-Länder-Vergleich behandelt, wobei mit Ausnahme von Österreich-Ungarn alle bedeutenden kriegsführenden Gesellschaften betrachtet wurden: Großbritannien (Adrian Gregory), Frankreich und Italien (Andreas Wirsching), Deutschland (Benjamin Ziemann), Russland bzw. die Sowjetunion (Dietrich Beyrau) sowie das ostmitteleuropäische Staatengeflecht (Piotr Wróbel).

Diese fünf länderspezifischen Artikel werden durch die sehr gelungene Einleitung von Dirk Schumann gebündelt. Dieser macht bereits zu Beginn klar, worum es allen Beiträgern geht: um eine kritische Auseinandersetzung zum einem mit dem "(Ur-)Katastrophenmodell", das den Ersten Weltkrieg als fundamentale Zäsur der bürgerlichen europäischen Welt des 19. Jahrhunderts und die folgende politische Nachkriegsgewalt als dessen direkte Folge deutet und zum anderen mit der damit eng verknüpften "Brutalisierungsthese", die die angeblich verroht und gewaltbereit heimkehrenden Kriegsveteranen als Hauptakteure und Agenten dieser politischen Gewalt interpretiert. Diesen in der Historiografie nach wie vor gängigen, pauschalisierenden Erklärungsmustern setzt Schumann die These entgegen, dass die beträchtlichen nationalen Unterschiede der Nachkriegsgewalt vielmehr als Kontinuitäten der jeweiligen nationalgesellschaftlichen Traditionen und Modi im Umgang mit Gewalt und als gescheiterte oder erfolgreiche Bewährungsproben der gesellschaftlich-politischen Systeme und politischen Kulturen der Nachkriegszeit erklärt werden können.

Entsprechend dieser Interpretationslinien zeigt Gregory am britischen Beispiel, dass der Weltkrieg keinen Bruch in dem längerfristigen Trend eines Rückgangs von Tötungsdelikten bewirkte und dass vereinzelte gewaltsame Soldatenproteste 1919 eine raschere Demobilisierung zum Ziel hatten. Obwohl Gewaltanwendung in der politischen Auseinandersetzung Vorkriegs-England eine gewisse Tradition besaß, wurde diese nach 1918 in zunehmenden Maße missbilligt, was er auf eine graduelle Feminisierung der Politik durch die partielle Einführung eines Frauenwahlrechts, eine im Weltkrieg gewachsene Integration der Arbeiterklasse und vor allem auf die "construction of the English charakter" (S. 57) als gewaltfrei und zivilisiert zurückführt. Der gewichtigste Faktor scheint jedoch der "Export" politischer Gewalt u.a. nach Irland zu sein, wo den deutschen Freikorps ähnelnde Freiwilligeneinheiten von Weltkriegsveteranen für eine Brutalisierung des "Krieges" gegen die IRA verantwortlich waren.

Wirsching konstatiert für Frankreich und Italien nach dem Weltkrieg den Durchbruch eines neuen politischen Gewalttypus – im Gegensatz zu einer traditionellen Gewalt in Form von spontanen Revolten – den er allerdings in eine intellektuelle Traditionslinie zu Georges Sorel stellt und dem Krieg lediglich eine Katalysatorfunktion zubilligt. Der italienische Faschismus sei demnach die erste Erscheinungsform dieser "sorelianischen" Gewalt, hervorgegangen aus einer Synthese aus Nationalismus, Syndikalismus, kämpferischem Aktionismus und Antimarxismus. Diese (Über-)Interpretation scheint allerdings eine Folge von Wirschings ideengeschichtlichen Ansatz zu sein, schließlich konnte erst jüngst in einer praxeologischen Analyse der Gewaltformen von italienischen Faschisten und Nationalsozialisten eine hohe Übereinstimmung der Gewaltformen aufgezeigt werden, obwohl letztere keine syndikalistischen Wurzeln aufweisen.1 Überzeugender erscheint seine Argumentation in der Frage, warum sich die faschistische Bewegung in Italien durchsetzen konnte und in Frankreich vergleichsweise nur marginalen Einfluss gewann. Er stellt dabei drei italienische Besonderheiten in den Vordergrund: die relative Schwäche der italienischen Zentralregierung, eine weitgehend gescheiterte Reintegration der Veteranen und starke soziale Verwerfungen insbesondere innerhalb der Landbevölkerung. Auf der anderen Seite konnte in Frankreich die moralische Autorität der überwiegend pazifistisch orientieren anciens combattants und vor allem die integrative Wirkung tiefverwurzelter republikanischer Symbole, Riten und Mythologien das vorhandene extremistische Gewaltpotential erfolgreich neutralisieren.

Ziemann verzichtet in seinem Beitrag auf eine vergleichbare Analyse der politischen Gewalt in Deutschland und skizziert stattdessen einen methodologisch orientierten Überblick der neueren Gewaltforschung zur Weimarer Republik, die unisono die Brutalisierungsthese relativiert und die Traditionslinien der politischen Gewalt auf lange Sicht in der semantischen Gewaltbereitschaft des rechten Lagers bereits vor dem Weltkrieg und auf kurze Sicht in der realen Gewalterfahrung der Freikorps in den "Bürgerkriegs"-Jahren 1918-23 verortet. Die neuere Forschung versucht dabei, das Phänomen der Nachkriegsgewalt von dem Interpretationshintergrund des Scheiterns der Republik zu lösen und, basierend auf einem neuen theoretischen Gewaltbegriff, der diese als soziale Handlung begreift, "dichte Beschreibungen" der Gewaltakte in ihrer Eigenlogik vorzunehmen. Ziemann plädiert allerdings für eine noch stärkere Differenzierung zwischen dem ideologischen und semantischen Diskurs über Gewalt und der tatsächlichen Gewalterfahrung der Akteure sowie für eine intensivere Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte.

Im Gegensatz zu den westeuropäischen Gesellschaften zeigt Beyrau auf, dass der Erste Weltkrieg nicht nur im "offiziellen" Gedächtnis der Sowjetunion als der "vergessene Krieg" (S. 98) gelten kann. Vielmehr wurde er durch die Erinnerung an den Bürgerkrieg als Selbstbehauptungskampf des Bolschewismus überlagert und als eigentliche Zäsur kann daher das Jahr 1917 gelten. Die russische Revolution und der folgende Bürgerkrieg waren demnach der Ausgangspunkt für die Eskalation ungehemmter Gewalt, zum einen weil die weitgehende Vakanz staatlicher Autorität das unkontrollierte Ausleben von älteren, zum Teil im Weltkrieg aktualisierten, sozialen, regionalen und ethnischen Spannungen beförderte. Und zum anderen weil sich die bolschewistische Partei und ihre (para-)militärischen Institutionen unter den Bedingungen des Bürgerkrieges zu militanten Kampfverbänden entwickelten, wobei sich sozial und ethnisch marginalisierte Bevölkerungsgruppen des Zarenreiches mit brutaler Gewalt als neue Elite zu etablieren versuchten. Es ist zwar richtig, dass der Bürgerkrieg als Bewegungskrieg eine andere Gewalterfahrung darstellt als der Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges, aber die daraus abgeleitete These von Beyrau, die im Übrigen auch von Schumann vertreten wird, dass diese Kriegsform eine deutlich brutalisierendere Wirkung auf die Soldaten hatte, erscheint als eine Überschätzung der verrohenden Folgen von "face-to-face-killing" bei gleichzeitiger Unterschätzung der Abstumpfung und Gewöhnung an die alltägliche Gegenwart von Gewalt und Tod im Schützengraben.

Wròbel skizziert auf unsystematische und oberflächliche Weise die Einflüsse von Weltkrieg und Bürgerkrieg auf das osteuropäische Staatengeflecht, wobei er etwas wahllos das sich neu formierende Polen, die nach Unabhängigkeit strebende Ukraine und das Baltikum betrachtet. Seine zentrale These ist dabei, dass in den Jahren 1914-21 die überwiegend ländliche Bevölkerung dieser Regionen schlagartig mit einer "modernen" Gewalt konfrontiert wurde, die traditionelle Werte und Strukturen nachhaltig zerstörte, ein kulturelles Vakuum schuf und die Zivilbevölkerung als Folge davon radikalisierte und brutalisierte. Wie auch Beyrau für die Sowjetunion setzt er die Zäsur für die Eskalation ungehemmter Gewalt mit dem Jahr 1917 an. Mit seiner allzu simplen Dichotomie zwischen der "heilen" Welt des 19. Jahrhunderts (vor allem angesichts der langen Tradition antisemitischer Pogrome in Ostmitteleuropa) und der Gewaltsamkeit des 20. konterkariert Wròbel allerdings die Bemühungen des Bandes, nach Kontinuitätslinien der politischen Nachkriegsgewalt zu suchen und reproduziert damit auf neuer Ebene die Brutalisierungsthese.

Die vielfältigen Befunde dieses Ländervergleichs summiert Schumann in seiner Einleitung, indem er die Differenzen der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges nicht entlang der gängigeren Schemata Sieger - Besiegte, Revolution - keine Revolution interpretiert, sondern auf eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der Typologie der Nationalstaaten von Theodor Schieder hinweist: demnach konnten die alten, gewachsenen westeuropäischen Nationen die politische Nachkriegsgewalt weitgehend unter Kontrolle halten, während die verspäteten, aus Einigungsbewegungen hervorgegangenen mitteleuropäischen Staaten mit der demokratiezerstörenden Gewalt paramilitärischer Gruppierungen konfrontiert waren und die nach dem Weltkrieg in Sezessionsbewegungen neuformierten Staaten Osteuropas in der entgrenzten Gewalt der Bürgerkriege versanken.

Der Band setzt insgesamt den Trend der neueren (Nach-)Weltkriegsforschung einer Relativierung von "klassischen" historischen Interpretationsmustern fort und eröffnet auch methodologisch neue Forschungsfelder, wobei der größte Forschungsbedarf wohl für den bisher zu wenig betrachteten osteuropäischen Raum besteht.

Anmerkung:
1 Reichardt, Sven, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.

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