H. Leidinger u.a.: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr

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Titel
Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917-1920


Autor(en)
Leidinger, Hannes; Moritz, Verena
Erschienen
Anzahl Seiten
754 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn

Als die ersten deutschen Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg aus Russland repatriiert wurden, setzte auf Veranlassung General Ludendorffs sogleich eine umfassende propagandistische Offensive ein, um in ihnen vaterländische Gefühle zu reaktivieren. Denn schließlich hatten die Kriegsgefangenen aus den Staaten der Mittelmächte die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 aus erster Hand erlebt und ungewöhnlich enge Kontakte zur Gesellschaft des Nehmerlandes geknüpft. Einige von ihnen beteiligten sich militärisch in Form von Internationalisten-Abteilungen zugunsten der Bolschewiki, von deren Führungsriege zuerst misstrauisch beobachtet und später dann instrumentalisiert. Einige Bekanntheit erlangte auf der Gegenseite die „Tschechoslowakische Legion“, die ebenfalls unter Beteiligung von Kriegsgefangenen gebildet wurde. Auch ihr stand die national-russische Opposition jedoch reserviert gegenüber.

Im Deutschen Reich vermutete die Oberste Heeresleitung, viele der heimkehrenden Kriegsgefangenen seien mit bolschewistischem Gedankengut „infiziert“ worden. Auch auf dem Territorium der (ehemaligen) Habsburgermonarchie sah man in den Rückkehrern eine politische Gefahr. Auf der anderen Seite versuchten die politisch labilen Regierungen der Mittelmächte die russischen Kriegsgefangenen in den eigenen Lagern im Auge zu behalten, um bolschewistische „Umtriebe“ im Keim zu ersticken oder die Russen sogar für eigene Ziele einzuspannen. Bei dieser Gelegenheit verdiente sich der Weltkriegsgefreite Adolf Hitler erste Meriten als antibolschewistischer Redner. Insgesamt wurde die Propagandaarbeit nur halbherzig betrieben und bei Bedarf den ökonomischen Erfordernissen des Arbeitseinsatzes der Gefangenen untergeordnet. Wenn auch das Misstrauen gegenüber der Masse der Kriegsgefangenen – es gab schätzungsweise bis zu zwei Millionen Heeresangehörige der Mittelmächte in Russland – unbegründet war, so beteiligten sich Einzelne doch aktiv an den revolutionären Entwicklungen. Der spätere Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter war gegen Kriegsende ebenso ein strammer Bolschewist wie der ungarische Revolutionär Béla Kun, der erfolgreich den Rätegedanken in sein Heimatland exportierte. Die bei weitem überwiegende Mehrheit der Kriegsgefangenen in den russischen, österreichisch-ungarischen und deutschen Lagern sehnte sich dagegen nach einer zügigen Heimkehr, weshalb ihr Politisierungspotenzial und ihre Kampfbereitschaft – auf welcher Seite auch immer – nur gering ausgeprägt waren.

Verena Moritz und Hannes Leidinger haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Beitrag der Kriegsgefangenen für die Ausbreitung des frühen Kommunismus in Mittel- und Osteuropa zu untersuchen. Zu diesem Zweck haben sie Teile ihrer Dissertationen in dem vorliegenden Band zusammengeführt und die politische Betätigung der Kriegsgefangenen auf beiden Seiten der Ostfront untersucht. Ausgangspunkt ist die These, dass die Kriegsgefangenen nach ihrer Rückkehr die „Geschicke ihrer Heimatländer nachhaltig“ beeinflussten (S. 25) – sowohl als politische Akteure als auch als sozialpolitische Integrationsherausforderung. Während dies für die Staaten Osteuropas ohne weiteres zutreffen mag, war der Einfluss der Kriegsgefangenen in Deutschösterreich deutlich geringer, im Deutschen Reich lediglich marginal. Doch steht das Deutsche Reich mit seinem relativ geringen Anteil an den Kriegsgefangenen in Russland auch nicht im Zentrum der Betrachtung. Die Arbeit befasst sich mit den Verhältnissen u.a. in Prag, Wien, Budapest sowie den weiter östlich gelegenen Schauplätzen des alten Zarenreiches und stützt sich dabei auf unveröffentlichtes Material aus russischen und österreichischen Archiven. Bei dem Untersuchungsgegenstand handelt es sich um eine der größten Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Nicht nur verschwammen ethnische Grenzlinien, auch politische und soziale Interessen kollidierten und sorgten für eine nahezu unüberschaubare Gemengelage – ein Problem, an dem die Darstellung der Ergebnisse leidet: Das 14-seitige Personen- und Ortsregister am Ende des Bandes mag eine wertvolle Hilfe für den Leser bieten, andererseits ist es ein Symptom der Unübersichtlichkeit. Angesichts der äußerst vielfältigen, teilweise verworrenen Interessenkonstellationen im Bürgerkriegs-Russland der Zeit nach 1917 bietet das Buch wenig Strukturierungshilfen für den Leser, sondern es bildet die vielfältigen Gruppierungen, taktischen Winkelzüge, Einzelschicksale sowie gegenläufige Interessen mehr oder weniger ab und wirkt in einigen Passagen überfrachtet. Die Analyseleistung der Autoren wird hierdurch nicht beeinträchtigt, wohl aber die Lektüre des Buches durch den Leser.

Die Autoren geben einen profunden Überblick über die Kriegsgefangenenforschung und setzen sich wohltuend von jenen Ansätzen ab, die die Kriegsgefangenen lediglich als Objekte des Nehmerstaates und der Fürsorge betrachten. Ihre Befunde zeigen, dass sich Kriegsgefangene je nach Konstellation durchaus aktiv politisch betätigten. Auf die Darstellung der konkreten Lebensumstände kann das Buch im Übrigen verzichten, hierzu liegen gesonderte Untersuchungen vor.1 Allerdings ist diese legitime Abgrenzung mit einer deutlichen Beschränkung der Perspektive verbunden. Denn die Frage, welche Einschätzungen der russischen Revolution unter den Kriegsgefangenen vorherrschten und was sich auf der Diskursebene z.B. in Briefen und Lagerzeitungen abspielte, wird kaum angerissen. Man sieht Akteure, die sich für oder wider die Bolschewiki betätigen, ohne dass deren Motivationen und Diskussionsprozesse im einzelnen transparent würden. Zu fragen wäre auch, welche besonderen Erfahrungen aus der Kriegsgefangenschaft die politische Betätigung beeinflusste? Ob es angesichts der Heterogenität der Gruppe der Kriegsgefangenen in den einzelnen Staaten überhaupt so etwas wie gemeinsame Dispositionen oder einen gemeinsamen Erfahrungshorizont gegeben hat? Eine weit reichende, sich politisch äußernde Proteststimmung aufgrund schlechter Behandlung scheint unter den Kriegsgefangenen in Russland nicht entstanden zu sein. Hannes Leidinger und Verena Moritz zeigen anhand der Kriegsgefangenenthematik, dass das System der „permanenten Säuberungen“ (S. 281) schon in den ersten Wochen nach der Revolution – und nicht erst unter Stalin – installiert wurde. Eine andere Erkenntnis ist die der engen Verzahnung der unter der Oberfläche der alten Monarchien gärenden Modernisierungsbedürfnisse. So kann das Buch belegen, dass es sich bei der russischen Revolution um den Kulminationspunkt einer Krise handelte, die mit dem Oktober 1917 keineswegs ausgestanden war, sondern in eine lange Phase der politischen Instabilität in ganz Mittel-, Südost- und Osteuropa mündete. Auch jenseits des bolschewistischen Netzwerks zeigt sich der internationale Charakter dieser Vorgänge. So ist das Buch für die politische Geschichte der russischen Revolution und die Entstehung neuer Staaten in Ost- und Mitteleuropa vermutlich sogar ertragreicher als für die Kriegsgefangenenforschung.

Anmerkung:
1 Nachtigal, Reinhard, Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914-1918), Remshalden 2003; Rachamimov, Alon, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, New York 2002; Wurzer, Georg, Die Kriegsgefangenen in Russland im Ersten Weltkrieg, Tübingen 2000.

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