M. Hettling: Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit

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Titel
Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit.


Herausgeber
Hettling, Manfred
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Der Begriff „Volksgeschichte“ ist – das haben die Debatten um die deutsche Ost- und Westforschung der vergangenen Jahre gezeigt – ein zentrales Kampfmittel in den hitzigen Kontroversen über Historiker und Nationalsozialismus. Dass in diesem Kampfesgetümmel transnationale Vergleiche und europäische Bezüge, die sonst als methodologischer Standard im Fach gelten, kaum in den Blick kamen, ist wiederholt kritisiert, aber doch nur selten beherzigt worden. Insofern ist der vorliegende Band, der auf eine Sektion des Hallenser Historikertages 2002 zurückgeht, ein längst überfälliger und wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Debatte.

In seiner Einführung arbeitet Manfred Hettling sechs „Zugehörigkeitsunterstellungen“ – kulturelle, historische, politische, religiöse, biologistische und territoriale – als Komponenten eines Idealtyps heraus, die in je spezifischen Kombinationen zu unterschiedlichen Volkskonstruktionen führen, und nennt „affektuelle Gemeinsamkeit“ als weiteres zentrales Merkmal für die Attraktivität des Volksbegriffs. Gewiss sind diese Elemente notwenige Voraussetzungen für die Entstehung einer Geschichtsschreibung, die ein Volk zu ihrem Ausgangspunkt nimmt, hinreichend erklären können sie die Entstehung von Volksgeschichte als eigenem historiografischen Konzept indessen nicht, wenn nicht die spezifischen politischen Konstellationen in Deutschland berücksichtigt werden. Entscheidende Impulse, so Hettling, gingen von der semantischen Aufladung von „Volk“ im Deutschen als „Kompensationsbegriff“ (Koselleck) gegen den französischen Nations-Begriff und die Versailler Ordnung aus. Hinter den aufschlussreichen semantischen Analysen des Volks-Begriffs kommt jedoch eine Abgrenzung von einer „traditionellen“ Nationalgeschichtsschreibung, die sicherlich den „Normalfall“ (europäischer) Historiografie darstellt, zu kurz. Eine solche Fortführung der Überlegungen hätte weitere Anhaltspunkte für den Vergleich gegeben, wie Christian Jansen in seinem Beitrag zu Italien zu Recht anmerkt. So konstatieren die Mehrzahl der Beiträge, die sich überwiegend stringent an der vorgegeben Fragestellung orientieren, dass es eine der deutschen Volksgeschichte entsprechende geschichtswissenschaftliche Ausrichtung, die von der politischen Intention, Grenzen zu verändern, von landeskundlich-interdisziplinären Forschungsansätze und dem Anspruch methodologischer Innovation geprägt ist, nicht gegeben hat.

Allein durch die unterschiedlichen historischen Gegebenheiten kann dieser Sachverhalt nicht bedingt sein: Wenn Hettling aus der Diskrepanz zwischen vormoderner Reichsgeschichte und dem Streben nach einem deutschen Nationalstaat eine besondere Anfälligkeit für eine rassistische Volksgeschichte ausmacht, dann zeichnet sich eine solche Konstellation ebenso in Polen ab, ohne dass sich dort eine Volksgeschichte im deutschen Sinne entwickelt hätte, wie Jan Piskorski konstatiert; selbst die Vertreter eines ethnischen, „piastischen“ Polen sagten sich nicht gänzlich von der multiethnischen Geschichte der Adelsrepublik los. Einen wichtigen Teil seines Beitrags widmet Piskorski nicht der polnischen Historiografie, sondern der deutschen Ostforschung, und zeigt damit ein wichtiges Problem bei einem strukturellen Vergleichs von Volksgeschichten auf: „Volksgeschichte“ ist in Polen eigentlich nur beziehungsgeschichtlich, aus der Clinchsituation mit deutschen Historikern heraus, greifbar. Eine ähnliche Perspektive nimmt Anna-Veronika Wendland zu den baltischen Ländern ein; auch dort kommt der deutsch(baltisch)en Volksgeschichte als Ausgangspunkt ihrer Betrachtung eine entscheidende Rolle zu. Beide Autoren grenzen ethnozentrische Perspektiven in den betrachteten Ländern von dem deutschen Verständnis von Volksgeschichte ab, wie es von Willi Oberkrome im vorliegenden Band noch einmal skizziert wird.

Weitere negative Befunde kommen hinzu: historiografische Kontroversen um umstrittene Grenzgebiete und Bevölkerungsgruppen haben bei den deutschen Nachbarn nicht zu Volksgeschichten geführt. Im Gegenteil: in Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei dominierten staatliche und territoriale Konstruktionen der Nation, obwohl dort, wie Lutz Raphael für Frankreich betont, ein Arsenal ethnozentrischer Ideologeme zur Verfügung stand. Diese waren aber als Antwort auf deutsche Volks- und Kulturboden-Ansprüche weniger nutzbar als territoriale Begründungen der Nation. Peter Haslinger kann plausibel zeigen, dass in der Tschechoslowakei volksgeschichtliche Elemente eher im Blick auf die Integration der Slowakei funktional waren, aber dennoch nicht die Begründung der Einheit von tschechischer und slowakischer Geschichte dominierten. Volksgeschichtliche Elemente fanden sich dagegen eher als Argumente in sudetendeutschen und slowakisch-autonomistischen Kreisen.

Auch politische Affinitäten zum Nationalsozialismus führten nicht zur Adaption von Volksgeschichte, wie Jansen für Italien herausarbeitet. Eine solche war sowohl im Hinblick auf die Genese des italienischen Nationalstaats wie auf die Südtirol-Frage dysfunktional. Zudem beruhte die Konstruktion historischer Größe in der italienischen Geschichtswissenschaft auf Territorium und Kultur, nicht aber auf einer ethnischen Beschränkung. Schließlich führte auch der direkte Kontakt zur deutschen Volksgeschichtsforschung und ihren Milieus in Leipzig um Rudolf Kötzschke oder in Breslau um Hermann Aubin ebenfalls nicht zur Übertragung von Volksgeschichte im Sinne einer interdisziplinären, aber politisch angereicherten Siedlungsgeschichte auf andere Nationen: Richard Koebner entwickelte keine Siedlungsgeschichte der Juden in Palästina, und Paul Johansen befasste sich zwar mit Siedlungsgeschichte in Estland, aber ohne sie politisch (weder im Blick auf Esten noch Deutsche) aufzuladen.

Resonanz fand das Konzept Volksgeschichte jedoch in zwei politisch der Weimarer Revisionspolitik wie dem Nationalsozialismus konträren Fällen: dem Zionismus und in Schweden. In beiden Fällen sind aber die Unterschiede zum deutschen Vergleichsobjekt nicht zu übersehen: Jüdische Volksgeschichte, so Moshe Zimmermann, lasse sich keinesfalls allein mit dem Analyseinstrumentarium für die deutsche Volksgeschichte erklären, sondern müsse insbesondere auch die Wechselwirkungen mit den osteuropäischen Historiografien berücksichtigen. Für Schweden konstatiert Bo Stråth zwar den konservativen Ursprung der „folkshemmet“-Ideologie, erklärt ihren Erfolg dann aber aus der sozialdemokratischen Adaption, die letztlich deshalb möglich war, da die Spannung zwischen völkischen und sozialistischen Ideen deutlich geringer war als in Deutschland.

Damit bleibt im Spektrum des Buches nur noch ein Fall übrig, der enge Parallelen zur deutschen Volksgeschichte aufweisen kann: Für Serbien bzw. den Balkan vertritt Holm Sundhaussen eindeutig die Position, dass dort ethnisch-historische Begründungen von Gemeinschaft überwogen, die, wie in Deutschland gegen bestehende Grenzen oder auch das Prinzip nationaler Selbstbestimmung ins Feld geführt wurden. So zutreffend diese Beobachtungen für die Gegenwart auch sind, so erstaunt jedoch Sundhaussens Rückgriff auf einen Aufsatz von Georg Stadtmüller von 1939 zur „balkanischen Volksgeschichte“ wie auch die Wiederholung der altbekannten Dichotomie von östlichem und westlichem Nationalismus. Wenn Sundhaussen für Südosteuropa konstatiert, es habe keine begriffliche Differenzierung zwischen Volk und Nation gegeben, so trifft das zumindest für eine der anderen „erwachten“ Nationen im östlichen Europa nicht zu: Am Beispiel Estlands ließe sich zeigen, dass zwischen „Volk“ und „Nation“ mit der semantischen Opposition „rahvas – rahvus“ seit der Periode des „nationalen Erwachens“ unterschieden wurde. Dieser nicht unwichtige Punkt ist Wendland leider entgangen, er relativiert zugleich die volksgeschichtliche Rolle ihres Kronzeugen Hans Kruus. Seine „Geschichte des estnischen Volkes“ von 1932 hieß in der estnischen Ausgangsfassung „Estnische Geschichte in der neuesten Zeit“; Kruus’ Interesse galt vor allem dem „rahvus“ und nicht der bäuerlichen ethnischen Landbevölkerung in vormoderner Zeit.

Insgesamt wird man wohl eher von ethnozentrischer oder ethnizistischer Geschichtsschreibung denn von Volksgeschichte als einem europäischen Phänomen sprechen. Trotz dieser kritischen Anmerkungen bringt vorliegende Band auch bedenkenswerte Anstöße, die über den zeitlichen Horizont der Zwischenkriegszeit hinausweisen. Das gilt für Jörg Fischs instruktivem Beitrag über „das Volk im Völkerrecht“, der aufzeigt, wie das Selbstbestimmungsrecht nach Versailles vom Angelpunkt eines neuen Systems, das sich um Völker und nicht um Staaten zentrierte und Krieg als Mittel der Politik ausschloss, zum Werkzeug der Zerstörung der neuen Völkerordnung wurde, an deren Ende wieder die staatliche orientierte Grenzziehung stand. Vor diesem Hintergrund sei für die Gegenwart zu erwarten, so Fisch, dass in dem Verhältnis zwischen Staat, Volk und Individuum das Volk seine Rolle als „Störenfried“ behalte.

Außerdem wirft das Buch die Frage auf, ob nicht ethnozentrische Konzepte nach 1945 an Bedeutung gegenüber der Zwischenkriegszeit zugenommen haben. Während Oberkrome, trotz gewisser Modifikationen früherer Thesen, und Reinhard Blänkner in seinem Beitrag zu Otto Brunner das Ende der Volksgeschichte in der Bundesrepublik hervorheben, so ließe sich etwa am Fall Polens und der baltischen Sowjetrepubliken zeigen, dass ethnozentrische Argumentationen im Sozialismus, so paradox das zunächst scheinen mag, ein weit größere Rolle spielten als zuvor. Einen ähnlichen Bedeutungszuwachs konstatiert Zimmermann für Israel nach 1967 und Sundhaussen für den Balkanraum als „Eldorado der Volkstumsforschung“ seit den 1980er-Jahren.

Als Fazit ergibt sich, dass der Buchtitel mehr die Hypothese als das Ergebnis der Beiträge spiegelt und zu apodiktisch ist; zumindest ein erläuternder Untertitel wäre angebracht gewesen. Aber Hypothesen, die sich nicht bestätigen lassen, führen mitunter zu höherem Erkenntnisgewinn als solche, die das ohnehin Erwartete bestätigen.

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