: Experiencing Russia's Civil War. Politics, Society, and Revolutionary Culture in Saratov, 1917-22. Princeton 2002 : Princeton University Press, ISBN 0-691-11320-3 464 S. € 23,38

: Making War, Forging Revolution. Russia's Continuum of Crisis, 1914-1921. Cambridge 2002 : Harvard University Press, ISBN 0-674-00907-X 352 S. $50.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Igor Narskij, University Cheljabinsk

Die Russische Revolution 1917 und der Bürgerkrieg in Rußland von 1918 bis 1920 gehören seit Jahrzehnten zu den aktuellen Gegenständen der internationalen Geschichtsschreibung. Das Interesse galt jedoch vor allem den Hauptstädten und der gesamtrussischen Perspektive und konzentrierte sich auf die politische Ebene. Die Öffnung der russischen Archive und Regionen für ausländische Historiker in den 1990er Jahre trug maßgeblich zum wachsenden Interesse an den russischen (und nichtrussischen) Provinzen bei. Gleichzeitig führte die kulturgeschichtliche Wende zu einer Erweiterung des Problemkreises der russischen und sowjetischen Geschichte und bewirkte eine kritische Reflexion der Kenntnisse und Methoden der Rekonstruktion und Interpretation der Vergangenheit Russlands.

Die fast gleichzeitig erschienenen Monographien von Donald Raleigh und Peter Holquist lassen sich als eine markante Illustration dieser Tendenzen betrachten. Eine wichtige und für die westliche Rußlandforschung relativ neue Besonderheit beider Bücher bildet die ausgeprägt lokale Perspektive. Raleigh und Holquist forschen über zwei sehr unterschiedliche Regionen, deren politische und kulturelle Spezifik das Erleben und Überleben der revolutionären Krise prägte. Die zweite Besonderheit, die den beide Büchern eigen ist, liegt im primären Interesse nicht an den politischen Ereignissen, sondern an der politischen Kultur, an den Erfahrungen und Praktiken der Revolutionszeit.

Die Erforschung dieser Praktiken erfordert eine besondere Analyseform, die sich nach Meinung beider Autoren nur auf der lokalen Ebene umsetzen läßt. Die lokale (bzw. regionale) Perspektive erlaubt, die Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Staatspolitik und ihrer lokalen Umsetzung anschaulich zu rekonstruieren sowie die Differenzen zwischen den offiziellen Erwartungen des Zentrums und dem Grad ihrer Realisierung nachzuvollziehen. Die Wahl der untersuchten Gebiete scheint nicht zufällig zu sein. Die beiden Territorien waren wichtige Getreideproduzenten und waren deshalb dem hohen Druck der wirtschaftlichen Mobilisierung und des Versorgungsdiktats unterworfen. Das Gouvernement Saratow blieb in den Jahren 1917 bis 1922 unter Kontrolle der Bolschewiki und wurde zu einem relativ stabilen Experimentierfeld. Das Don-Gebiet war im Gegensatz zu Saratow als Kosakenzone viel stärker von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges geprägt und wurde zu einem der Epizentren des Bürgerkriegs, wo sich politische Praktiken der Bolschewiki und ihrer Opponenten gegenseitig abwechselten.

Raleigh konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen der Revolutionäre sowie der Gruppen, die die bevorzugten Objekte der bolschewistischen Politik waren. So glaubt er nachvollziehen zu können, wie die „russische politische Kultur“, von ihm etwas verschwommen als „the subjective aspects of social life that distinguish one society from another” definiert (S. 5), im Zusammenspiel mit den bolschewistischen Praktiken und der Situation des Bürgerkriegs heterogene Elemente zu einer organischen Einheit zu verbinden vermochte. Der erste Teil Raleighs Buch bietet eine umfangreiche politische Einführung und beschreibt die Situation im Gouvernement Saratow in den Jahren 1917 bis 1922 im Kontext der „centrality of politics for this period” (S. 10). Hier werden die für die Entwicklung des Bürgerkrieges relevanten historischen Besonderheiten der Region (Kapitel 1) sowie politische (darunter auch diskursive) Praktiken der Bolschewiki (Kapitel 2), die Entstehung der neuen Machtstruktur im Kontext der Kriegserfahrungen und der aktuellen (geo-)politischen Tendenzen (Kapitel 3), die Entwicklung der provinziellen Organisationen der Kommunistischen Partei (Kapitel 4) und ihre Beziehungen zu anderen lokalen Parteigruppen des populistischen und sozialistischen Profils (Kapitel 5) beschrieben.

Der zweite Teil der Monographie ist den kulturellen Prozessen gewidmet, die die politischen Veränderungen begleiteten. Es geht um die destruktiven und produktiven Einflüsse des Bürgerkriegs auf das soziale und kulturelle Leben in Saratow (Kapitel 6) sowie um die zielgerichteten kulturellen Praktiken der Kommunisten in der Provinz, die einen neuen hegemonialen „Text“ schaffen und durchsetzen wollten (Kapitel 7). In Kapitel 8 werden die Umsetzung und Uminterpretationen dieses normativen „Textes“ anhand von Quellen rekonstruiert, die von Vertretern der diskriminierten sozialen Gruppen stammen. Das Kapitel 9 thematisiert die organisatorischen Praktiken des „Kriegskommunismus“. Sie wurden, so Raleigh, nicht nur von der Expropriationsideologie der Bolschewiki beflügelt, sondern auch von ihren Vorstellungen von der Rolle des Staates und der staatlichen Gewalt bei der Umgestaltung und Modernisierung der unterentwickelten Gesellschaft. Dabei rekonstruiert Raleigh sowohl die diskursiven Anstrengungen „von oben“ als auch die Reaktionen „von unten“, seitens der angeblichen Hauptteilnehmer des revolutionären Experiments. Raleigh analysiert die von den Arbeitern und Bauern erprobten Manifestationen des „Andersseins“ (otherness), die mannigfaltigen Techniken des aktiven und passiven Protests sowie des ritualisierten Konformismus und der Anpassung. Diese Praktiken produzierten im Endeffekt die „Doppelzüngigkeit“ des neuen Regimes und die zunehmende Distanzierung der Bevölkerung vom öffentlichen Leben (Kapitel 10 und 11) sowie die massenhafte Unzufriedenheit, die in der Krise im Jahre 1921 gipfelte.

Raleigh mißt den auf der lokalen Ebene reinterpretierten, ideologisch inspirierten, kreativen experimentalen Praktiken die Hauptrolle in der Gestaltung der Revolutionskultur bei und betont ständig die primäre Bedeutung der Sprache und der diskursiven Strategien. Dabei erzeugt aber das Lesen seiner Monographie manchmal das Gefühl, man lese eine kulturalistisch camouflierte politische Geschichte. Raleighs Schlußfolgerungen sind vorwiegend traditionell. Er führt das Ausbleiben von Alternativen zum totalitären System in 1920er Jahre auf die übliche Formel vom Zusammenspiel der Ideologie mit den Bedingungen des Bürgerkriegs, der Rückständigkeit Rußlands und den Besonderheiten der politischen Tradition zurück (S. 409 ff).

Im Unterschied zu Raleigh interessiert sich Holquist nicht primär für die innovativen Experimente und daraus resultierenden Brüche, sondern für die langfristigen Entwicklungen und Kontinuitäten der russischen Geschichte vor und nach der Revolution. Holquist definiert seine Studie als „political history of social movements“ (S. 6) und vermeidet den Mißbrauch des Begriffs „politische Kultur“. Er analysiert fast ausschließlich die politischen Programme und Mechanismen, die von den Kriegsparteien benutzt wurden, um die kollektiven Erwartungen hin zu einer bewußten Identifizierung mit den „sozialen Bewegungen“ zu führen. So suchten (und fanden) die konkurrierenden Projekte eine Unterstützung in den bestehenden sozialen und politische Erfahrungen.

Nach der Erörterung der Mobilisationsprobleme und –lösungen während des Ersten Weltkriegs (Kapitel 1) und der Erwartungen und Illusionen im Jahre 1917 (Kapitel 2) rekonstruiert Holquist die Prozesse der Politisierung der Bevölkerung und die Anstrengungen der politischen Konkurrenten, sich den Verhaltensmustern der politisierten sozialen Gruppen anzupassen (Kapitel 4 und 5). Sein Interesse gilt aber vor allem der Transformation von drei wichtigen Herrschaftspraktiken, bei denen der Staat im direkten und besonders intensiven Kontakt zur Bevölkerung stand. Es geht erstens um die Kontrolle der Versorgung, zweitens um die zielgerichtete offizielle Anwendung von Gewalt (Kapitel 3, 6 und 8) und drittens um die Organisation der Informations- und Überwachungsdienste (Kapitel 7).

Holquist betont „some striking and under-appreciated similarities in the political practices of the Soviets and their opponents“ (S. 8) während der Revolution und des Bürgerkriegs im Don-Gebiet. Dabei schöpften alle Kriegsparteien, die eigene Modelle einer revolutionären Umgestaltung anboten, aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Darauf stützten sich die Methoden der Propaganda, der Requirierungen von Lebensmittel und des Terror gegen ethnische Minderheiten, die alle Großmächte im Krieg praktizierten. Die markante Spezifik Rußlands, die eine massive Anwendung militärischer Maßnahmen in der darauffolgenden Friedenszeit begünstigte, lag nicht in der Ideologie und Gewalt, so Holquist, sondern im „parastaatlichen Komplex“ (parastatal complex), der die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft (ver)formte. In den europäischen Staaten mit den entwickelten Zivilgesellschaften bildeten die Praktiken des totalen Krieges eine provisorische Ergänzung zu den früher entstandenen, stabilen staatlichen und öffentlichen Strukturen. In Russland aber wurden die Mobilisierungs- und Gewaltmaßnahmen als ein zentrales und effektives Mittel zur Gründung der neuen Staatlichkeit und sozioökonomischen Ordnung sowie zur Überwindung der politischen Passivität der Bevölkerung wahrgenommen. Dieser „parastaatliche Komplex“ wurzelte, so Holquist, in den positiven Staatsbildern der russischen „gebildeten Gesellschaft“ und war die Frucht der vorrevolutionären politischen Kultur (S. 284f.).

Eine solche Perspektive betont nicht nur die destruktiven und reorganisierenden, sondern gerade auch die pragmatischen Komponenten der Russischen Revolution. Das unterscheidet die beiden Bücher (besonder das von Holquist) von der in der internationalen Geschichtsschreibung bis jetzt dominierenden Tradition, die erstens die Sowjets und ihre Gegner isoliert voneinander betrachtet und zweitens die Periode von 1914 bis 1921 als einen radikalen Bruch beschreibt, statt in ihr eine Kontinuität zu sehen, die die „anormale“ sowjetische Erfahrung in den vorrevolutionären und gesamteuropäischen Kontext einschreibt.

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