Cover
Titel
Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg


Autor(en)
Evans, Richard J.
Erschienen
Anzahl Seiten
752 S., 31 s/w Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Die historische Erforschung des Nationalsozialismus war stets ein internationales Unternehmen. Wichtige Beiträge kamen früh schon nicht zuletzt aus der angelsächsischen Welt. So ist es auch heute wieder. Unlängst publizierte Ian Kershaw 1 eine zweibändige große Hitler-Biografie, da legt Richard Evans (Cambridge) den ersten Band einer dreibändig geplanten Geschichte des Dritten Reiches vor. Was ist das? Keine Biografie des „Führers“ und keine Parteigeschichte, aber auch keine umfassende Nationalgeschichte. Der Reiz einer Frühgeschichte des Dritten Reiches, wie sie mit dem ersten Band vorliegt, könnte nicht zuletzt darin liegen, die gängige Teleologie aufzubrechen und das Dritte Reich nicht von 1945, vom Holocaust oder von Hitler her zu lesen. Welche diversen Motive und Möglichkeiten hatte diese Geschichte von ihren Anfängen her? Wie konnte ein Mann wie Hitler derart erfolgreich werden? Evans formuliert als Leitfragen des ersten Bandes lapidar: „Wie gelangte der Nationalsozialismus an die Macht, und welches waren seine Ursprünge?“ (S. 16) Er richtet sich „in erster Linie an Leserinnen und Leser, die nichts oder nur wenig über das Thema wissen“ (S. 9). Dieser naive Leser ist ihm auch ein idealer Leser, der die Geschichte unbefangen aufnimmt und bedenkt.

Dafür holt Evans weit aus. Er beginnt mit dem „Vermächtnis der Vergangenheit“ und schildert vier Hypotheken, die die erste deutsche Demokratie vorfand: „deutsche Besonderheiten“ nach 1848, antisemitische und rassistische „Propheten des Hasses“, den „Geist von 1914“ und den „Absturz ins Chaos“ nach Versailles. Einem neuerdings in der deutschen Historiografie erhobenen vornehmen Ton entsprechend, beginnt auch Evans sein Monumentalwerk mit einer Gründungsformel. „Am Anfang war Bismarck“ (S. 43), eröffnet er nach dem Vorwort, das sein Vorhaben als „Versuch einer Synthese“ (S. 32) sämtlicher Forschungsphasen situiert: nicht Napoleon und nicht das „Reich“, aber immerhin Bismarck. Evans geht nicht so weit wie Heinrich A. Winkler 2, die großdeutsche Hypothek des Reiches zum Schlüssel der deutschen Politik nach 1870/71 zu machen: die nationale Frage also als die Spannung zu thematisieren, die die Demokratisierung erschwerte und Chancen demokratischer Freiheit belastete. Er hat keine starke These, von der her er eine Teleologie knüpft, sondern pointiert diverse Aspekte als Hypotheken: den Kniefall und Niedergang des Liberalismus nach 1848, die ideologische Radikalisierung, die Evans in der relativen Selbstständigkeit des Rassediskurses gegenüber dem Antisemitismus interessant schildert, den Mythos nationaler Einheit von 1914 und den Schock von „Versailles“. Evans bewertet diese Vorgeschichte nicht über. Nicht Bismarck, sondern Weimar ist ihm der Boden des Aufstiegs. „Ohne den Krieg wäre der Nationalsozialismus nicht als ernstzunehmende politische Kraft auf den Plan getreten“ (S. 120), meint er zwar. Er schreibt aber auch: „Nach 1918 brach eine neue Zeit an.“ (S. 137) So selbstverständlich die Hypotheken des Zweiten zur Vorgeschichte des Dritten Reiches gehören, so deutlich markiert Evans die „neue Republik“ als Boden des Aufstiegs. Sein weiter Ausflug in die deutsche Nationalgeschichte vor 1918 ist seiner Deutung deshalb eigentlich entbehrlich.

Auch das zweite Kapitel behandelt historische Voraussetzungen des Aufstiegs zunächst weitgehend unabhängig vom Nationalsozialismus. Unter dem Titel „gescheiterte Demokratie“ konfrontiert Evans „die neue Republik“ mit den Belastungen der Inflation, kultureller Wandlungen (unter dem Titel „Kulturkriege“) und ideologischer Entwicklungen der Rassehygiene und des Antisemitismus. Aus dieser Perspektive war die Demokratie spätestens mit der Inflation gescheitert.3 Nach den Erschütterungen von Versailles und der Hyperinflation fanden die Propheten des Hasses ihren Resonanzboden. Evans betont, dass die neuen medialen Bedingungen eine wichtige Voraussetzung für die Radikalisierung waren. Die großen Ideologien des Rassismus und Antisemitismus wirkten in Weimar weniger durch ihre „klassischen“ Vertreter, sondern mehr durch massenmediale Popularisierungen. Auch Hitler wirkte weniger durch seine ideologische Grundschrift, als durch seine politischen Reden und Inszenierungen. „Das gesprochene Wort war es, das zählte“, schreibt Evans (S. 317).

Erst mit dem dritten Kapitel, nach über 200 Seiten, ist er beim „Aufstieg des Nationalsozialismus“ angelangt. Evans skizziert ihn am Leitfaden Hitlers personen- und ereigniszentriert. Dabei blickt er nur kurz auf den jungen Hitler zurück und beginnt mit der Lage in München nach 1918 und den „revolutionären Bohemiens“, die sich der Demagogie verschworen und den „Putsch im Bürgerbräukeller“ unternahmen. Evans hebt zwar auch die organisatorische Arbeit von Gregor Strasser hervor, zentriert die Parteigeschichte aber um Hitler. Er betont „die Verherrlichung von Gewalt“ (S. 323) und beschließt das Kapitel des Aufstiegs mit der Formierung einer „Gruppe einflussreicher Männer“ (S. 323), die Hitler „bedingungslos ergeben“ waren: Goebbels, Göring, Heß, Himmler, Rosenberg, Schirach, Streicher. Der Nationalsozialismus erscheint als Gruppe verschworener Fanatiker unter dem Banner Hitlers: als personal integrierte Mörderbande. Zentrales Motiv war der Antisemitismus.

Nach der Formierung der Partei beschreibt das vierte Kapitel den „Weg zur Machtergreifung“ ausgehend von der „großen Wirtschaftskrise“. Evans betont die Stärke der Kommunisten und den „gewaltigen [...] Schlag“ (S. 357), den der Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 der Republik versetzte. Er macht den „Sieg der Gewalt“ auf der Straße plastisch, die Atmosphäre der Gewalt, die selbst die SPD zu einem „neuen Propagandastil“ (S. 392) verleitete. Evans stellt das Ende der Republik dann unter den Titel „Schicksalsentscheidungen“, betont die Krisis des Nationalsozialismus nach den verlorenen Novemberwahlen von 1932 und stellt heraus, wie bewusst sich die Nazis damals der Grenzen ihres Legalitätskurses waren und wie sehr Hitler auf Risiko spielte: Die absolute Mehrheit schien unerreichbar, die Zeit schien abzulaufen, allein die Kanzlerschaft aber blieb Hitlers kompromissloses Ziel, weshalb alles an der Haltung Hindenburgs hing. Hitler knüpfte seine Kanzlerschaft an die starke Bedingung von Neuwahlen mit dem erklärten Ziel eines Ermächtigungsgesetzes. Indem Evans die ständige Präsens der Gewalt als Mittel der damaligen Politik herausstellt, gelingt es ihm, die „Machtergreifung“ als eine höchst gewagte, feindliche Übernahme darzustellen, deren Ziele bekannt waren und deren Erfüllung nur durch das politische Versagen einzelner Akteure wie Papen und Hindenburg möglich wurde. Die Nazis erscheinen als taktisch geschickte, brutale Abenteurer und Hasardeure.

Die Ernennung Hitlers zum Kanzler war erst der „Anfang des Prozesses der Machteroberung“ (S. 569). Evans datiert die „Schaffung des Dritten Reiches“ im fünften Kapitel mit den ersten terroristischen Einschüchterungen und Aufmärschen der Gewalt nach der Ernennung Hitlers und betont dann, mit welcher Konsequenz die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand für die Manipulation der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz und die Wahlen vom März 1933 nutzten. Daran schließt er eine Übersicht über die nationalsozialistische „Gleichschaltung“ der Parteien und Verbände an.

Unter dem fragwürdigen Titel „Hitlers Kulturrevolution“ bietet das sechste und letzte Kapitel eine Übersicht über die nationalistischen Vertreibungen in Kultur und Wissenschaft, der Evans Beispiele der Anpassung gegenüberstellt. Heidegger „weigerte sich“ allerdings nach 1945 nicht, sein Handeln von 1933 zu überdenken, wie Evans (S. 545) behauptet, sondern tat das im Rahmen seiner denkerischen Möglichkeiten vielmehr unentwegt. Das ideologische Zentrum der „Kulturrevolution“ war nach Evans (nicht für Heidegger) der Antisemitismus: „Der Antisemitismus war zum wichtigsten identitätsstiftenden Faktor der Bewegung insgesamt geworden“ (S. 555), schreibt Evans und spricht vage auch von einem „Prisma“ und „kulturellen Code“. Er beschließt seinen ersten Band mit einem zusammenfassenden Abschnitt „Eine ‚Revolution des Nihilismus’“, der Hermann Rauschnings alte Formel aufnimmt, um die Rede von einer „Kulturrevolution“ präziser zu fassen. Evans legt sich aber nicht auf eine starke These fest und zählt nur eine Reihe von Faktoren auf, wobei er manches recht lose formuliert. So schreibt er ohne weiteres: „Adolf Hitler war eine charismatische Figur.“ (S. 575) Einerseits betont er die Rolle des Antisemitismus, andererseits meint er, dass der Antisemitismus „zu Beginn der dreißiger Jahre bei der Gewinnung neuer Wähler kaum eine Rolle“ (S. 576) spielte. Ohne genauere Kenntnisnahme der damaligen juristischen Diskussion nimmt er die nationalsozialistische Rede von einer „legalen Revolution“ auf (S. 580ff.) und spricht dagegen schlicht von einer Verletzung des „Geistes“ und „Buchstabens“ der Weimarer Verfassung, ohne diese Einschätzung rechtsgeschichtlich hinreichend zu differenzieren. Seine Zitierung diverser nationalsozialistischer Selbstaussagen zur „Revolution“ belegt nur die Konturlosigkeit des nationalsozialistischen Begriffs und deckt deshalb die eigene Rede von einer „Kulturrevolution“ nicht. Ein eigener Begriff vom Dritten Reich und seiner „Kulturrevolution“ steht nicht am Ende des ersten Bandes. Er kann es nach Evans noch nicht. Denn Evans beschließt: „Bis zum Sommer 1933 war der Boden bereitet für die Errichtung einer Diktatur, wie die Welt sie noch nicht erlebt hatte. Das Dritte Reich war geboren.“ (S. 591) Der erste Band endet nur mit einem Vorbegriff, weil die Struktur des Reiches noch nicht steht.

Evans richtet seine Darstellung vorrangig nicht an Fachleute, sondern an interessierte Laien. Auch wenn solche Aussagen, zumal beim Umfang des Vorhabens – welcher interessierte Laie liest schon 2.000 Seiten? -, immer auch kokette Autorenlist sind, muss man das Werk an seinem Anspruch messen. Eine originelle Gesamtinterpretation will Evans nicht bieten. Erste Rezensionen 4 waren deshalb eher negativ. Doch Publikationen zum Nationalsozialismus rechtfertigen sich nicht nur durch ihre innovativen Forschungsleistungen, sondern auch unabhängig davon durch ihren Beitrag zur politischen Erziehung. Liegt hier ein neuer „Shirer“ auf dem Niveau einer Summe aller Forschungsphasen vor, wie Evans es beabsichtigt? Gelingt es, ein einfaches, plastisches Gesamtbild auf dem Stand des gegenwärtigen Wissens zu errichten, das auf moralische Urteile verzichtet und nur „verstehen“ (vgl. S. 18f.) will? Evans klettert zwar nicht in die Abgründe aller Fragen und macht die stete Vielfalt möglicher Entwicklungen nicht durchgängig sichtbar, sondern schreibt Geschichte ex post von der Machteroberung des Dritten Reiches her. Seine Teleologie kommt schon im Titel zum Ausdruck: Es ist eine Geschichte des Aufstiegs des Dritten Reiches. Weggefährten des Aufstiegs, die andere Wege oder Ziele verfolgten, finden nur einen passageren Platz am Rande. Evans gibt die Frühgeschichte also nicht neu zu entdecken. Was er aber plastisch vermittelt, ist die Gewalt als Atmosphäre und Mittel des Aufstiegs. Dessen Etappen zeichnet er mit klaren, kräftigen Strichen und illustriert sie mit signifikanten Beispielen und Perspektiven von Zeitgenossen (V. Klemperer, S. Haffner etc.) sachlich im Detail. Das Dritte Reich drängte zur Zerstörung. Der Leser aber weiß sich in Evans’ Bau sicher gehalten. Man ahnt bereits, in welche Richtung der Vorbegriff nihilistischer „Kulturrevolution“ in den folgenden Bänden weiter profiliert wird. Ein moralisches Gesamturteil zeichnet sich ab. Der Umschlag hat dafür ein prägnantes Foto: Man sieht eine Gruppe von Nationalsozialisten, die zum Hitlergruß im Rahmen einer Art „Sonnenwendfeier“ ein nächtliches Feuer anbeten.

Anmerkungen:
1 Kershaw, Ian, Hitler, 2 Bde., Stuttgart 1998/2000.
2 Winkler, Heinrich A., Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000.
3 Ein Monumentalwerk enthält immer kleinere sachliche Fehler. So erwähnt Evans Thomas Manns Roman „Felix Krull“ (S. 190) als zynische Antwort der Weimarer Kultur auf die Erfahrung der Inflation. Das „Buch der Kindheit“, das Mann als erstes Buch des „Krull“ 1922 publizierte, wurde aber schon vor 1914 verfasst. Mann schrieb damals allerdings eine hintersinnige Inflationsnovelle, „Unordnung und frühes Leid“, die jedoch nicht zynisch, sondern in der Darstellung der Unordnung und des Leides ernsthaft tragisch ist. Es trifft auch nicht zu, dass Mann 1933 „keine unmittelbare Gewalt oder eine Verhaftung zu befürchten“ (S. 532) hatte. Der Haftbefehl lag vielmehr, wie die Forschung heute weiß, in München durch Heydrich persönlich unterzeichnet schon bereit.
4 Dazu vgl. Winkler, Heinrich A., in: Der Spiegel, Heft 12 (2004); Wildt, Michael, in: Die Tageszeitung vom 25.03.2004.

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