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Titel
Jenseits der Nation - Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik


Autor(en)
Conter, Claude D.
Erschienen
Bielefeld 2004: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
780 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Schmale, Institut für Geschichte, Universität Wien

Das nicht nur hinsichtlich der Seitenzahl, sondern auch hinsichtlich seines Inhaltes gewichtige Werk stellt eine Bamberger Dissertation von 2003 dar. Es wurde mit dem Promotionspreis der Otto-Friedrich-Universität Bamberg gewürdigt. Der Titel bezieht sich im Wesentlichen auf das deutsche 19. Jahrhundert bis zu den europäischen Revolutionen von 1848. Der Quellenkorpus besteht aus rund 250 literarischen, historischen und politischen gedruckten Schriften der Zeit, mit dessen Hilfe Claude D. Conter den „Europadiskurs im Zeitalter des entstehenden Nationalbewusstseins“ rekonstruiert. Zweck ist die „Beschreibung einer europäischen Identität“ – ein Begriff, der sich annähernd schon in dem Zukunftsroman „Ini“ von Julius von Voß aus dem Jahr 1810 findet (S. 23, 22). Das Quellenmaterial wird durch ikonografische Quellen ergänzt, die am Schluss des Bandes in einem eigenen Abbildungsteil zusammengestellt sind.

Für das Thema der Europadiskurse in der ersten Hälfte des deutschen 19. Jahrhunderts bedeutet das Buch zweifellos die bisher umfassendste und breiteste Untersuchung, auch wenn Wolfgang Burgdorfs Studie über „antieuropäische Diskurse“ offenbar übersehen wurde. Burgdorf hatte eine ganze Reihe der auch von Conter untersuchten Autoren bearbeitet, und Conter seinerseits bezieht zurecht antieuropäische Diskurse ein. 1

Die inhaltlichen Auseinandersetzungen des Buches sind in fünf große Teile geordnet: „Europas ideengeschichtliche und politisch-historische Emergenz“ (da die „Einführung als Teil I gezählt wird, handelt es sich numerisch um Teil II und wird so benannt werden); „Europas Niedergang und Triumph – Amerikanismus und Exotismus“ (III); „Revolutionen und europäische Identitätsstiftung“ (IV); „Überlegungen zu einem Bewusstsein europäischer Identität in der Literatur des 19. Jahrhunderts“ (V).

Der zweite Teil setzt noch in der Napoleonischen Epoche an, wo nicht nur die vermeintlichen universalmonarchistischen Bestrebungen Napoleons propagandistisch bekriegt wurden, sondern auch „Visionen“ eines europäischen Föderativsystems Konjunktur hatten. Im Kern jedenfalls hatte Napoleon das Problem der politischen Ordnung Europas ganz neu gestellt. Die ernsthaft erwogenen und nach Art eines Patchworks umgesetzten Lösungen reichten von „gleichgewichtstheoretischen Überlegungen“ über die Tastversuche des Wiener Kongresses zum Konzept des „europäischen Konzertes“ und der „Heiligen Allianz“, die nicht nur romantisch-christlichen, sondern – jedenfalls im Entwurfsstadium, nicht im endgültigen Text! – auch der revolutionären Idee der Brüderlichkeit der europäischen Völker verpflichtet war. In diesem Umfeld formierten sich auch konkretere Völkerbundsvorstellungen, die Conter unter Einbeziehung nicht-deutscher Denker wie Saint-Simon und Pierre-Joseph Proudhon beschreibt. Konrad Schmidt-Phiseldek, der zweifellos immer wieder faszinieren kann, ist in diesem Abschnitt ein eigenes Kapitel gewidmet.

Den dritten Teil betrachtet der Rezensent als einen höchst willkommenen originellen Forschungsbeitrag: Er behandelt zunächst den literarischen Topos der „Europamüdigkeit“, „europäische Todesprophezeiungen“, „Krankheitsbilder des sterbenden Europas“. Grundlage ist Reiseliteratur, fiktive oder halbfiktive, in der der Blick zurück auf Europa aus Amerika oder einem anderen Kontinent zu Bildern der Europamüdigkeit etc. führen kann. Insbesondere Amerika schlüpft dabei in die Rolle des „Schlaraffenlands“ oder besser: des Paradieses – letzteres eine Metapher, die in der Frühen Neuzeit einzig Europa unter den Kontinenten der Welt vorbehalten gewesen war. Spezifischer historischer Kontext dieser Diskurse war natürlich die Auswanderungsproblematik, also eine soziale und alltagsgeschichtliche Konstellation, die einen anregenden Kontrast zur „großen Politik“ als historischer Rahmen des zweiten Teils bedeutet. Keineswegs setzte sich schon ein durchweg positives Amerikabild gegenüber Europa durch, vielmehr folgte der Europamüdigkeit (als Topos) eine „Amerikamüdigkeit“. Interessanterweise wurde der „technologische Fortschritt“, für den die Eisenbahn eine Zeit lang die zentrale Metapher darstellte, dann für Europa als Ausweg aus der kulturellen Krise reklamiert, und dies mit Erfolg.

Der vierte Teil geht auf die Revolutionen von 1830 und 1848 sowie ausführlich auf den Vormärz ein. Zunächst wendet Conter seine Aufmerksamkeit jedoch dem Europadiskurs im Umfeld der Philhellenenvereine und des Liberalismus sowie den Vereinen des „Jungen Europa“ zu. Aufgrund der von Conter verwendeten Studie von Natalie Klein 2 hat sich der Zugang zu diesem Forschungsfeld verbessert. Endlich! mag man ausrufen, da bisher die Europadiskurse des in Vereinen, Teils Geheimgesellschaften organisierten Europas in ihrer Breite und tatsächlichen Bedeutung kaum eingeschätzt werden konnten. Zum ersten Mal könnte man mit einem gewissen Recht von einer transnationalen Europabewegung sprechen, die von der Vision der brüderlichen Nationen und des friedlichen Miteinanders geprägt wurde. Deutlich arbeitet Conter heraus, wie diese Vision sich neben einer anderen, dann praxiswirksamen Auffassung kaum über die Revolution von 1848 hinaus halten konnte. Das Prinzip der Konkurrenz zwischen den Nationen bestimmte die Praxis, nicht das der Brüderlichkeit. Europa drohte auf ein Bild reduziert zu werden, das nur noch in den Kolonien, weit weg von der europäischen Heimat, Anwendung fand.

Im Schlussteil evoziert Conter noch einmal Bilder, die gewissermaßen Europa als Ganzes assoziieren halfen: das bewährte Bild von der Europa auf dem Stier oder das stark allegorische von der Europa als Jungfrau, als Mutter, als Witwe, oder das Bild von Europa als Haus. Conter kommt zu dem Schluss, dass „die europäische Identität also nicht notwendig an eine politische Vorstellung von Europa gebunden (ist)“ (S. 655). Sie nährte sich sehr viel mehr aus dem Bewusstsein einer zivilisatorischen Missionsaufgabe und der industriellen Revolution, die die technische Avantgarde Europas zum Ausdruck bringen sollte.

Das Buch bietet eine Fülle von Erkenntnissen und Einsichten, die hier leider nicht annähernd vollständig zusammengefasst werden. Claude D. Conter setzt sich zudem mit Fragen von Gedächtnis und Erinnerung in Bezug auf Europavorstellungen auseinander, ein Ansatz, der die komplexe Parallelität von Nationsbewusstsein bzw. Nationalismus und Europäismus möglicherweise besser begreifbar macht. Für die Europadiskurse der ersten Hälfte des deutschen 19. Jahrhunderts stellt diese Arbeit nun zunächst einmal ein Referenzwerk dar.

Anmerkungen:
1 Burgdorf, Wolfgang, „Chimäre Europa“. Antieuropäische Diskurse in Deutschland (1648-1999) (Herausforderungen – Historisch-politische Analysen 7), Bochum 1999.
2 Klein, Natalie, „L’humanité, le christianisme et la liberté“. Die internationale philhellenische Vereinsbewegung der 1820er Jahre, Mainz 2000.

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