F.-J. Jelich u.a. (Hgg.): Geschichte als Last und Chance

Cover
Titel
Geschichte als Last und Chance. Festschrift für Bernd Faulenbach


Herausgeber
Jelich, Franz-Josef; Goch, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Eberhardt, Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V., Berlin

Nahezu jede Rezension einer Festschrift beginnt mit Bemerkungen zu Sinn und Unsinn solcher Unternehmungen. Dies soll hier weitgehend unterbleiben. Denn das umfangreiche Werk, das Franz-Josef Jelich und Stefan Goch zum 60. Geburtstag des Bochumer Historikers Bernd Faulenbach herausgegeben haben und das 41 Aufsätze von Kollegen, Wegbegleitern und Freunden zusammenführt, ist ein gutes Beispiel dafür, welch interessanten, vielleicht geänderten Blick auf die Arbeit, aber auch die Persönlichkeit des Jubilars eine Festschrift eröffnen kann.

Wenn hoch angesehene Vertreter der Disziplin – wie Jürgen Kocka, Konrad H. Jarausch, Christoph Kleßmann, Klaus Schönhoven und Jürgen Reulecke – Aufsätze beisteuern, belegt das zunächst die Wertschätzung eines umfangreichen wissenschaftlichen Werks. Zu den Gratulanten zählen aber ebenso Wolfgang Thierse, Franz Müntefering, Hans-Jochen Vogel und Rainer Eppelmann. Sie stehen für das (geschichts-)politische Engagement von Faulenbach, der sowohl durch die Mitarbeit in wichtigen Kommissionen, Beiräten und politischen Gremien als auch durch öffentliche Äußerungen in aktuellen Debatten das Leitmotiv seiner Arbeit nachdrücklich verdeutlicht hat: Historisches Wissen und Erinnern sind unabdingbare Bestandteile einer demokratischen Kultur in der Bundesrepublik.

In drei Abschnitten folgt der Band Faulenbachs zentralen Themen. „Wozu der Aufwand?“ fragt Jürgen Kocka einleitend im ersten Teil „Erinnerung, Geschichte, politisches Bewusstsein“. In seinem unterhaltsamen Essay für „Nicht-Historiker“ geht er dem Sinn und Nutzen der Historie nach, umreißt die Zwecke historischer Forschung – für eine bessere Orientierung in der Gegenwart, als Grundlage der Identitätsbildung und auch, derzeit im Aufwind, als Aufzeigen der Vielfalt von Möglichkeiten –, um schließlich auf die Besonderheiten seiner eigenen Zunft zu verweisen. Der Wettbewerb unterschiedlicher Argumentationen bei der Auslegung von Quellen, die letztlich doch immer die Vetomacht besitzen, setzt Selbstkritik und Einsicht für bessere Deutungen voraus. Als Eigenart des Historikers verweist Kocka auf den Drang, sich an die Öffentlichkeit außerhalb des Faches zu wenden, und zitiert Karl Kraus, der 1910 den Historiker als jemanden beschrieb, „der zu schlecht schreibt, um an einem Tageblatt mitarbeiten zu können“.

Wie eng theoretisch-methodisches Rüstzeug und praktische Arbeit zusammenliegen können, zeigen die folgenden Beiträge. Dirk Rustemeyer geht der Bedeutung sprachlicher Erzählungen für die Konstruktion der Erinnerung und der symbolischen Ordnung von Geschichte nach, während Markus Meckel mit einem aktuellen Beispiel – der Erinnerung an die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen im Europa des 20. Jahrhunderts – dazu anregt, eine gemeinsame Geschichte in europäischer Perspektive zu schreiben. Die folgenden zwölf Beiträge dieses Abschnitts decken ein breites Spektrum ab: Günter Morsch berichtet über die Pädagogik der Gedenkstätte Sachsenhausen, Heinrich Potthoff verweist auf die „Fackeln der Freiheit in der deutschen Geschichte“ – er nennt 1848, 1918/19, den 20. Juli 1944, den 17. Juni 1953 und den 9. November 1989 – und mahnt den sorgfältigen Umgang mit diesem historischen Erbe an, während Juri V. Galaktionov und Boris Orlov in je eigenen Beiträgen auf die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus und die posttotalitäre Nostalgie im gegenwärtigen Russland eingehen. Gerade zur internationalen Zusammenarbeit hätte man sich trotz der Vielzahl der Artikel noch weitere Stimmen gewünscht, regt Faulenbach doch stets mehr internationale Kommunikation und Austausch an, um eine die verschiedenen nationalen Kulturen ergänzende, teilweise auch durchdringende europäische Erinnerungskultur zu entwickeln.

Die 16 Beiträge des Abschnitts „Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert“ thematisieren Fragen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im historischen Prozess. Diese Sektion bezieht sich auf Faulenbachs kultur-, sozial- und bildungsgeschichtliche Arbeiten, wobei ein klarer Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit den autoritären und totalitären Strukturen im Deutschland des 20. Jahrhunderts gelegt wird. Christoph Kleßmann leitet diesen Teil mit Bemerkungen zu „Ambivalenzen des Nationalstaats“ und den spezifischen deutschen Erfahrungen im 20. Jahrhundert ein, während dann der Bogen gespannt wird vom „Terror als Herrschaftsprinzip“ nationalsozialistischer Okkupation (Wolfgang Benz) über die Beschreibung des auch tiefgreifenden kulturellen Verlustes durch den nationalsozialistischen Genozid (anhand einer biografischen Darstellung durch Michael Zimmermann), den vergleichenden Überlegungen Konrad H. Jarauschs zur Schule im Nationalsozialismus und in der DDR sowie Rainer Eppelmanns Darstellung der Stasi-Verfolgung kirchlicher Kreise – bis hin zu Fragen an die Literatur der Arbeitswelt im Ruhrgebiet seit 1945 (Ludger Claßen) und an die Beziehungen zwischen den USA und der EU (Gert Weisskirchen).

Dass im dritten und letzten Abschnitt mit dem Titel „Soziale Demokratie“ Wolfgang Thierse und anschließend Franz Müntefering über Gerechtigkeit und demokratischen Sozialismus schreiben, verweist auf Faulenbachs engagiertes Wirken in Grundfragen der Politik. Seinen Forschungen zur sozialen Gerechtigkeit und zu demokratischem Engagement sollte durchaus eine orientierende oder wenigstens beratende Funktion zukommen, zumal er auch Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD ist – in diesen Zeiten eine wahrlich vielschichtige Aufgabe, begreift man Geschichte nicht nur als Last, sondern eben auch als Chance. Faulenbach beschränkt seine Arbeit aber nicht nur auf die Historie und beratende Funktionen in politischen und historischen Gremien, sondern ist darüber hinaus selbst in der Kommunalpolitik aktiv. Auf welchen Grundlagen das geschieht, beschreiben zehn Aufsätze – darunter Beiträge zur Ideengeschichte der Sozialdemokratie von Karsten Rudolph und Susanne Miller sowie die Vorstellung sozialdemokratischer Persönlichkeiten wie Eduard Bernstein (durch Hans-Jochen Vogel) und Willy Brandt (durch Helga Grebing). Dass am Ende des Bandes recht unvermittelt der Strukturwandel im Ruhrgebiet (Klaus Tenfelde) und die Mitbestimmung in stromerzeugenden Unternehmen des Ruhrgebiets (Karl Lauschke) stehen, unterstreicht Faulenbachs besondere Verbundenheit mit dieser Region und ihren Menschen.

„Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.“ Jürgen Kocka zitiert in seinem Beitrag Kurt Tucholsky. Diese Sammlung aus den Arbeitsfeldern Bernd Faulenbachs bietet in der Tat eine weite Perspektive über den engen Tellerrand des eigenen Interessenschwerpunkts hinaus – das macht neugierig und mag zuweilen den Blick erst öffnen.