U. Muhlack (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel

Titel
Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Muhlack, Ulrich
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel
Erschienen
Berlin 2003: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission, Bayerischen Akademie der Wissenschaften

In den letzten zwei Jahren gingen aus dem Frankfurter SFB/Forschungskolleg 435 der DFG vier bemerkenswerte Sammelbände zur Geschichte sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften hervor. 1 Der fünfte Band dieser Reihe ist nun zwei Aspekten der Geschichte des Historismus gewidmet: dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik sowie der Kulturgeschichte im Zeichen der Naturwissenschaften.

Das erste Kapitel über die politische Dimension der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert wird mit Peter Wendes Beitrag eröffnet, der die Wechselbeziehung zwischen der Etablierung des ‚Historikers‘ als akademischem Berufsstand und dem politischen Engagement der Lehrenden unter dem Begriff des “politischen Professors” prägnant nachzeichnet. Nicht der Akademiker habe sich – vor allem 1848 – ‚auch‘ als Politiker betätigt, sondern die politische Demonstration habe im 19. Jahrhundert weitgehend zum (bildungsbürgerlichen) Selbstverständnis der Professorenschaft gezählt, wie gleichzeitig das politische Handeln der Professoren durch ihre wissenschaftliche Praxis maßgeblich beeinflusst worden sei. Bedeutung verdient ebenfalls der Beitrag von Hans-Christof Kraus, der im Spiegel der Macaulayrezeption in Deutschland die Einheit beider Wirkungsebenen von Wissenschaftler-Politikern für die Bewertung von deren Person und Werk exemplifiziert. Macaulay sei zum einen politisch als “Whig” wahrgenommen und geschätzt worden (Mohl, Haym); zum anderen habe man historiografisch eine Distanz gegenüber seinem “insularen Standpunkt” (Droysen) betont. Darüber hinaus habe man mangelndes philosophisches Wissen (Haym) und den politisch-pädagogischen Duktus der Historiografie des Briten (Ranke) kritisiert.

Die übrigen vier Beiträge des Kapitels sind Studien zu einzelnen Historisten. Dagmar Stegmüller versucht Friedrich Christoph Schlosser als politischen Geschichtsschreiber zu akzentuieren. Sie führt hierfür vor allem dessen Hinwendung zur ‚Zeitgeschichte‘, den aufklärerisch-erzieherischen Duktus seiner Historiografie und die politische Wirksamkeit seiner Schüler Gervinus, Hagen und Häusser an. Das verbreitete Bild von Schlosser als ‚populärem Rückständigen‘ zu beseitigen, gelingt Stegmüller nicht, da auch sie die mangelnde empirische Orientierung und die fehlende methodologische Reflexion des Heidelbergers einräumen muss. Siegfried Baurs Aufsatz ist Rankes Tätigkeit als Herausgeber der “Historisch-politischen Zeitschrift” (1832-36) gewidmet. Baur zufolge sei es Rankes doppelte Absicht gewesen, “darüber aufzuklären, dass zumal die die Tagespolitik beherrschen Geschichtsbilder jeder Grundlage entbehren und nichts als Propaganda sind” sowie durch Gegenwartsanalyse einen ”fundierteren und differenzierteren öffentlichen Diskurs über die Politik der Zukunft zu ermöglichen” (S. 75). Ob Ranke wirklich der pointierte Aufklärer war, wie der Autor geltend machen will, mag offen bleiben, schließlich hat sich Ranke besonders um und nach 1848 im Verhältnis zu seinen borussischen Kollegen und zur Heidelberger Schule auffällig unpolitisch verhalten. “Ein Mucker war Ranke nicht, und er schrieb auch nicht für solche: Ranke schrieb als mündiger Bürger für mündige Bürger und solche, die es werden wollten.” (S. 85) War Ranke tatsächlich der Proklamator historischer Vernunft oder aber im Hinblick auf seine Zeitschrift lediglich ein respektabler Wissenschaftler mit beschränktem politisch-publizistischem Talent? Jacob Burckhardts Rezeption Kuglers und Kinkels beleuchtet der Beitrag Philipp Müllers. Er weist Burckhardt als weitgehend unpolitischen Wissenschaftler mit ästhetizistischem Weltbild aus, für den die Figur des tragischen Dramas Grundlage der Geschichte war. Eine Brücke zum nächsten Kapitel schlägt Thomas Brechenmacher, der den “Sybel-Ficker-Streit” 1859-62 als Teil einer deutschen Dauerkontroverse am Jahrhundertende interpretiert, in die auch die Debatten um die Kulturgeschichte gehören und “in der sich die fundamentale Spaltung in Nord und Süd, preußisch und österreichisch, protestantisch und katholisch spiegelte” (S. 103).

Das zweite Kapitel wird von grundlegenden Texten zur Geschichte der Kulturgeschichte (Hans Schleier) und zur Geschichte der Naturwissenschaften (Frank Linhard) eingeleitet. Schleiers Beitrag kann man als Zusammenfassung der vom selben Autor stammenden Standardwerke zum Thema lesen. 2 Die Ausführungen überblicken den problematischen Zusammenhang der gegenüber der arrivierten politischen Historie randständigen Kulturgeschichte mit der vom Positivismus Comtescher Prägung bis zum Sozialdarwinismus reichenden Facette kultureller Deutungsmuster naturwissenschaftlicher Prägung. Linhards Untersuchung beleuchtet die Situation der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Gründe für die Popularisierung der Naturwissenschaften, die er von den beiden Wissenschaftsphilosophien der “Organiker” und der “Materialisten” gleichmäßig betrieben sieht, nennt Linhard die Wechselwirkung von Wissenschaft und Technik, die Einführung formaler Schulsysteme in Deutschland, den Übergang von privatem (herrscherlichem) Mäzenatentum zu öffentlicher (unabhängiger und regelmäßiger) Forschungsförderung und die Etablierung des Naturalismus als “Ersatzreligion” (S. 169).

Die folgenden Aufsätze greifen zum Teil einzelne Aspekte auf, die in Schleiers Übersicht ausreichend erörtert wurden, was beim Lesen des Gesamtbands zu Redundanzen führt. Thomas Mergel geht eingehender auf den Lamprecht-Streit ein, den er anhand der Decadénce-Kriterien “Evolution”, “Entropie” und “Reizbarkeit” im Fin de Siécle-Diskurs verortet. Benedikt Stuchteys Ausführungen stellen die Position Buckles näher dar, dessen Rezeption durch Droysen mehrfach Gegenstand des Bands ist. Stuchteys Beitrag, der die Geschichte der britischen Zivilisationsgeschichtsschreibung skizziert, kontrastiert das Modell Macaulayscher Nationalgeschichte mit Actonscher Universalgeschichte. Die These, dass in England im Gegensatz zu Deutschland keine größeren methodologischen Kontroversen geführt wurden, weil der Verfachlichungsprozess anders verlief, überzeugt. Gleichwohl reicht dieser Ausgriff über den britischen Kontext hinaus wohl kaum, um die Aufnahme dieses Beitrags in einen Band zu rechtfertigen, der sich nach Aussage seines Titels auf Deutschland konzentrieren sollte.

Der Aufsatz Christian Mehrs “Naturalisierte Kulturgeschichte und politische Geschichtsschreibung” hätte eingehender überdacht werden sollen. Der Autor führt aus, dass die Geschichtsschreibung erst “zu Beginn des 20. Jahrhunderts das ‚Verstehen‘ durch Rationalisierung methodisch” aufgewertet habe (S. 206). Das stimmt nicht. Nicht der Neukantianismus begann, den hermeneutischen Prozess zu rationalisieren; bereits Droysen nahm in seiner “Historik” (1857) mit erkennbarem Bezug auf Kant eine Substantivierung des Verbs „verstehen“ vor, in der eine Wendung gegen das ältere, etwa von Humboldt prominent verwandte Substantiv “Verständnis” zu erkennen ist, das auch intuitive Erkenntnis umfasste. Auch von einer “spekulativen Aufklärungshistorie” zu sprechen (S. 197), ist wohl ein Missgriff: Zwar gibt es „Spekulation“ als philosophische Denkform schon seit der Antike; gleichwohl ist der Begriff im 18./19. Jahrhundert eng mit der Philosophie des Deutschen Idealismus, vor allem der Philosophie Hegels verbunden, die den gängigen Periodisierungen nach an die Aufklärungshistorie anschließt. Das eigentliche Problem an Mehrs Ausführungen liegt aber vor allem in der Verwendung jenes Begriffs, den der Band im Titel führt: “Historisierung”. Ähnlich wie sein Lehrer Muhlack versteht Mehr darunter in der Folge Ernst Troeltschs die “Einsicht in die Geschichtlichkeit allen Seins” (S. 193). „Historisierung“ ist also ein Synonym für „Historismus“ als Denkform. Als solche gewinnt „Historisierung“ bei Mehr den bedenklichen Charakter eines geschichtlichen Subjekts: “Die Darwinsche Evolutionstheorie wurde zu einem Katalysator der von der Historisierung eingeleiteten Verzeitlichung” (S. 194). Darüber hinaus mag es fraglich bleiben, ob Mehrs Aussage, dass die Historisierung eine Verzeitlichung einleite, Sinn macht; schließlich berücksichtigt sie nicht, das zeitgleich mit dem Prozess der Historisierung auch die Entwicklung etwa von Zukunftshorizonten einsetzte.

Genau das ist auch ein Problem, das Muhlacks einleitende Bemerkungen und den Titel des Bands betrifft. Muhlack spricht von „Historisierung“, „Politisierung“ und dem “Umsturz der ganzen alteuropäischen Wissenskultur”. Er benennt damit genau jene Veränderungen im begrifflichen Denken, die Reinhart Koselleck - den Muhlack als Quelle nicht kenntlich macht - als Charakteristika der Sattelzeit erkannt hat. Muhlack transponiert damit Errungenschaften des 18. Jahrhunderts in die spätere Zeit: “‘Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert‘. Es handelt sich dabei um die insgesamt bisher noch kaum erforschte Beziehungsgeschichte zwischen zwei revolutionären Prozessen, die sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert vollziehen” (S. 8). Diese zeitliche Ansiedlung mag für den Bereich gesellschaftlichen Wandels in Deutschland noch zutreffen, der aber mit Kapiteln über Geschichtswissenschaft und Politik bzw. Kulturgeschichte und Naturwissenschaft von den Beiträgen des Bands nur marginal tangiert wird. Der Verzeitlichungsprozess ist dagegen um 1800 bereits im vollen Gange, wenn die fachliche Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft langsam einsetzt. Die schiefe Begrifflichkeit entsteht dadurch, dass Muhlack den Historismusbegriff auch als heuristisches Mittel nicht mehr verwenden will und ihn anders als in seinen früheren Werken nicht mehr wie Friedrich Meinecke im Sinne einer Epoche der Historiografiegeschichte benutzt 3, sondern nun implizit (als ‚Historisierung‘) ganz wie der vom Neukantianismus geprägte Troeltsch. Für diesen allerdings stand die Relativierung alles Wissens und aller Werte im Zentrum von „Historisierung“ – ein Problem, das erst in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts virulent wurde. Zudem verstand der Theologe und Kulturwissenschaftler Troeltsch unter „Historisierung“ vor allem das historische Denken in anderen Wissenschaften, wo es im Gegensatz zum Vernunftdenken steht: Geschichtsdenken ist aber immer schon historisiert; Geschichtlichkeit ist ja das Wesen jeden Geschichtsdenkens.

Glücklicherweise treffen diese wenig überzeugenden Vorschläge nur einen Beitrag und die Einleitung. Der Gesamtband, der ein anderes Thema verfolgt, deckt ein breites Spektrum wissenschaftlicher Positionen und Generationen ab. Er bietet sicherlich nichts Überraschendes, enthält aber einige Anregungen und informative Überblicke.

Anmerkungen:
1 Zittel, Claus (Hg.), Wissen und soziale Konstruktion, 2002; Detel, Wolfgang; Zittel, Claus (Hgg.), Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit; Fried, Johannes; Kailer, Thomas (Hgg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, 2003; Kretschmann, Carsten (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, 2003.
2 Schleier, Hans, Historisches Denken in der Krise der Kultur, Göttingen 2000; Ders.: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, Bd. 1/1-2, Waltrop 2003.
3 Muhlack, Ulrich, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991.

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