G. Kronenbitter: Führung der k.u.k. Armee

Titel
"Krieg im Frieden". Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914


Autor(en)
Kronenbitter, Günther
Reihe
Studien zur internationalen Geschichte 13
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
690 S.
Preis
€ 89,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Nachtigal, Freiburg im Breisgau

Die im Jahre 2001 an der Universität Augsburg angenommene Habilitationsschrift unternimmt nichts weniger, als den Weg der militärischen und politischen Führung der Donaumonarchie in den Ersten Weltkrieg nachzuzeichnen, wie es für das deutsche Kaiserreich seit den 1960er Jahren im Rahmen der Fischer-Kontroverse um den deutschen Anteil bei der Entfesselung des „Großen Krieges“ geschehen ist. Anders als in Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck stand, zwei Weltkriege mit verheerenden Folgen nicht nur für Europa ausgelöst zu haben, ist in der österreichischen Geschichtswissenschaft bis vor wenigen Jahrzehnten eine Diskussion zur Rolle der altösterreichischen Eliten im langen Vorlauf zu 1914 ausgeblieben.

Kronenbitter legt eine in sich schlüssige Gesamtschau auf die Vorbereitungen der österreichischen Führung zum Krieg vor. Außer auf die bisher erschienene monografische und Memoirenliteratur stützt er sich dabei auf zwei österreichische Ressourcen, die es als wichtige Ergänzung hervorzuheben gilt: die umfänglichen Bestände des Österreichischen Staatsarchivs sowie unveröffentlichte Manuskripte (S. 560–562), bei denen es sich vor allem um österreichische Dissertationen und Examensarbeiten zu Einzelaspekten handelt. Als vervielfältigte Typoskripte gelten diese Arbeiten, in bestimmter Anzahl bei einigen Bibliotheken abgelegt, in der Alpenrepublik als publiziert. In der Regel sind sie außerhalb Österreichs nicht vorhanden.

Die Untersuchung zerfällt in zwei Teile. Teil A „Kriegsvorbereitung – Ideal und Realität“ behandelt die innenpolitische Seite des Themas: Struktur des altösterreichischen Militärs und seiner Elite, ihre Sicht auf den eigenen Staat, seine Armee und seine Stellung als Großmacht. Der etwas kürzere Teil B „Vom ‚Krieg im Frieden‘ zum Weltkrieg“ zeichnet dann in der Perspektive der in Teil A vorgestellten dramatis personae chronologisch die Außenpolitik der Doppelmonarchie bis zum Kriegsbeginn im August 1914 nach, und zwar seit der Berufung Franz Freiherrn Conrads von Hoetzendorf (1852–1925) zum Chef des k.u.k. Generalstabs im Jahre 1906. Zwar wird auch die Amtsführung seiner Vorgänger und der Kriegsminister berührt, doch steht Conrad im Vordergrund, da unter ihm die Weichen zum Krieg gestellt wurden. Dass er 1911/12 für ein Jahr von seinem Amt abgelöst wurde, unterbrach die große Linie der strategischen Planungen und politischen Trends der Militärs nicht.

Neben dieser operativen Planungsbehörde bestanden drei weitere militärische Behörden, die die Militärpolitik der Habsburgermonarchie mitgestalteten, und damit auch ihre Außenpolitik: das für den Gesamtstaat und das gemeinsame Reichsheer zuständige Kriegsministerium, sowie die beiden Militärkanzleien des Kaisers und des Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinands. Nur der Thronfolger, der 1903 mit dem wichtigen militärischen Amt eines Generalinspektors der Armee ein größeres politisches Gewicht erlangte, stellte einen aktiven Faktor dar, der Initiative und auch Widerstand gegen Veränderungen an den Tag legte.

Deutlich zeichnet Kronenbitter nach, dass der Generalstabschef und der Thronfolger unterschiedliche Ziele verfolgten. Zwar betrieben beide die Aufrüstung des Habsburgerstaats, dessen militärisches Potential um die Jahrhundertwende auf dem Niveau Italiens und teilweise noch darunter rangierte. Doch für Conrad war neben der Aufrüstung ein aggressives Gebaren gegen die zunehmend als Bedrohung empfundenen Nachbarn kennzeichnend. Er wollte erstens das gefährlich erstarkende Italien notfalls auch mit einem Präventivschlag in die Schranken weisen, und zweitens die von einigen der expansiven jungen Balkanstaaten ausgehende Gefahr durch Einverleibung dieser Staaten lösen. Vor allem Serbien und Montenegro hatten sich seit dem Rückzug des Osmanischen Reiches von der Balkanhalbinsel 1878 mit ihrem ungestümen Nationalismus formiert, der auf das Nationalitätenproblem im Süden der Monarchie zurückwirken und damit zur Bildung einer zweiten Front gegen Österreich-Ungarn führen musste.

Im Hinblick auf seine vermeintlich in naher Zukunft liegende Thronbesteigung sah der Thronfolger hingegen in der Armee nicht das Instrument einer imperialistischen Außenpolitik, sondern vor allem ein innenpolitisches Mittel, um den fühlbar zentrifugalen Kräften im Staat gegenzusteuern. Die Armee sollte zunächst ungarischen Einflüssen entzogen, als einziges Machtmittel des Reichs gesamtstaatlich-dynastisch ausgestaltet und ihre „Absolventen“, alle wehrpflichtigen Männer und ein loyales Offizierskorps, „habsburgisch“ erzogen werden: derart, dass die Armee auch innenpolitisch eingesetzt werden konnte, was nur bei uneingeschränkter Loyalität möglich war.1 Die moralische, personelle und technische Aufrüstung befürwortete auch der Erzherzog, zu Präventivkriegen oder einer aggressiven Außenpolitik konnte er sich aber nicht verstehen, solange „bewaffnete Macht“ und Staat innerlich nicht ausreichend gefestigt waren.

Den wichtigen Komplex der Sozialisation der k.u.k. Offiziere, durchaus zeitgemäß zwischen Imperialismus und Sozialdarwinismus, zeigt Kronenbitter anschaulich im Teil A auf. Auf ihn sei auch deshalb verwiesen, weil solche zeittypische Moden zusammen mit der engen Bindung an Dynastie und Gesamtstaat jeglichen Nationalismus ersetzen mussten, wodurch sich die k.u.k. Armee vom Militär anderer Großmächte unterschied. Ein fragwürdiges Auswahlverfahren für den Offiziers- und Generalstabsnachwuchs, Protektionswirtschaft, Subordination, ja, Opportunismus und Intrigen kennzeichneten die Offizierslaufbahn bis in die höchsten Ränge und sorgten mitunter für „Karrieren mit Knick“.

Die Aufrüstung wurde nach zwei Ereignissen an der Südgrenze der Monarchie forciert, die den zurückgebliebenen Rüstungsstand im Vergleich zu anderen Großmächten seit 1905/06 deutlich machten. Nach der Annexionskrise 1908 und den Balkankriegen 1912/13, die eine völlig neue Situation in Südosteuropa schufen und vor allem die politische Labilität der Region unterstrichen, rüstete Österreich-Ungarn in zwei Schüben spät nach. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Monarchie sich als einzige europäische Großmacht dem Phänomen gegenüber sah, dass sich an ihren Rändern neue Staaten mit hoher außenpolitischer Brisanz bildeten, deren Grenzen und innere Stabilität nicht konsolidiert waren. Weder Italien noch Russland, das sich nach dem Russisch-japanischen Krieg 1904/05 wieder dem europäischen Schauplatz zuwandte und „Interessen“ auf dem Balkan und unter den Slawen des Habsburgerstaats entwickelte, hatten solche Unwägbarkeiten bei ihren Nachbarn zu gewärtigen, wie dies bei der Donaumonarchie der Fall war, die sich frühzeitig der Möglichkeit eines Mehrfrontenkrieges gegenüber sah. Der Handlungsspielraum des Vielvölkerstaates war daher von vornherein viel enger gezogen als der anderer Großmächte.

Kronenbitter behandelt die militärisch-politischen Optionen Wiens an den Grenzen zu Italien, Serbien, Montenegro, Rumänien, Russland und sogar in Albanien. Conrad folgerte vor dem Hintergrund des Rüstungswettlaufs bei den Nachbarn, dass sich die Monarchie militärisch nur behaupten könne, wenn die zukünftigen Gegner nacheinander – und nicht gleichzeitig – niedergekämpft würden: in Präventivkriegen zuerst Italien, dem als Glacis zum eigenen Schutz das vormalig österreichische Venetien abgenommen werden müsse, dann Montenegro und Serbien, die gänzlich einverleibt werden sollten. Damit hätte die südslawische Frage vollständig innerhalb des Habsburgerreiches gelöst werden können, die die Nationalitätensituation besonders belastete.

Durch diese territoriale und demografische Stärkung wäre auch Rumänien als Gegner mit ebenfalls beträchtlicher Irredenta im ungarischen Siebenbürgen abgeschreckt worden. Unlösbar blieb das Problem, dass Russland sich zum Schutz „seiner“ Interessen auf dem Balkan und als Protektor Serbiens einmischen würde. Hier kam der deutsche Bündnispartner in das Spiel, dem im Zweibund die Rolle zufiel, die russische Streitmacht in Schach zu halten, bis die k.u.k. Armee mit Serbien „fertig“ war. Dass unter den Prämissen des deutschen Schlieffen-Plans Frankreich und mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in das neutrale Belgien England in den Krieg gezogen würden und die Konfrontation zu einem Kontinentalkrieg mit unabsehbaren Folgen würde, dieses Risikos war man sich in Wien bewusst.

So entstanden Systemzwänge, die sich bereits bei den Ultimaten fatal auswirkten, die in der Julikrise in wenigen Tagen zum Weltkrieg führten. Fast als Fußnote nimmt sich dabei aus, dass Conrad beim Truppenaufmarsch Anfang August 1914, als die russische Intervention deutlich war, nicht von der raschen Niederkämpfung Serbiens lassen wollte und in einem chaotischen Aufmarsch Zeit und Kräfte verschleuderte, wovon sich die k.u.k. Armee im Krieg nicht mehr erholte. Bis zuletzt wurde der russische Faktor, den deutscher und österreichischer Generalstab in gegenseitiger wie Selbsttäuschung als militärische Aufgabe dem jeweiligen Verbündeten zuordneten, fehlgedeutet und unterschätzt. Die Lokalisierung des Konfliktes auf dem Balkan-Schauplatz war allerdings schon früher kaum gegeben, wie auch Wien rechtzeitig wahrnahm. Andererseits verhinderte dies der Generalstabschef, der eine Bereinigung der Balkanfrage „auf niedriger Schwelle“ ablehnte, um mit Serbien ein für alle mal aufzuräumen: zu flexiblen, begrenzten Maßnahmen konnte und wollte er sich als Militär nicht entschließen.

In Conrads fanatischer und aggressiver Fixiertheit zuerst auf Italien, seit 1908 auf Serbien, verfolgt Kronenbitter den österreichischen Weg in einen Balkankrieg, der sofort zum Weltkrieg wurde. Als wichtiges Ergebnis ist dabei ein hohes Risiko der „großen Lösung“ zu nennen, das das Militär einzugehen bereit war – von Anfang an in stärkerem Maße als die politische Führung des Reiches. Möglich war dies nicht nur durch deutsche Rückendeckung, sondern durch die große und langjährige Akzeptanz im Offizierskorps für die Militärpolitik einer „militant diplomacy“, deren Virulenz bis 1914 nur durch die höchsten politischen Instanzen des Reiches gezügelt worden war: Neben Kaiser und Außenminister stellten sich auch Thronfolger und die ungarische Regierung dagegen, die von einer Lösung der südslawischen Frage nichts Gutes erwartete. Als der Thronfolger ermordet wurde, war das Fass zum Überlaufen gebracht: Existenz und Prestige Österreichs stand mit dieser „mörderischen Provokation“ auf dem Spiel (Kronenbitter nach Helmut Rumpler, S. 528). Aber es fehlte nunmehr auch die Persönlichkeit, die den führenden „Kriegstreiber“ der Monarchie zurückhielt.

Bei aller kritischen Distanz zu dem tragischen Feldherrn Conrad, dessen fatales Genie noch bis 1918 zum Schaden Altösterreichs wirken konnte, nimmt Kronenbitter mit dem Hinweis auf die Erfahrungen, die die Völker des ehemaligen Jugoslawiens im so genannten Bürgerkrieg während der 1990er-Jahre machten, eine verständniswerbende Haltung für Österreich-Ungarn ein: Der Staat habe nach zwei vermeintlich „verpassten“ guten Gelegenheiten, auf dem Balkan eine Regelung im österreichischen Sinne einer imperialistischen Großmachtpolitik zu treffen, 1914 keine andere Wahl mehr gehabt. Kronenbitters ausgreifende, anschauliche Darstellung zwingt nicht zur Revision gängiger Geschichtsbilder2, bietet aber eine Neubewertung, die die historische Last der Schuld am Ersten Weltkrieg gleichmäßiger auf verschiedene Schultern verteilt.

Formale Mängel bleiben nur wenige zu nennen. Kronenbitter verwendet sowohl „Kriegsführung“ als auch „Kriegführung“ nebeneinander, wobei die offiziöse deutschsprachige Militärhistoriografie der letzteren Schreibweise den Vorzug gibt. Der Vorname des Wiener Militärhistorikers Rauchensteiner ist „Manfried“, nicht wie bei Kronenbitter durchgängig „Manfred“. In der Tabelle 2 (S. 564: Rangklassen der k.u.k. Armee nach 1908) wird der Rang des Generaloberst genannt, der erst im Jahre 1915 in der Monarchie eingeführt wurde, eine der Angleichungen an das deutsche System im Kriege.

Zwei Nachträge, die sich auf die Kriegsjahre beziehen, sollen in Kronenbitters Sinne diese Besprechung ergänzen. Die vor dem Weltkrieg nicht nur in der k.u.k. Armee als strategisches Mittel gepflegte Hochschätzung der Offensive gegenüber der Defensive wurde in der russischen Sommeroffensive 1916 von General Brussilow gegen die österreichische Armee angewandt: mit gehörigem Erfolg, denn der erreichte Durchbruch zählt in der Militärgeschichte als größter Sieg der Entente im Weltkrieg. Die Verluste des Angreifers waren exorbitant und konnten nicht einmal von Russland mit seiner Millionen-Armee verkraftet werden. Russlands letzte Offensive im Juli 1917 verpuffte nämlich im Nichts, nachdem sich über die Kriegsjahre die Defensive als strategische Stärke der österreichischen, aber auch der deutschen Armee an der Ostfront erwiesen hatte. Mit über einer Million gefallener, verwundeter, vermisster und gefangener Soldaten lag der russische Anteil in der Brussilow-Offensive vermutlich höher als der der überraschten österreichischen Verteidiger. Obwohl Conrad in der Vorkriegszeit den Offensivgeist als beste Taktik gepredigt hatte und dabei bewusst hohe eigene Verluste in Kauf zu nehmen bereit war, kam die militärische Führung seit 1915 davon ab.

Kronenbitter nennt zahlreiche höhere k.u.k. Militärs, die im Weltkrieg teilweise noch die höchsten Generalsränge erreichten. Dabei überrascht zunächst, keinen der Generale genannt zu finden, die sich später im Krieg als die fähigsten Strategen Altösterreichs erwiesen. Viele waren es nicht, aber es scheint kein Zufall zu sein, dass sie Kronenbitter in der geistigen Aufmarschphase bis 1914 nicht erwähnt. Sie gehörten nicht zu den politischen Offizieren wie Auffenberg und Potiorek, die nach Fehlleistungen noch 1915 abgelöst wurden: Svetozar Boroevic v. Bojna, Eduard v. Boehm-Ermolli, vielleicht auch Karl v. Pflanzer-Baltin (vgl. die informative Tabelle 3 S. 565–569).

Anmerkungen:
1 Zur k.u.k. Armee als inneres Repressionsinstrument bei Assistenzeinsätzen lange vor dem Weltkrieg vgl. Kronenbitter, S. 218ff.
2 Mit interessanten Ausnahmen bei teilweise wichtigen Details. So z. B. fand Kronenbitter die aus politischen Gründen zwischen 1938 und 1945 verschollene Akte des österreichischen Spions Alfred Redl; vgl. Kronenbitter, S. 236f. Anmerkung 14.

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