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Titel
Immanuel Kant. Eine Biographie


Autor(en)
Dietzsch, Steffen
Erschienen
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Kant und Königsberg sind heute als deutsche „Erinnerungsorte“ nahezu unzertrennlich. Wer Königsberg sagt – und nicht Kaliningrad -, denkt oft an Kant; und Kants Bindung an Königsberg hat schon zu psychoanalytischer Spekulation gereizt.1 Königsberg ist heute fast nur noch Erinnerung. Dietzsch meint: „Die dritte russische Attacke auf diese Stadt am Pregel [nach 1762 und 1914] bedeutete dann ihr Ende – sie war nicht wieder aufzufinden, wie Carthago nach dem dritten punischen Krieg.“ (S. 99) Kant lebt im philosophischen Diskurs der Moderne als paradigmatischer Klassiker. Beiden aber, Kant und Königsberg, war die historische Erinnerung nicht gerade günstig. Kants Biografie wird heute noch im Licht vor allem der zeitgenössischen Bilder und Anekdoten vom alten Kant gesehen (Borowski, Jachmann, Wasianski). Die Geschichte Königsbergs verschwand mit der Stadt hinter dem Eisernen Vorhang der Verdammung Preußens. Gewiss herrscht an Kant-Darstellungen kein Mangel, die auch die Biografie berücksichtigen. Das taten schon Karl Vorländer (1911, 1924) und Ernst Cassirer (1918). Und noch Volker Gerhardt 2 verknüpfte seine Revision von Kants Verhältnisbestimmung von „Vernunft und Leben“ nicht zuletzt mit einer Kritik biografischer Vorurteile, die dem alten Bonmot, Kant habe eigentlich gar kein Leben gehabt, die philosophische Erinnerung entgegensetzte, dass auch die Wissenschaft ihre Abenteuer kennt und Kants „Leben für das Werk“ existentiell interessant ist. Dennoch ist die Biografie über die vertrauten Grundzüge hinaus bis heute nicht detailliert erforscht. Das 200. Todesjahr gab nun den Anlass, dass gleich mehrere neue Biografien Kants erschienen.

Die öffentliche Beachtung dieses Datums – Außenminister Fischer zeigte seine studentisch zerlesene „Kritik der praktischen Vernunft“ vor und erwies Kants Grab bei den Ruinen des alten Doms seine Reverenz – sicherte ihnen vergleichende Aufmerksamkeit. Besonders akribisch und umfangreich ist die Darstellung von Manfred Kühn.3 Steffen Dietzschs Biografie, die schon mit dem Untertitel („Eine Biographie“) ultimative Erwartungen abwehrt, punktet dagegen mit zwei Stärken: Dietzsch hat die Reste des Universitätsarchivs im Allensteiner Staatsarchiv durchforstet und statt einer detaillierten Biografie die geistige Physiognomie Kants, oft aus amüsanten zeitgenössischen Quellen, in einigen Zügen knapp umrissen.

Ein „Prolog“ über Königsberg 1724 bis 1740 erinnert an eine „europäische Metropole“, die damals doppelt so viele Einwohner wie Berlin hatte (S. 21) und Stätte der preußischen Königskrönung war. Kant begegnet als urbaner Städter einer bedeutenden Handelsmetropole, in der Modernisierungserfahrungen und geschäftige Weltoffenheit den Horizont philosophischer Aufklärung bilden. Detailliert informiert Dietzsch über die Universität „Albertina“ und das enzyklopädische Lehrpensum in der „unteren“ Philosophischen Fakultät. Der junge Kant erscheint als „akademischer Bürger“ einer Reformzeit, in der die alten propädeutischen Aufgaben der Philosophischen Fakultät erschöpft sind, sich ihre künftige Professionalisierung und Verwissenschaftlichung aber – auch in Kants frühen akademischen Erstlingen – noch kaum abzeichnet. Über Kindheit und Wanderjahre sagt Dietzsch wenig. Er enthält sich auch jeder psychologischen Spekulation und beschränkt sich ganz auf den „homo academicus“. Dadurch zeichnet sich eine paradigmatische Bedeutung ab: Kant erscheint als Pionier der Reform und Umwertung der alten Werte und Stellung der Fakultäten; er verkörpert wie kein zweiter den Aufstieg der Philosophischen Fakultät infolge ihrer Verwissenschaftlichung. Die „Kritische Philosophie“ wird zum Muster der Profilierung der Philosophischen Fakultät als Zentrum universitärer Forschung. Schon „der elegante Magister“ erscheint als selbstbewusster, strebsamer und ehrgeiziger, in der Lehre erfolgreicher Bürger einer Gelehrtenrepublik, der seine Chancen sieht und – in Berufungsfragen – auch auf sie wartet, der darüber hinaus aber auch als Privatdozent schon seine Rolle in der Königsberger Gesellschaft spielt.

Verband schon Cassirer Kants „Leben und Lehre“ miteinander, so zielt Dietzsch nicht zuletzt auf den universitären Sinn von Kants Werk, wenn er dessen „kopernikanische“ Wende zum Kritizismus im Kontext der akademischen Lehre würdigt und hier etwa auch die „Zensuraufgaben“ (S. 125ff.) betont. Nur scheinbar ein Exkurs ist es, dass er anschließend „die ansteckende Kraft der Kritik“ insbesondere in der Wirkung auf das Berliner Judentum (Marcus Herz und Henriettes Salon) schildert und gar von einer „Nähe von Judentum und Kantianismus“ (S. 138) spricht. Dietzsch schiebt diesen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte ein, um den Ort zu verdeutlichen, der Kants Aufklärung entsprach. Er hebt Kants „Tischgesellschaft“ damit aus dem Kreis des Provinzialismus heraus, in dem Kant und Königsberg oft zu Unrecht gesehen wurden. Dann zeigt er allerdings in einem Kapitel über „Kant und die Königsberger Juden“ auch, dass Kant „klassisch-aufklärerischen Assimilationsvorstellungen“ (S. 178) verhaftet bliebt, die religionspolitisch einigen Antijudaismus pflegten (S. 198f.).

Kant war dennoch ein eigenartiger Aufklärer, hebt Dietzsch in zwei Schlusskapiteln hervor. Sein heiter-ironisches intellektuelles Abenteurertum habe „das Projekt Aufklärung niemals [dogmatisch] überschätzt“ (S. 218). Und „der unbotmäßige Alte“ habe seinen Radikalismus gegenüber Christentum, Zensur und Universität zuletzt im „Streit der Fakultäten“ noch einmal eindrucksvoll erneut bewiesen. Sein „Diskurs-Modell einer künftigen Universität“ (S. 258) bereitete jedoch schon der Fakultät über die Nachfolgerfrage einige Verlegenheit, führt Dietzsch im besonders gelungenen „Epilog“ aus. Die Berufung von Traugott Krug war ein Dementi, das scheiterte. Dietzsch endet mit einem „Exkurs zu Fichte“ und Bildern – das Buch enthält viele Bilder - von der Exhumierung Kants und Kants Schädel 1880. Der Verweis auf die vergangene Zukunft Berliner Wirkung ist wohl auch eine Anfrage an die Gegenwart und Frage nach der maßgeblichen Gültigkeit von Kants Weg. Schrauben wir heute die Universitätsgeschichte wieder hinter dessen kopernikanische Wendung zurück? Kommen wir wieder dahin, wo Kant anfing: nämlich zu einer unspezifischen propädeutischen Fakultät auf höherem Schulniveau ohne Forschungsorientierung bei strikter Ausbildungsorientierung der „oberen“ Fakultäten, denen nun allerdings die Wirtschaft das Berufsbild vorschreibt? Vieles weist in diese Richtung. Dietzsch hat zwar vielleicht nicht den Konnex von Kant und Königsberg neu geknüpft, wohl aber den Konnex von philosophischer Revolution und Universitätsreform. Das macht seine Biografie interessant und lehrreich.

Anmerkungen:
1 Dazu vgl. Böhme, Gernot; Böhme, Hartmut, Das Andere der Vernunft. Die Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1983.
2 Gerhardt, Volker, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.
3 Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie, München 2003; vgl. auch Geier, Manfred, Kants Welt. Eine Biographie, Reinbek 2003.

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